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Digitaler Futurismus – oder: Keimt im Internet eine neue Hochkultur?

„Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfe gierig deinen stärkenden Schlamm,“ mit dieser in der Gosse gesungenen Hymne auf den Industrialismus knallt 1909 die Futuristische Bewegung in die nervöse Hochkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Das im Pariser Figaro veröffentlichte Manifest von Marinetti bringt eine internationale Avantgarde hervor, die zu futuristischen Folgemanifesten unter anderm in Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und den USA führt. Die Vorrede zu dem futuristischen Manifest beschreibt die halsbrecherische Fahrt von drei betrunkenen Freunden in ihren Automobilen – „wie junge Löwen verfolgten wir den Tod“ – bis hin zum Unfall und Sturz in den Graben. So wie die Geschichte des Lebens überhaupt im „Urschlamm“ oder in der „Ursuppe“ beginnt, scheint auch der kulturelle Wandel auf Schmutz und Abwasser angewiesen zu sein. Aus dem Abfall der Zivilisation wächst die Subversion heran – so könnte der Grundsatz einer „Teenage-Mutant-Hero-Turtles-Theorie des Kulturwandels“ lauten.

Der müttlerliche Graben der Gegenwart ist das Internet, insbesondere seine Imageboards, Memegeneratoren, Trollkommentare, Darknets und Rantblogs. Dort wird längst nicht mehr die gelehrte Hochsprache – das gelehrte Kirchenlatein der redaktionellen Medien – gesprochen, sondern eine Vielzahl dreckiger, vulgärer und kraftvoller Dialekte und Volkssprachen. Dieses ursprüngliche und schmutzige Internet ist ebenso faszinierend wie beängstigend – die einen suchen nach Möglichkeiten, um diese keimende Vernakularkultur zu beschützen und zu fördern. Die anderen wollen diese Sümpfe trockenlegen und haben das Gebiet schon längst als Datenautobahn in ihre Pläne eingezeichnet. Oder sie wollen diese chaotischen Siedlungen in Freilichtmuseen verwandeln. Geocities zum Beispiel ist das traurige Opfer der Planierung gewesen, während Facebook und Twitter dagegen den Weg der Musealisierung zu gehen scheinen: Makellos erhalten, aber immer blutleerer.

Aber irgendwo da draußen, in den immer wieder neu entstehenden digitalen Wellblechsiedlungen posten und trollen womöglich die Dantes, Geoffrey Chaucers, François Villons und Martin Luthers der digitalen Kultur. Während wir darüber diskutieren, wie viele Stunden unsere Kinder das Web nutzen dürfen, wie man digitales intellektuelles Eigentum schützen kann und ob man Schulklassen mit iPads ausstatten sollte, werden in den digitalen Niederungen gerade die Grundpfeiler der Hochkultur der nächsten Jahrhunderte in den Sumpf geschlagen. Aber wir sollten hier genauer hinsehen: Dante, Chaucer, Villon und Luther haben neue Sprachen geschaffen, die zur Lebenswelt der modernen Menschen viel besser passten als das antike Latein – Marinetti und die Futuristen wurden dagegen in ihrer ungebrochenen Liebe zu Technik, Geschwindigkeit und Gewalt zu Paten des Faschismus.

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Romantische Liebe

William Blake, Adam and Eve
Mein!
Bächlein, laß dein Rauschen sein!
Räder, stellt eur Brausen ein!
All ihr muntern Waldvögelein,
Groß und klein,
Endet eure Melodein!
Durch den Hain
Aus und ein
Schalle heut ein Reim allein:
Die geliebte Müllerin ist mein!
Mein!
Frühling, sind das alle deine Blümelein?
Sonne, hast du keinen hellern Schein?
Ach, so muß ich ganz allein,
Mit dem seligen Worte mein,
Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!

Morgengruß
Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
Verstört dich denn mein Blick so sehr?
So muß ich wieder gehen.

O laß mich nur von ferne stehn,
Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!
Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Tor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr taubetrübten Blümelein,
Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor,
Und hebt euch frisch und frei empor
In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen.

“Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.”
J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts

Liebe, “romantische” Liebe – Worte, stets in gefährlicher Nähe zum Kitsch. Romantik als Attribut ist uns ohnehin abgesunken in die tiefsten Kloaken der Maklerpoesie und Hotelprospekte. “Romantik Pur” möchte man ergänzen. Bürgerliche Verbrämung der Sexualität; leere Rituale wie Verlobung und Ehe, mit denen der Spießer heute noch den Adel des 18. Jahrhunderts nachahmt. Und schließlich: eine Ehe nach Bürgerlichem Gesetzebuch mit Ehegattensplitting und Steuerklasse III ist vermutlich so ziemlich das Gegenteil dessen, wie sich Menschen in Liebe verbunden sehen wollen.

