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Digitale Zwangsneurosen

… das Ritual ist ein wirkungsloser oder symbolischer Versuch, diese Gefahr abzuwenden.
ICD 10 – F42

Google StreetView ist jetzt auch in Deutschland gestartet und es fehlen ein paar Hunderttausend Fassaden darin. Auch meine Hausfassade wird nicht zu sehen sein – ich habe vor einiger Zeit von meinem Verpixelungsrecht Gebrauch gemacht – teils zur Vorbereitung auf einen Expertentalk bei AntenneBayern, teils weil ich die Darstellung, wie und wo ich lebe, gerne selbst inszenieren möchte.

Aber ich glaube weder, dass mit dem systematischen Abfotografieren von Häusern unsere Privatsphäre plötzlich aufgelöst wird. Noch bin ich ein Anhänger der Theorie, dass 244.000 fehlende Fassaden zwangsläufig dazu führen werden, dass sich das schöne, bunte Internet auf einmal mit einem leisen Plopp in nichts auflösen wird. Kurz: Ich denke, dass es wichtigere Themen gibt.

Sehr befremdlich finde ich aber einige Reaktionen auf diese deutschen “Pixelbomben“, wie Jeff Jarvis es nennt. Was ist so schlimm daran, wenn eine Plattform wie Google StreetView weiße Flecken bzw. verpixelte Flächen aufweist? Wenn ich eine Erkenntnis aus meiner gut zehnjährigen Zeit als universitärer Soziologe mitgenommen habe, dann die: Wissen ist immer lückenhaft. Und das ist gut so.

Nicht der Mut zur Lücke ist eine Bedrohung für unser Gemeinwesen, sondern der Zwang zur Vollständigkeit. In diesem Punkt liegt Jeff Jarvis völlig falsch. Die “Stasileute und Nazis“, von denen Jeff Jarvis spricht, hätten nicht das Verpixeln klasse gefunden, sondern die vollständige und systematische Abbildung der Welt. Ganz abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich Twitter und Facebook für viel spannender und ergiebiger gehalten hätten.

Woher kommt dieser seltsame Drang zur Vollständigkeit und Eindeutigkeit (eine verpixelte Fassade ist schließlich nicht einfach ausgeblendet, sondern mehrdeutig)? Gerade die letzten Social-Media-Jahre haben doch deutlich gezeigt, dass hier lauter neue Biotope und Communities entstehen, die eben nicht so sauber und ordentlich organisiert sind wie das Organigramm einer Bundesbehörde. Wissensbestände sind entstanden, die nicht einer eindeutigen und vollständigen Klassifikation à la Dewey entsprechen, sondern aus lose miteinander verknüpften Informationsknäueln bestehen.

Projekte wie Wikipedia oder Openstreetmap sind gerade nicht von oben nach unten am Reißbrett geplant, sondern entstehen en passant, zum Teil im Gebrauch der Menschen (der Soziologe in mir hätte jetzt beinahe das schön bürokratisch klingende “Handlungsvollzug” geschrieben). Openstreetmap zum Beispiel ist um meinen Wohnort herum sehr dicht mit Informationen. Im Nachbarort dagegen fehlt noch vieles. Ist das ein Problem?

Wahrscheinlich sind die Anzeichen der digitalen Zwangsneurose auch nur eine verständliche Reaktion auf die noch einmal gesteigerte Unübersichtlichkeit der “Ganz Neuen Medien”. Hier gibt es Rundfunk ohne Sendeplan, Publikationen ohne Herausgeber, Inhalte ohne Autoren – Social Media ist eine Welt der Antipoden und Fabelwesen. Und trotzdem von Tag zu Tag realer für uns alle. Die Reaktion, diesen chaotischen Urwald in ein ordentliches Blumenbeet zu verwandeln, ist verständlich – wir alle haben unseren Zygmunt Bauman gelesen. Aber dass dieser Drang nicht von einem Gärtnerstaat ausgeht, sondern den Hobbygärtnern selbst, das ist beunruhigend.

Was kommt als nächstes? Entdeckt vielleicht einer der Internetaktivisten, dass die Datensätze der großen Adresshändler in Deutschland auch noch Lücken haben? Wird es dann eine Task-Force geben, die dafür sorgt, dass auch wirklich jeder Bürger in den Direktmarketing-Datenbanken erfasst ist?

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Das große Fressen auf dem Lande

Quanto sarà beatissimo lo starsi in villa: felicità non conosciuta.
Leon Battista Alberti, I Libri della Familglia

Die Kroaten, die lassen sich wirklich nicht anschauen, wenn es ums Essen geht. Man merkt auch auf einem 10tägigen Kurzbesuch mit intensiven Wirtshauserkundungen, dass es gegen den persönlichen Stolz der Wirtsleute zu gehen scheint, wenn der Grill einmal ausgehen sollte, bevor nicht jeder Gast mindestens drei unterschiedliche Fleischsorten verzehrt hat. Manche mögen es Völlerei nennen – für mich fängt Erholung mit dem Magen an.

