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Digitaler Futurismus – oder: Keimt im Internet eine neue Hochkultur?

„Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfe gierig deinen stärkenden Schlamm,“ mit dieser in der Gosse gesungenen Hymne auf den Industrialismus knallt 1909 die Futuristische Bewegung in die nervöse Hochkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Das im Pariser Figaro veröffentlichte Manifest von Marinetti bringt eine internationale Avantgarde hervor, die zu futuristischen Folgemanifesten unter anderm in Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und den USA führt. Die Vorrede zu dem futuristischen Manifest beschreibt die halsbrecherische Fahrt von drei betrunkenen Freunden in ihren Automobilen – „wie junge Löwen verfolgten wir den Tod“ – bis hin zum Unfall und Sturz in den Graben. So wie die Geschichte des Lebens überhaupt im „Urschlamm“ oder in der „Ursuppe“ beginnt, scheint auch der kulturelle Wandel auf Schmutz und Abwasser angewiesen zu sein. Aus dem Abfall der Zivilisation wächst die Subversion heran – so könnte der Grundsatz einer „Teenage-Mutant-Hero-Turtles-Theorie des Kulturwandels“ lauten.

Der müttlerliche Graben der Gegenwart ist das Internet, insbesondere seine Imageboards, Memegeneratoren, Trollkommentare, Darknets und Rantblogs. Dort wird längst nicht mehr die gelehrte Hochsprache – das gelehrte Kirchenlatein der redaktionellen Medien – gesprochen, sondern eine Vielzahl dreckiger, vulgärer und kraftvoller Dialekte und Volkssprachen. Dieses ursprüngliche und schmutzige Internet ist ebenso faszinierend wie beängstigend – die einen suchen nach Möglichkeiten, um diese keimende Vernakularkultur zu beschützen und zu fördern. Die anderen wollen diese Sümpfe trockenlegen und haben das Gebiet schon längst als Datenautobahn in ihre Pläne eingezeichnet. Oder sie wollen diese chaotischen Siedlungen in Freilichtmuseen verwandeln. Geocities zum Beispiel ist das traurige Opfer der Planierung gewesen, während Facebook und Twitter dagegen den Weg der Musealisierung zu gehen scheinen: Makellos erhalten, aber immer blutleerer.

Aber irgendwo da draußen, in den immer wieder neu entstehenden digitalen Wellblechsiedlungen posten und trollen womöglich die Dantes, Geoffrey Chaucers, François Villons und Martin Luthers der digitalen Kultur. Während wir darüber diskutieren, wie viele Stunden unsere Kinder das Web nutzen dürfen, wie man digitales intellektuelles Eigentum schützen kann und ob man Schulklassen mit iPads ausstatten sollte, werden in den digitalen Niederungen gerade die Grundpfeiler der Hochkultur der nächsten Jahrhunderte in den Sumpf geschlagen. Aber wir sollten hier genauer hinsehen: Dante, Chaucer, Villon und Luther haben neue Sprachen geschaffen, die zur Lebenswelt der modernen Menschen viel besser passten als das antike Latein – Marinetti und die Futuristen wurden dagegen in ihrer ungebrochenen Liebe zu Technik, Geschwindigkeit und Gewalt zu Paten des Faschismus.