Die Publizistin Julia Seeliger hat in den letzten zwei Tagen in beispielhafter Weise dialektisch die Begriffe ‘Liebe’, ‘Gender’ und ‘Sex’ herausgearbeitet. Wie bei Sokrates stellt sie am Anfang eine Frage:

“Haben #Piraten eigentlich auch Frauen vorne, die nicht das klassische Frauenbild (@Afelia und @laprintemps) verkörpern? Ich sehe keine”.(*)

Und wie es sich in der Elenktik gehört, bricht ein Sturm los, denn was bitte soll ein “klassisches Frauenbild” sein? etc. etc.

Aber es wäre nur die halbe Mäeutik, hätte die @zeitrafferin nicht auch die Protreptik drauf: In welche Rollenbilder drückt uns die Gesellschaft? Sind Gender und Sex unabhängig? Ist es Biologie? Kulturelle Anpassung? Gibt es Liebe?

“Romantische Liebe ist ja auch Quatsch. Mit dem Argument sollte man zumindest nicht heiraten.”(*)

Was mich dazu bringt, die “romantische Liebe” hier zu würdigen, auch in der Hoffnung, meinen eigenen dialektischen Beitrag zu der Diskussion zu leisten.

Auch wenn es einer Zeit nie gerecht wird, Universalbegriffe wie “Liebe” pauschal mit der ganzen Epoche zu identifizieren, gibt es ein Konstrukt, das kohärent genug ist, als die romantische Liebe bezeichnet zu werden. Ich kenne kein schöneres Bild der romantischen Liebe, als die zwei Gedichtzyklen “Die schöne Müllerin” und “Winterreise” von Wilhelm Müller, berühmt duch die Vertonung von Franz Schubert. (oben zwei Gedichte aus ‘der schönen Müllerin’, unten aus der ‘Winterreise’) Auch wenn die Handlung des einen Liederkreises im Sommer, die andere im Winter spielt, so ist doch der Untertitel der ‘schönen Müllerin’ eine Aufforderung: “Im Winter zu lesen”. Beide Liederkreise handeln von der Liebe, von unterschiedlicher Sichtweise aus betrachtet, aber gleichermaßen düster und winterlich.

Der junge Müllergeselle in der ‘schönen Müllerin’ verliebt sich in die Tochter des Müllers. Aber es bleibt eine einseitige Liebe – die Müllerstochter ist lediglich das Objekt seiner Zuneigung. Zunächst liest er ihr ganzes Verhalten als Erwiderung; die deutlichen Zeichen der Abwendung und Genervtheit der Müllerstochter schiebt er darauf, dass sie vielleicht unausgeschlafen sei. “Die geliebte Müllerin ist mein! Mein!” Erst als es nicht mehr zu leugnen ist, dass die Angebetete vielleicht doch einen eigenen Willen besitzt und sich schon längst mit dem Jäger verlobt hat, wird dem Müllergesellen sein Scheitern bewusst – er geht.

In der ‘Winterreise’ erleben wir das krasse Gegenteil. Der Mann verlässt seine Geliebte und geht. Die Erzählung hier ist stärker symbolisch, so dass sofort klar wird: der haut nicht einfach ab. Hört man die Lieder der Winterreise bis zu Ende ist deutlich, es geht um den endgültigen Abschied, den Tod. “Will dich im Traum nicht stören, wär’ schad’ um deine Ruh'” – sie wird erwachen und ihn niemals wiedersehen. Um diesem tief traurigen und hoffnungslosen Abschied seine Tragik zu geben, wechselt die Tonart an dieser Stelle in Dur.

Bei der ‘schönen Müllerin’ ist die Geliebte ein Objekt, bis sie sich befreit, indem sie selbst einen anderen Partner wählt. Bei der ‘Winterreise’ endet der gemeinsame Sommer der Liebenden, der Liebende geht, die Liebende bleibt alleine zurrück.