Vor der Fahrt habe ich mir eine Essliste geschrieben, die ich hier gerne veröffentlichen möchte. Schließlich gehört es mittlerweile fast schon zum guten Ton, seinen Konsum zu veröffentlichen, sei es um anderen das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, sei es um diesen ganzen riesenhaften, algorithmischen Datenkraken zuvorzukommen, die eigenen Neigungen schlicht zu kalkulieren.

Meine Planung für den Istrien-Urlaub sah ungefähr so aus:

  • Frische Fuži oder Gnocchi mit Wildragout
  • Filet oder Steak vom Istrischen Ochsen (Boškarin)
  • Unter der Tonhaube pod pekom gegartes Fleisch
  • Trüffel mit frischer Pasta (etwas vegetarisches muss auch hin und wieder sein)
  • Trüffel mit Rinderfilet
  • Trüffel mit Rührei
  • Pršut (istrischer Schinken)
  • Kiloweise Scampi – zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen

Auf den ersten Blick ziemlich viel, aber in 10 Tagen bei einer strategisch günstigen Wahl des Ausgangspunktes mit zahlreichen Bauernhöfen und Konobas (der kroatischen Version des bäuerlichen Wirtshauses) durchaus zu schaffen.

Die am weitesten gereisten Lebensmittel kamen aus dem 80 Kilometer entfernten Pula, alles andere aus den benachbarten Dörfern, Wäldern und Weiden. In Nordwestistrien ist local food kein Problem. Dagegen wäre hier, an der Grenze zwischen der Münchener Schotterebene und dem Voralpenland, eine 50 Meilendiät eine vergleichsweise triste Angelegenheit. So richtig wohlschmeckend ist das Leben eigentlich nur in Regionen, in denen es Olivenbäume, Wein und Trüffel gibt. Raps, Bier und Kartoffel sind kein wirklich befriedigender Ersatz.

Wobei: Auch in München hat es dereinst Weinbau gegeben – noch im 19. Jahrhundert kannte man den Haidhauser Rachenputzer oder den Harlachinger Kindsmörder. Die Weinstadt München bekam aber längst nicht so viel Lob wie die Bierstadt. So urteilte Wiguläus von Kreittmayr: “O glückliches Land, wo der Essig, welcher anderswo mit großer Mühe bereitet werden muß, ganz von selbst wächst.”

Ein paar Kilometer südlich, zwischen Umag und Novigrad liegt die winzige Gemeinde Sveti Pelegrin, die im Wesentlichen aus einer dem Hl Pelegrin geweihten Kirche aus dem 15. Jahrhundert sowie etwa fünf Straßen mit schlichten bis protzigen Sommervillen besteht. Vor 1700 Jahren soll hier der Heilige direkt am Meer seinen Märtyrertod gefunden haben.

Die Literatur schweigt sich über diesen Lokalheiligen, der am 23. Mai verehrt wird, leider aus. Überhaupt ist die Lage bei den vielen heiligen Peregrini etwas unübersichtlich. Die Bezeichnung “fremd” und “zugewandert” passt einfach auf zu viele geistliche Einsiedler. Das Stadlersche Heiligenlexikon kennt über 30 Heilige mit diesem Namen. Der Umager ist nicht darunter.

Heute sieht man an den Autos vor den Häusern den Wohlstand dieses Ortes: SUVs (vor den eher protzigeren Villen) und Oberklassewagen (vor den eher schlichten Villen) ausschließlich mit slowenische Kennzeichen. Wenn man früh morgens durch die Straßen geht, sieht man dieselben Männer, die am Abend zuvor noch bis in die Nacht hinein mit der Familie am gemauerten Grill gesessen ist, in Anzug und Krawatte in ihr Auto hüpfen und nach Ljubljana fahren.

Bei Walter Benjamin blickt der Engel der Geschichte erschrocken in die Vergangenheit und hangelt sich so von Katastrophe zu Katastrophe, von Trümmerhaufen zu Trümmerhaufen. Der istrische Engel der Geschichte scheint dagegen einen eher entspannten Blick auf die Welt zu werfen. Er sieht nicht erschrocken in die Vergangenheit, sondern satt und freundlich, mit ein paar Trüffelkrümeln vom letzten Abend auf den Lippen.

Er blickt auf die Kontinuität zwischen dem römischen Leben in den villae rusticae und den heutigen Sommerhäusern der slowenischen Oberschicht (oder ist es die kroatische Oberschicht, die in Slowenien zugelassene Wagen fährt?)

Im 15. und 16. Jahrhundert entwickelte sich auf der anderen Seite der Adria, in Italien, eine eigene literarische Gattung der Villenliteratur, in denen die innige Verbindung von vita rustica und vita comtemplativa gelobt wurde. Diese Werke waren eine heute eigenartig anmutende Mischung aus philosophischen Betrachtungen und praktischen landwirtschaftlichen Anweisungen. Dabei wird die Landwirtschaft, die santa e pia rusticità sogar als höchste der Künste verehrt, weil sie zum einen die Erzeugnisse für das gesellige Zusammenleben, das gemeinsame Mahl liefert und zum anderen niemandem schadet (sogar den Gedanken der Nachhaltigkeit spürt man hier zwischen den Zeilen immer wieder).

Vor allem wendet sich die Villenliteratur gegen den Handel, der zuvor neben der Landwirtschaft als zweites Standbein der Privatwirtschaft gelobt wurde, als viel zu risikoreich und städtisch. Müßiggang und Schmach, aber auch Risikofreude und Schulden erkennt man direkt am Zustand der Villa rustica: Wo zuvor Weinstöcke und Obstbäume wuchsen, sind nur noch Gebüsch und Dornen: “Perche si come l’otio impoverisse: cosi per l’opposito, l’essercitio in villa inricchisse.” Ich glaube, wir sollten uns diese Literaturgattung in der nächsten Zeit noch einmal ganz genau ansehen.

Literaturtipp: Der hinreißend sperrig übersetzte “Gourmet Führer Nordwest Istriens“, der zum “Umlautschutz” aufruft und mit Formulierungen wie “Dieses Fleisch ist naturell produziert und es stellt ein Ergebnis der Bauern und seine Muehe dar; jetzt wird dieses auch gastronomisch valorisiert” entzückt. Die Empfehlungen sind aber sicherer als die Fremdsprachenbeherrschung. Ebenfalls sehenswert ist die offizielle istrische Gourmet-Webseite, auf der es sogar eine kulinarische Hotline gibt.

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Slow theory Webseiten

Ich bin dann mal verpixelt

Gerade eben habe ich die “Unkenntlichmachung” meines Hauses beantragt. Ich muss zugeben, dass die Frage, ob das Haus auf Streetview zu sehen ist oder nicht, mich nicht besonders leidenschaftlich bewegt. Da das Haus unter Denkmalschutz steht, wurde es schon oft genug fotografiert und taucht in entsprechenden behördlichen Publikationen auf. In Farbe und sogar mit der Rückseite, an der sich eine kleine Bühne für das Spiel mit Öffentlichkeit und Privatheit, vulgo: Balkon, befindet.

Auch die anmaßende Art der digitalen Avantgarde, die für mich immer mehr wie ein fader Abklatsch der Futuristen wirkt – dort kam direkt nach dem Lob der absoluten Geschwindigkeit (“Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen”) die Verherrlichung des Krieges (“die schönen Ideen, für die man stirbt”) – hat mich bislang trotz ihres unsympathischen Bekehrungszwangs nicht vom Hocker gerissen (Die Futuristen verstanden sich wenigstens noch als Elite und nicht als Blaupause für den Durchschnittsbürger.) Im Grunde genommen ist die Zukunft der Netzneutralität eine viel gravierendere Frage, für die leider nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig bleibt.

Was mich aber wirklich verblüfft ist, dass selbst Google nicht so richtig weiß, warum man sein Haus nicht verpixeln lassen sollte. Wenn man mit dem Prozess der “Unkenntlichmachung” beginnt (Behördendeutsch ist längst kein Monopol der Behörden mehr), versucht Google den Pixelkandidaten noch davon zu überzeugen, sein Haus doch noch drinnen zu lassen. Warum?

[D]iese Funktion kann für Sie und andere von vielfachem Nutzen sein: Zum Beispiel, wenn Sie sehen möchten, wo Ihre Familie und Freunde wohnen, egal, wie weit Sie voneinander entfernt sind oder wenn Sie Ihren nächsten Urlaubsort vorab schon einmal erkunden möchten. Unternehmen können für sich werben und Street View in ihre Website integrieren, um ihren Kunden ihr Schaufenster, Büro oder die nächste Verkaufsstelle zu zeigen und gleich eine Wegbeschreibung anzubieten.

Wenn das alles wirklich ein Dammbruch sein soll, dann ein Dammbruch der Hilflosigkeit.

Vielleicht das erste Mal in meinen 23 Onlinejahren spüre ich tatsächlich etwas wie Fremdheit, fühle mich tatsächlich wie ein digitaler Einwanderer. Ich weiß, wo meine Familie und meine Freunde wohnen. Wenn ich mich fest darauf konzentriere, kann ich die Geräusche der Stadtviertel hören, die Struktur des Putzes spüren, blind den Klingelknopf finden und rieche die Büsche und Blumenbeete neben den Hauseingängen. Ich brauche einfach keine ausfallsichere Serverfarm eines US-Unternehmens, um mir das zu sagen. Mein Springbrunnen ist auch keine Verkaufsstelle und mein Balkon kein Schaufenster. Und wenn ich in meiner Hängematte Urlaub machen möchte, kann ich das bequem von meinem Küchenfenster vorab schon einmal erkunden.

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Philosophie Slow theory Wirtschaft

Das postdigitale Zeitalter

The digital revolution is over.
Nicolas Negroponte

Slow Media, also der Fokus auf bewussten, nachhaltigen Mediengebrauch, ist nur eine Strömung inmitten einer sehr viel größeren Entwicklung. Man könnte es ungefähr so formulieren: Wir leben längst in einem postdigitalen Zeitalter. Aber was genau bedeutet postdigital? Der Begriff ist wie die meisten Post-Begriffe äußerst anfällig für Missverständnisse, ja scheint sie sogar herauszufordern. Postdigital heißt gerade nicht, dass digitale Technologien und digitale Medien heute keine Rolle mehr spielen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die tiefe und nachhaltige Durchsetzung der Digitalisierung ist eine notwendige Bedingung für den postdigitalen Zustand.