In der Liebe sind wir – wie bei Sartre (s.o.) – Objekt oder machen den anderen zum Objekt. Die ‘schöne Müllerin’ und die ‘Winterreise’ illustrieren genau diese beiden Situationen. Romantische Liebe ist ganz beim Einzelnen. Jeder mag sie für sich fühlen, aber er bleibt für sich. Die Sehnsucht, durch Liebe die Einzelnheit zu überwinden ist die blaue Blume der Romantik.

Tod der Atala
Gute Nacht
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.

Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such ich des Wildes Tritt.

Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!

Will dich im Traum nicht stören,
Wär’ schad’ um deine Ruh’,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Ich schreibe nur im Gehen
An’s Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
Ich hab’ an dich gedacht.

Nicht von ungefähr erwächst auf dem Höhepunkt der Romantik eine ganze Philosophie des Einzelnen, der anarchische Egoismus. Alle Wahrheit bleibt meine Wahrheit, genau wie alle Liebe in mir entsteht.

“Den Mittelpunkt der moralischen Freiheit bildet, wie wir sehen, die Pflicht der – Liebe. […] In der Liebe bestimmt sich der Mensch, gibt sich ein gewisses Gepräge, wird zum Schöpfer seiner selbst. Allein er thut das Alles um eines Andern, nicht um seinetwillen.”

schreibt Max Stirner. Auch wenn wir einzeln lieben, fühlen wir über unsere Handlungen mit dem anderen verbunden. Im Gegensatz zu jeder Form gemeinsamen oder kollektiven Erlebens, präsentiert sich allderdings jeder Einzelne selbst und wird nicht in der Liebe des Anderen zu ihm hin repräsentiert. Es bleibt bei der Zählung-als-Eins und es findet keine Vermassung der Liebenden (z.B. als Paar) statt. In der direkten Nachfolge Max Stirners haben Marx und Engels schließlich die Liebe als herrschaftliches Konstrukt entlarvt, das überwunden werden wird: “Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt.” (Engels, “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats”)

Thomas von Aquin breitet in seiner Summa Theologica aus, wie der Glaube sich nicht erzwingen lässt, sondern aus dem Inneren des Gläubigen kommen muss. Glaube ist nach Thomas eine rein mystische Erfahrung. Das führt Meister Eckhart weiter, wenn er uns predigt, dass immer, wenn ein Mensch zum Glauben bereit sei, sich Gott unweigerlich in ihn ergieße, um ihn zu erfüllen. Es bedarf dazu keiner weiteren (religiösen) Handlungen. Wie Thomas und Eckhart den Glauben mystisch sich in den Menschen ergießend sehen, so kann auch die romantische Liebe nur mystisch erfahren werden. Sie ergießt sich ebenfalls unwillkürlich in den Menschen, der für sie bereit ist.

In der Romantik wird dieses unwillkürliche Sichverlieben zu einem der großen Themen (daher kommt dann auch das Bild von der “romantische Liebe” als getrieben, von Innen kommend, im Gegensatz etwa zur höfischen Liebe des Mittelalters oder der Barockzeit). Aber die Liebe wird dabei aber nicht verklärt, wie man sich das heute in der verkitschten Version romantischer Literaturverfilmungen vorstellen mag.

Ein schönes Beispiel solcher unverklärter, fast satirisch dargestellter, romantischer Liebe gibt Alexander S. Puschkin in seinem großartigen Versroman Efgenij Onegin. Tatjana, die Tochter eines Provinz-Adeligen lernt den Petersburger Fürsten Onegin kennen, der sich (wie Puschkin seinerzeit selbst) ins Exil aufs Land geflüchtet hat. Schon ihr Name kennzeichnet die junge Tatjana als ‘gewöhnlich’ und unbeholfen. Und unsterblich verliebt sie sich in Efgenij, den sie sich, ganz unreif und unerfahren, aus seiner Höflichkeit und Galanterie als liebenswerten Menschen erträumt – wo er in der Tat aber ein лишний человек, ein sinnloser Mensch ist, ein Lebemann und Zyniker, der alle verletzt, die mit ihm zu schaffen haben. Aber letztlich kann man Onegin keinen Vorwurf machen – er hat hatte Tatjana nicht um ihre Liebe gebeten. Das Tragische des Einzelnen, der von Liebe erfüllt, doch keinen Weg zum Herz des Objekts seiner Liebe finden kann.

Die romantische Liebe ist mystisch, man kann sich nicht durch Vernunft vor ihr schützen. Alle Reflektion über Gender und kulturelle Prägung helfen nicht, wenn sich ein Mensch in einen anderen verliebt. Daher bleibt alle Genderkritik wirkungslos, solange wir Menschen eben in diesen Körpern unser vereinzeltes Dasein fristen.