Darin unterscheidet sich “postdigital” nicht von ähnlich konstruierten Begriffen wie “postmateriell” oder “postkolonial”. Wer von Postmaterialismus oder postmaterialistischen Milieus spricht, meint ebenfalls nicht, dass sich hier bestimmte Bevölkerungsgruppen von ihren materiellen Lebensgrundlagen – ihrem Stoffwechsel mit der Natur – getrennt hätten und nun engelsgleich über den Dingen schwebten. Stattdessen geht es um Personen, deren materiellen Grundlagen nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Nicht die Trennung von den Dingen ist entscheidend, sondern vielmehr eine Art gesunde Langeweile oder Indifferenz ihnen gegenüber. Postmaterialismus heißt, sich nicht mehr von den Dingen gefangen nehmen zu lassen, sondern sie mit einer gleichgültigen Haltung zu gebrauchen.

Ganz ähnlich ist der Begriff “Postkolonialismus” gestrickt, der natürlich die Ära des Kolonialismus ebenso wie ihre oft gewaltsame Aufhebung voraussetzt. Auch hier ist nicht gemeint, dass sich die postkolonialen Subjekte nun völlig unabhängig von den jahrzehntelang etablierten kolonialen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen lebten. Aber die ehemaligen kolonialen Strukturen und Verflechtungen sind jetzt nicht mehr der Feind, der auf jeden Fall bekämpft werden muss (“Antikolonialismus”), sondern ein Fundus an Techniken und Ideen, die instrumentalisiert werden können.

Wie lässt sich dieser Konzept auf das Digitale übertragen? Postdigitalismus beschreibt den Zustand der Gesellschaft nach der erfolgreichen Digitalisierung wesentlicher Lebensbereiche von der Wirtschaft über die Bildung und Kultur bis zur Politik. Die zentralen Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen sind mittlerweile digitalisiert. Und dies nicht nur in den westlichen Industriegesellschaften, sondern zunehmend auch in sogenannten “Entwicklungsländern”, die häufig ohne den Zwischenschritt von Festnetzinfrastrukturen direkt in das mobile Zeitalter einsteigen. Postdigitalismus bezeichnet die wahrgenommene Selbstverständlichkeit dieser Technologien. Die sogenannten “digitalen Eingeborenen”, also die nach 1980 geborenen Alterskohorten, die keine Welt ohne PC, Mobiltelefon und Internet kennen, sind die erste postdigitale Generation.

Dass das Internet und darauf aufbauende Infrastrukturen höchst voraussetzungsvolle Errungenschaften sind, die darüber hinaus viel fragiler sind als es zunächst den Anschein hat – man denke nur an den Rootserver-Ausfall der Denic, durch den mit einem Schlag sämtliche .de-Domains nicht mehr direkt erreichbar waren -, ist der postdigitalen Generation nicht mehr bewusst. Sie sind gegen die neodigitalistischen Heilserwartungen des Internet als ewige Seeligkeit ebenso immun wie gegen den antidigitalistischen Gedanken, mit dem HTTP-Protokoll wäre der zivilisatorische Untergang nun eine beschlossene Sache. Sie sind, ebenso wie oben für den Postmaterialismus beschriebeen, leidenschaftslos. Postdigitalismus heißt, digitale Technologien und Medien nur als Werkzeuge zu benutzen, ja sie bei Bedarf sogar zu versklaven wie früher das Feuer und die Wasserkraft. Auch hier gilt also: Das Internet ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.

Während die Kunsttheorie in den USA schon seit 10 Jahren über den Begriff diskutiert, scheint Postdigitalismus in Deutschland noch nicht nennenswert vorzukommen. Stephan Baumann hat sich kürzlich in einem Interview kurz darauf bezogen – bezeichnenderweise in Verbindung mit Slow Media. In den USA wird zum Beispiel “Glitch“, eine in den 1990ern entstandene Richtung der elektronischen Musik aber auch Medienkunst, als Paradebeispiel für Postdigitalismus betrachtet. Glitch ist durch und durch digital von der Klangerzeugung bis zur Distribution. Gleichzeitig wird das Digitale in der Musik, das mittlerweile in nahezu jeder modernen Musikproduktion eine Rolle spielt, hier radikal zu Ende gedacht. Das charakteristische Erkennungszeichen von Glitch ist das Provozieren und Betonen von digitalen Fehlern. Während sonst Fehlstellen, an denen zum Beispiel eine 1 steht, wo eine 0 stehen sollte, sorgfältig herausgefiltert werden, verwenden Künstler wie Kim Cascone genau solche Fehler, um das digitale Medium selbst sowie die digitalisierten Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen.

Meine Hoffnung liegt darin, dass sich der Umgang mit digitalen Technologien im postdigitalen Zeitalter gleichermaßen entspannt, instrumentell und kritisch sein wird. Entspannt, weil wir allmählich merken, dass es nicht entscheidend ist, welche Plattform oder welches Medium wir verwenden, sondern die Frage ob die vermittelten Inhalte uns inspirieren. Instrumentell, weil wir lernen, dass Algorithmen und digitale Infrastrukturen keine Menschenrechte besitzen. Kritisch, und hier sehe ich die postdigitale Kunst als überlebensnotwendig an, weil wir immer stärker ein Gefühl für die Brüche und Machtstrukturen entwickeln, die sich hinter scheinbar neutralen und unausweichlichen Strukturen verbergen.

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Architektur Miscellen Slow theory Wirtschaft

Routen

So wenig als möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung –
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
(Friedrich Nietzsche)

Gestern passten endlich einmal wieder Terminkalender und Wetter zusammen, so dass ich mit dem Fahrrad die insgesamt 34km zur Arbeit und wieder zurück fahren konnte. Ein bisschen ist das Fahrradfahren durch die Stadt wie das Flanieren – wenn man sich die Zeit dafür nimmt und auch nach rechts und links schaut. Ist Walter Benjamin ein Radler gewesen? Ich denke nicht. Aber zu Benjamins Zeit waren die Autos wohl eher das, was die Räder heute sind.

Besonders angenehm ist an einem solchen Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad natürlich die Fahrt aus der Stadt hinaus. Man spürt mit jedem Kilometer, wie das Städtische weicht. Am Stiglmaierplatz und in der Papenheimstraße spürt man noch ganz deutlich die Stadt (obwohl es gar nicht so lange her ist, dass dort, wo heute der Augustinerbiergarten ist, vor den Toren der Stadt die Verbrecher hingerichtet wurden) und radelt an ehemals staatstragend-repräsentativen Bauwerken wie die massige Oberpostdirektion mit ihrem expressionistischen Gebäudeschmuck vorbei – heute hat sich irgend ein halbgebildeter Gentrifizierer in der Hoffnung auf zahlungsfreudige Werbeagenturmieter die sinnfreie Bezeichnung “Art-Deco-Palais” dafür ausgedacht.

Viel zu oft radelt man in der Stadt in einem Pulk. Hier ist die Bezeichnung “Individualverkehr” für das Fahrrad eigentlich gar nicht mehr zutreffend. Die Fahrradkolonne ist in Wirklichkeit schon längst ein öffentliches Personennahverkehrsmittel. Je weiter man sich aber vom Zentrum entfernt, desto mehr Platz hat man zum Fahren. Immer häufiger trifft man auf andere Radfahrer, die nicht in die selbe Richtung fahren, sondern einem entgegenkommen oder den eigenen Weg kreuzen. In der Stadt scheint alles in eine Richtung zu fahren: in die Vorstadt.

Je öfter man denselben Weg zu und von der Arbeit nimmt, desto mehr wird der Weg zur Route, deren Verlauf sich fast schon körperlich in einen hineinschreibt. Meine Route sagt mir genau, an welcher Stelle ich eine Straße überquere und wo ich an einer Ampel stehenbleibe. Sogar die Variationen sind von der Route festgelegt. An mehreren Stellen habe ich die Möglichkeit, von der schnellsten, kürzesten, am besten befahrbaren Route abzuweichen. Aber es sind keine spontan gewählten Veränderungen des Weges, sondern so etwas wie “Standardabweichungen”. Alles andere wäre schon Verfahren. An dieser Stelle hat das Radfahren nicht mehr sehr viel mit dem Flanieren zu tun, wie wir uns das aus 160 Jahren Abstand vorstellen. Wahrscheinlich waren aber auch die professionellen Flaneure des 19. Jahrhunderts viel stärker auf ihre jeweiligen Pfade oder Routinen festgelegt als der Begriff des ungezwungenen, ziellosen Flanieren es uns heute suggeriert.

Wer Tag für Tag immer dieselbe Route nimmt und dabei wenigstens ein bisschen flaniert, wird sensibilisiert für alle Veränderungen, die sich auf dem Weg ereignen. Plakate werden überklebt, Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Vorstadtidyllen werden zu Hauptverkehrsachsen oder nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen verwandeln sich in, nun ja, ehemals nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen mit Stoffsegeldekoration und Buddhastatuen. Manche Veränderungen passieren so langsam, dass man sie ohne den Zeitrafferblick des täglichen Vorbeifahrens gar nicht so richtig erkennt.

Die Gleise der ehemalige Straßenbahnlinie 16 zum Beispiel, die noch bis in die 1980er Jahre zum Lorettoplatz gefahren ist, wachsen von mal zu mal dichter zu, bis man sie kaum noch erkennen kann. Jetzt sollen sie endgültig entfernt werden und an ihrer Stelle soll ein Naturlehrpfad entstehen. Nicht dass ich der Meinung wäre, man müsse alles konservieren und auch die ehemalige Verkehrsinfrastruktur, die viel mehr verrät über das Bild der Stadtplaner von ihrer Stadt als die programmatische Literatur des städtischen Bauamts, unter Denkmalschutz stellen. Aber zumindest dokumentieren sollte man die Spuren, die noch übrig geblieben sind von der Zeit, in der man mit der Straßenbahn auf die Gräber gegangen ist und nicht wie heute mit dem Bus. Überhaupt lässt sich der Rückbau des städtischen Schienenverkehrs hin zum Busverkehr an diesem Beispiel sehr deutlich sehen.