Erst die Utopie des Post Gender verheißt uns Erlösung. Wenn wir dereinst unsere menschliche Existenz überwinden und uns durch genetische Ingenieurskunst, biochemische Medikation oder Upload in die Matrix in die Nou-Späre verabschiedet haben werden, wird es vermutlich auch keine mystische, romantische Liebe mehr geben.

Bis die Singularität uns befreit, müssen wir aber wohl noch ein wenig warten.

Die Liebe ist doch eine kulturelle Sache, #Postgender ey!

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Schmerzlich vermisst: die Meta-Ebene im Wulff-Interview

Nein, ich möchte nicht über Christian Wulff und das Amt des Bundespräsidenten sprechen. Seit die ersten Zitate durchsickerten, noch vor Ausstrahlung des Interviews und unabhängig von der Rücktrittsfrage, wurde eines klar: Ab jetzt repräsentiert dieser Bundespräsident und die Auffassung von Politik, die er vertritt, einen Großteil seiner Bürger nicht mehr. Unsere Bundesrepublik ist alt geworden, ohne zu reifen, leider, und sie merkt es nicht. Das ist enttäuschend, aber wir werden damit leben. Wir sollten den Bundespräsidenten Wulff innerlich abhaken und unsere Energien konstruktiver nutzen, meine Meinung hierzu passt in einen Tweet.

Worüber ich aber sprechen will, denn das möchte ich noch nicht kampflos aufgeben, ist die Aufgabe der Journalisten. Da haben die Leiter der öffentlich-rechtlichen Hauptstadtstudios Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf diesen Bundespräsidenten vor sich, Abermillionen von Bürgern hängen an ihren Lippen. Sie müssen als Interviewer stellvertretend für diese vielen Menschen und für alle nicht zum Exklusivinterview geladen restlichen Medienvetreter die offenen Fragen stellen, als mediale Repräsentanten sozusagen.

Und was tun sie? Sie lassen sich auf ein unwürdiges Detail-Klein-Klein um Gästezimmer und Zinssätze ein. Sie stellen ihre vorbereiteten Fragen, aber fragen nicht nach, wenn windschiefe Antworten kommen. Sie halten die Steigbügel, anstatt zu hinterfragen. Die Ratlosigkeit darüber, wie es dazu kommen konnte, war sowohl Deppendorf als auch Schausten in ihren anschließenden Auftritten bei Tagenthemen und heute journal anzumerken. Sie sind zu recht unzufrieden mit sich, Frau Schausten und Herr Deppendorf.

Was ist bei dem Interview falsch gelaufen? Im so geführten präsidialen Interview ging es um Details der Spielzüge – es hätte aber um die Frage gehen sollen, ob überhaupt das richtige Spiel gespielt wird. Es geht nicht um vergessene Stiefschwestern, eine schwierige Kindheit, unordentliche Zinsen oder150 € für Gästezimmer. Sondern es geht um die Frage, auf welche Haltung diese Details schließen lassen und auf welches Verständnis von sich selbst, seiner Macht, seinem Amt – und ob das angemessen ist. Wem es als Journalist bei einem solchen Interview nicht gelingt, von den Details auf das Ganze zu schließen, wer es da nicht auf eine Metaebene schafft, wer hier nicht die Systemfrage stellen kann, leistet keine gute Arbeit.

Der Präsident hat sich “sofort nach seiner Rückkehr aus dem Ausland” bei Diekmann entschuldigt: Was heißt “sofort”? Wieviel Tage lagen zwischen der Mailbox und der Entschuldigung? Zwei Tage? Drei? Warum nicht gleich, wenn man den Wutausbruch bereut? Wann hat er Döpfner angerufen, danach? Und Friede Springer, auch danach noch? Kann man das den Präsidenten ohne Nachfrage “unbesonnen” nennen lassen? Oder weist es nicht eher auf eine generelle Haltung hin, auf eine Grundannahme, dass ihm das zusteht?

“Ich bin überrascht, wie stark die Bürger das von mir wissen wollen” – Was meint er damit? Hat er gedacht, dass es Bürgern und Landtag reicht,  juristisch wasserdichte Formulierungen zu hören? Was überrascht ihn daran?

“Es gibt auch Menschenrechte, selbst für Bundespräsidenten”: Wie bitte? Von welchen Menschenrechten spricht er? Hat er das Gefühl, dass bei ihm Menschenrechte verletzt werden? Welche genau? Durch was? Durch Pressefragen?