Obwohl in diesem Fall die Dokumentation bereits von den Schienenhistorikern übernommen wurde, die vor allem im Internet alle Veränderungen der Verkehrsnetze dokumentieren. Wahrscheinlich treffen sie sich im Kastaniengarten, Münchens gemütlichsten Eisenbahnerbiergarten im Westend mit ordentlicher kroatischer Küche, und tauschen dort ihre Erinnerungen über historische Fahrten aus.

Irgendwann lässt man dann die Stadt ganz hinter sich und taucht ein in die vorstädtischen Parks wie zum Beispiel den Forstenrieder Park oder Forst Kasten im Südwesten Münchens. Dort ist die Luft zwar noch nicht durchgehend kühler, aber wenigstens fährt man ab und zu durch Flecken, die von der Sonne den ganzen Tag über nicht berührt werden. Oder Flecken, an denen der Boden auch Stunden nach dem Gewitterregen noch aufgeweicht ist und die Pfützen nur langsam verdunsten. Die Luft ist vielfältiger hier. Auch werden die Hunde nicht mehr in Fahrradanhängern durch die Stadt gekarrt, sondern laufen neben den Joggern her.

Wenn die Schienen und die Wendeschleife der Tramlinie 16 schon längst verschwunden sind und allenfalls auf Google Maps oder von Luftbildarchäologen erkennbar sind, werden die Spuren der staatlichen Forstwirtschaft immer noch klar sichtbar sein. Die Geräumten Wege des Forstenrieder Parks oder von Forst Kasten werden auch noch die nächsten dreihundert Jahre überdauern, auch wenn es hier nicht mehr darum geht, das Wild dem jagenden Kurfürsten vor das Gewehr zu treiben.

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Geschichte Philosophie Religion

Das heimliche Leben der Epitaphien

Non est mortua sed dormit
(Lk 8, 52)

Ein paar feste Wahrheiten gibt es doch noch. Dazu gehört zum einen, dass wir, die heute erwerbstätige Generation, im Alter nicht von unserer Rente werden leben können. Zum anderen werden nach unserem Tod keine Epitaphien aus Marmor, Kalkstein oder Grüntenstein gemeißelt werden, die uns in liegender oder knieender Haltung für die Ewigkeit repräsentieren. Manchmal auch als von Würmern und Maden umgebener verwesender Leichnam. Anders als der Super8-Film oder die Tageszeitung, die immerhin noch für einen Liebhaberkreis am Leben erhalten werden, gehört das Epitaph wirklich zu den ausgestorbenen Medien.

Epitaphien erzählen dem, der bereit ist, ihnen zuzuhören, große Geschichten, in denen sich der kleine Maßstab des irdischen Strebens der Menschen, der sehr viel größere Maßstab der Geschichte und schließlich der größte Maßstab des Ewigen berühren. Erst relativ spät, ab dem 17. Jahrhundert, begann die Individualisierung der Grabmäler. Bis dahin reichte es, den Verstorbenen mit typischen Symbolen seines Standes auszuschmücken. Es gab noch keinen Grund, den Verstorbenen aus dem großen Totentanz, der vom Bettler bis zum Papst jeden einbezogen hat, hervorzuheben. Der Bischof war Bischof und der Ritter war Ritter.

Aber die Ablehnung des user-generated contents des menschlichen Lebens war nicht absolut. Immer wieder wurde die ewige Welt der Grabmäler von der “ansteckenden Kraft des Bildnisses”, wie Ariès das so schön ausdrückt, irritiert. Identitäten rückten an den Platz, der den anonymen Personen vorbehalten war. Einzelne Epitaphien bildeten auf einmal nicht mehr die große Erzählung von der Ordnung der Welt ab, sondern die kleine Erzählung eines Fürstbischofs, Domvikars oder Kanonikers:

Aus den braun erhellten Kirchen
Schaun des Todes reine Bilder,
Großer Fürsten schöne Schilder.
Kronen schimmern in den Kirchen.

So heißt es in Georg Trakls Schöner Stadt über den Zauber der Grabmäler und ihre prachtvolle Ausschmückung mit den Insignien der Macht.

Über der kleinen Erzählung der Identität und der größeren Erzählung von den Personen und ihren Plätzen in der Ordnung der Welt steht in der Epigraphie die große Erzählung von der ewigen Ordnung. Häufig bleibt der Verstorbene auf seinem Weg in die Ewigkeit nicht allein. Neben ihm stehen Heilige oder Engel, legen ihm die Hand auf die Schulter und begleiten ihn auf seinem letzten Weg.

Doch was stellen die Grabmäler eigentlich dar? Den gerade eben verstorbenen Leib? Oder vielleicht doch einen schlafenden Menschen? Ariès ist sich sicher: Die liegenden Figuren mit zum Gebet gefalteten Händen, die gisants, sind keine Leichen, sondern sie schlafen nur:

Die Geste der gefalteten Hände, die sie definiert, hebt jede Mehrdeutigkeit auf: sie ist bei einem seinem Eigengewicht überlassenen Leichnam keineswegs natürlich. Sie erfordert im Gegenteil sogar eine Anstrengung, eine Eigenaktivität, die mit der Totenstarre unvereinbar ist. Sie verleiht ihm eine Art heimliches Leben, ein Leben, das nicht mehr das irdische, sondern das eines fernen Landes, des Landes der ewigen Ruhe ist.

Der Domkreuzgang in Augsburg mit seinen 400 Grabmälern ist also gar nicht als Ort der Verstorbenen zu verstehen, sondern als himmlischer Schlafsaal, in dem die Lebendigen über die plastische Vergegenwärtigung von in erster Linie kirchlichen Würdenträger aus 300 Jahren mit dem fernen Land der ewigen Ruhe in Verbindung treten können. Kein Wunder, dass Särge hier viel seltener zu sehen sind als Kopfkissen.

Wenn man das Glück hat und nicht gerade einer geschwätzigen Domführungsgruppe begegnet, sondern am frühen Morgen den Kreuzgang besucht, dann fangen die Epitaphien tatsächlich an, von ihrer großen Geschichte ihres heimlichen Lebens zu erzählen. Ein Medium, das so langsam ist, das die Zeit aufgehört hat, eine Rolle zu spielen.

Der naheliegende Lesetipp zu diesem Thema sind natürlich die Bilder zur Geschichte des Todes von Phillipe Ariès in Kombination mit einen Grabmalführer der Wahl wie zum Beispiel Der Augsburger Domkreuzgang und seine Denkmäler von Karl Kosel.

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Langsamkeitspflege

Die eigentliche Innovation, die mit der Hilfe des Bloggens in die Medienlandschaft geschwappt ist, war in Wirklichkeit nie die Echtzeit. Nein, der entscheidende Unterschied zwischen “normalen” Webseiten oder Portalen und Blogs ist das Archiv und die wundervollen Möglichkeiten der “Langsamkeitspflege” (Odo Marquard), die sich daraus ergeben, wie Don Alphonso hier feststellt.

Als Don Dahlmann vor drei Jahren geschrieben hatte, “man soll[t]e echt mal eine Übersicht über die deutsche Blogszene machen, denn da geht sehr schnell, sehr viel verloren,” habe ich das Blog History Project ins Leben gerufen. Der Versuch, eine Übersicht über die Geschichte der deutschsprachigen Blogosphäre aufzuzeichnen.

Von den ersten Anfängen vor 14 Jahren – Robert Braun, Cybertagebuch und Moving Target über die erste Bloggerwelle 2001, die sogar in der ein oder anderen Zeitung bemerkt wurde, bis zu der großen Blogeuphorie Mitte der 2000er Jahre. Jetzt ist diese Geschichtsschreibung selbst schon wieder drei Jahre her, aber das schöne ist: fast alle Blogs und ihre Archive sind immer noch vorhanden. So viel geht hier gar nicht verloren.

Interessanterweise habe ich in der oral history die Erfahrung gemacht, dass sich zentrale Infrastrukturen wie zum Beispiel Postämter, in die fast jeder Bürger einer Gemeinde mehrmals im Jahr, Monat oder gar in der Woche zum Geldabheben, Briefeaufgeben, Telefonnummern nachschlagen etc. gegangen ist, nach dem Abriss allerhöchstens 10 Jahre in der Erinnerung halten.

Teilweise sind sie trotz (oder wegen?) ihrer Banalität und Alltäglichkeit nicht einmal photographisch dokumentiert – oder vielleicht nur auf dem Medium, das alle immer für ebendiese Banalität kritisieren. Ich vermute, dass man auf Twitter mehr Abbildungen des auf seine Weise wunderschönen mittlerweile abgerissenen Aschaffenburger Bahnhofs findet als in den Archiven des Stadtbauamts.

Wahrscheinlich werden wir unsere Blogs auch in 20 Jahren noch kennen und zum Teil immer noch in ihren Archiven stöbern können, während politische Echtzeitfiguren wie Ursula von der Leyen oder Horst Köhler schon längst in verstaubten, vergilbten und mit Spinnenweben verhangenen Winkeln der Wikipedia vor sich hin schlummern. Und das ist gar nicht einmal die schlechteste Entwicklung.

Die Literaturempfehlung hierzu ist das sehr lesenswerte Buch von Florian Aicher und Uwe Drepper über den Architekten Robert Vorhoelzer, den Mittelpunkt der gleichzeitig so bayrischen wie unbayrischen Postbauschule der 1920er Jahre.

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Wozu noch Verlage?

Was konnte er dafür, daß er in der Literatur sein ganzes Leben lang ›nur‹ Verleger gewesen war? Er hatte begriffen, daß die Literatur einen Verleger nötig hatte, und er hatte das sehr zur rechten Zeit begriffen; dafür sei ihm Ehre und Ruhm – natürlich von der Art, wie es einem Verleger zukommt.
(F.M. Dostojewski)

Online-Journalismus? Ich habe diese Bindestrich-Journalismen sowieso nie so richtig verstanden, aber mit Online-Journalismus (Wikipedia: “Aufbauprinzip ist der nicht-lineare Hypertext” tue ich mich besonders schwer. Geht es um Online als Werkzeug für die journalistische Recherche oder redaktionelle Abläufe oder um Online als Gattung? Auf dem 6. Frankfurter Tag des Online-Journalismus bin ich auf beide Strömungen gestoßen. Ich glaube, dass etwas mehr Klarheit in dieser Unterscheidung für den Online-Journalismus (wie auch immer gemeint) wichtig wäre.