Man kann solch ein Interview nicht führen, ohne auch spontan auf Aussagen des Interviewten einzugehen. Es reicht nicht, vorüberlegte Fragen abzuarbeiten und mit nichts auf seine Antworten Bezug zu nehmen. Diskursivität, wir sprechen im Manifest davon -, das wäre hier nötig gewesen, damit es zu einem richtigen Interview kommt. Zu einer gesprächsartigen Situation, Zuhören und Nachfragen. Dann wäre es vielleicht nicht nur bei Floskeln und Formeln geblieben, die einen ratlos hinterlassen. Diese Art der Interview-Führung ist kein Ruhmesblatt für den Journalismus. Auch sie ist alt, ohne weise zu sein.

 

[Abbildung: Screenshot des Interviews. Blicke auf vorbereiteten Fragekatalog]

 

 

 

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Die Lebensalter

Daniel 2,31-36 aus der Merian-Bibel
Du, König, sahst, und siehe, ein großes und hohes und sehr glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Des Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Erz, seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils Eisen und eines Teils Ton. 34 Solches sahst du, bis daß ein Stein herabgerissen ward ohne Hände; der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. Da wurden miteinander zermalmt das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und wurden wie eine Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, daß man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild zerschlug, ward ein großer Berg, daß er die ganze Welt füllte.
Daniel interpretiert die Vision Nebukadnezars. Die kolossale Statue symbolisiert den Ablauf der Geschichte, beginnend in einem ‘goldenen Zeitalter’, dem Paradies, sich Epoche für Epoche verschlechternd. Bis zu einem messianischen Ereignis – der Weltrevolution, die am Ende dieses ‘historischen Materialismus’ steht.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.1. Kor 13

.והיית אך שמח Devarim 16,15


Dass sich Stunden, Tage oder Wochen wiederholen, ist eine nützliche Illusion. In Wirklichkeit erleben wir jeden Moment unseres Lebens nur einmal; danach ist er vergangen. Was wir über gewisse Zeiträume unseres Lebens als relativ gleichförmig erleben, sind wir selbst. Wir haben von uns den Eindruck von Einheit, davon, dass wir eine Person sind, und zwar jeden Tag mehr oder weniger dieselbe.

Über lange Zeiträume hinweg verändert sich unsere Person allerdings, und zwar nicht gleichmäßig, sondern zu bestimmten Zeiten unseres Lebens sehr schnell, während sie dann wieder über Jahre und Jahrzehnte nahezu konstant zu sein scheint. Es ist keine völlig willkürliche Festlegung, unser Leben in Abschnitte zu unterteilen: in Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Greisenalter – oder Ähnliches.

Romano Guardini (1885-1968) hat über die Lebensalter, Ihre ethische und pädagogische Bedeutung ein ganz bemerkenswertes Buch geschrieben, dessen Gedanken ich hier weiterspinne. Jedem der Altersabschnitte liegen ganz bestimmte Bedürfnisse, Fähigkeiten und Antriebe zugrunde. Aus der Notwendigkeit, diese Bedürfnisse zu befriedigen, die Fähigkeiten dem Lebensalter gemäß zu entwickeln und den Antrieben zu folgen, ergibt sich für jede Phase des Lebens eine spezifische Ethik – was für Kinder gut und wichtig ist, muss für den erwachsenen Menschen noch lange nicht immer noch recht sein.

Alles hat seine Zeit, und ein jegliches hat seine Stunde, wie Kohelet sagt. Dieses Konzept vom zielgerichteten, voranschreitenden Leben, ist typisch für unser jüdisch-christliches Weltbild; der Tod ist der Punkt, an dem das Leben abgeschlossen ist und jedes Ziel erreicht sein muss – im Gegensatz zu zyklischen Vorstellungen, wie etwa der des Hinduismus, spannt sich unser Leben als Bogen.

Ein zentraler Aspekt im Voranschreiten von einem Lebensalter zum nächsten, sind Krisen, zum Teil dramatische Umbrüche, die wir durchleben (sollten), wenn wir, etwa von der Zeit des reifen Erwachsenen zum Greis uns verändern; Dinge, die uns als Erwachsene selbstverständlich von der Hand gehen, müssen wir lernen, fahren zu lassen, lernen, anderen Platz zu machen; ob wir in Würde alt werden, liegt nicht zuletzt daran, ob wir in der Lage sind, diesen Schritt zu gehen oder, ob wir als unwürdige Greise, wie Aschenbach, der Protagonist des Tod in Venedig, versuchen, unser in Wahrheit verlorenes Jugendalter in Ewigkeit zu perpetuieren, als Gecken. Diese Krisen begründen die oben beschriebene Einteilung des Lebens in die Lebensalter.