So plätscherte das Abschlusspodium zwischen Jakob Augstein (Der Freitag), Mercedes Bunz (Guardian), Stephan Baumann (DFKI) und mir eher beschaulich vor sich hin, ohne dass das Diskussionspotential dieser Fragen genutzt wurde. Zum Beispiel für die Klärung der Frage, ob das Thema Blogger vs. Journalisten heute noch relevant sei. Hier wurde munter durcheinander und aneinander vorbei von Bloggern als Persönlichkeiten, Bloggen als Erwerbsquelle, Blogs als Publikationstechnologie und Blogposts als journalistische Form gesprochen.

Welche Funktion werden Verlage in Zukunft ausüben?

Für mich die spannendste Frage blieb leider unbeantwortet: Welche Funktion werden Verlage in Zukunft ausüben? Der klassische Verlagsbegriff sieht seit der frühen Neuzeit die Aufgabe des Verlegers darin, finanzielle Mittel und Rohstoffe wie Werkzeuge herbeizuschaffen (= “verlegen”), die für die Produktion einer Ware notwendig sind – ganz gleich ob es sich dabei um einen Teppich oder ein Buch handelt. Mit dem Aufkommen der industriellen Massengesellschaft bzw. Aufmerksamkeitsökonomie und der Zuspitzen des Verlagsbegriffs auf die Medienproduktion wurde dann der zweite Aspekt der Herstellung von Aufmerksamkeit für das Medium hinzu.

Wenn wir heute von digitalen Medien wie z.B. Blogs oder eBooks sprechen, passt die klassische Verlagsdefinition nicht mehr. Die Werkzeuge und Rohstoffe der Medienproduktion sind mittlerweile demokratisiert. WordPress und Mediawiki sind frei verfügbar. Jeder könnte also theoretisch publizistisch tätig werden. Viele tun genau dies. Auch für das Herstellen von Aufmerksamkeit kann die Verlagswelt kein Monopol mehr beanspruchen, da zunehmend die Empfehlung innerhalb sozialer Netzwerke bzw. einer themenbezogenen Community für die Rezeption eines Mediums wichtiger ist als klassische Marketingmaßnahmen. Buchbesprechungen in Zeitungen und das Auslegen von Flyern haben keinen nennenswerten Effekt auf den Absatz mehr, während Marketinginstrumente wie AdWords oder Suchmaschinenoptimierung Verlagen wie unabhängigen Publizisten gleichermaßen zur Verfügung stehen.


Wo also liegt heute noch die Aufgabe des Verlags? Auf dem Podium rückte ziemlich schnell der Aspekt der Finanzierung in den Mittelpunkt. So betonte Mercedes Bunz, dass guter Journalismus eben Geld koste und dafür brauche es einen Verlag. Ein Modell wie Wikipedia funktioniere nicht für den Journalismus. Diese Argumentation ist aus einer Slow-Media-Perspektive ebenso empirisch falsch wie politisch gefährlich.

Zum einen gibt es genügend Beispiele von Blogs, Foren oder Wikis, die außerhalb von Verlagen qualitativ hochwertigen Journalismus in Form von Kommentaren, Essays, Berichten etc. produzieren. Viel problematischer ist jedoch der andere Punkt. Wenn Verlage und Redakteure sich auf die Argumentation einlassen, dass die wichtigste Aufgabe des Verlags im digitalen Zeitalter in der Finanzierung von Journalismus liege, dann sehe ich keinen zwingenden Grund, warum die Medienlandschaft überhaupt noch Verlage braucht. Diese Aufgabe könnten auch Banken erledigen.


Wem daran liegt, dass Verlage auch in Zukunft noch eine Bedeutung haben sollen, der sollte sich nicht auf diese Argumentation einlassen und etwas mehr Phantasie bemühen, wenn es um die verlegerische Selbstbeschreibung geht. Wenn man gute, langsame Medien wie z.B. Wired, Brand eins oder Intelligent Life ansieht, dann machen die Verlage und Redakteure hier so unglaublich viel mehr als ihre Journalisten finanziell über Wasser zu halten. Sie diskutieren und setzen Themen, verbinden Design und Inhalt, arbeiten Ausgabe für Ausgabe am roten Faden ihres Mediums, garantieren ein hohes Qualitätsniveau und entwickeln ein Gespür für die Wünsche wie Erwartungen ihrer Leser. Dafür benötigt man Verlage heute wie in Zukunft und nicht allein für das regelmäßige Auszahlen des Taschengelds an ihre Mitarbeiter.

An diesen Stellen entsteht auch der Mehrwert zwischen den Gedanken im Kopf eines Autors und dem fertigen Produkt. Verlage, die ihrem Publikum nicht glaubhaft demonstrieren können, dass sie mehrwertfähig sind, haben nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern sind früher oder später in ihrer Existenz bedroht. Und das zu Recht.

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