Jedem Alter entspricht eine bestimmte Art, die Welt wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung von der Welt entspricht wiederum eine bestimmte Art, sich durch Sprache auszudrücken. Kinder erleben die Welt sozusagen mystisch, alles Märchenhafte ist nicht, wie für Erwachsene am Rand des Kitsches, sondern wird als realer Teil der eigenen Welt wahrgenommen. Für Kinder sind Metaphern keine Umschreibungen der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst.

Hier verlassen wir Guardini, der den Gedanken der rhetorischen Figuren im Zusammenhang der Lebensalter nur ganz am Rande erwähnt und wechseln zweihundertfünzig Jahre früher nach Neapel. 1725 veröffentlichte Giambattista Vico seine Scienza Nuova, die Neue Wissenschaft, sein Philosophisches Hauptwerk. Vico hatte sich über viele Jahre mit der Geschichte auseinandergesetzt, vor allem der griechischen und römischen Antike und intensiv die Literatur dieser Zeiten studiert. Dabei war er auf eine bis dahin vollkommen unbeachtete Tatsache aufmerksam geworden: die von ihm untersuchten “Hochkulturen” waren über die Zeit nicht gleichförmig, sondern es erschien ihm eine Hierarchie der Epochen, ein “Erwachsenwerden”, “Altern” und schießlich “Vergehen” – Corso und Ricorso. Mit jedem dieser Zeitalter, so folgerte Vico, kommen ganz spezifische Eigenschaften der Kultur und Gesellschaft, in der die Menschen dieser Zeit leben, die man, ganz vergleichbar zu Guardinis Lebensaltern beschreiben könnte.

Vico war aber besonders eines aufgefallen: jede Epoche hat ganz bestimmte Tropen, die ihre Literatur und vermutlich ihr ganzes Denken prägen. Und daraus entwickelt er eine orginelle Systematik. In der frühesten Literatur einer Kultur drückt sich eine mystische Welterfahrung aus – alles wird durch Metaphern verkörpert. Götter lenken direkt das Schicksal in der Vorstellung der Menschen solch einer Zeit, bis sie schießlich durch Helden abgelöst werden, es sind jetzt Menschen, die das Schicksal bestimmten, aber ins unnatürliche überhöhte, legendäre Figuren. Die Umschreibung ist das Stilmittel der Literatur der Heldenzeit, die Metonymie. Schließlich folgt die eigentlich historische Epoche, Polis oder Republik, mit wirklichen Menschen als handelnde Subjekte. Juristische Texte und politische Reden machen jetzt einen Großteil der Literatur aus. Darin haben Metaphern oder Übertragungen kaum platz. Die Ironie ist die Trope des Menschen-Zeitalters. Danach geht es wieder abwärts – Kaiserzeit/Diktatur mit Heldenverehrung und schließlich Zerfall in die mystische Zeit der Völkerwanderung.

Vergleicht man Vico mit Guardini, so lieg nahe, die Zeitalter des einen mit den Lebensaltern des anderen zu verbinden – und man bekommt auch für jede Phase unseres Lebens eine passende rhetorische Figur. Kinder erfahren die Welt im Spiel. Wie in der Mystik, kann alles gleichzeitig das “normale Ding”, z.B. ein Brett und doch “etwas anderes”, z.B. ein Raumschiff sein. Es gibt für Kinder keinen Unterschied zwischen Sachbuch und Märchen. In der Jugend kommt die “Heldenverehrung”, die Überhöhung von Vorbildern, die Übertragung, die Übertreibung. Für Erwachsene ist alles machbar, wissenschaftlich, alles geregelt. Im gegenseitigen Umgang hilft die Ironie den Erwachsenen, distanz zur eignen Position zu zeigen, “ist alles nicht so ernst”. Mit schwindenden Kräften wächst im Alter das Gefühl von Unsicherheit. Sicherheitsbedürfnis, Fixierung auf feste Strukturen, das Bedürfnis nach starker “Führung” der als tendenziell bedrohlich empfundenen Gesellschaft sind die Folgen. Und schließlich können wir als Greise Wirklichkeit von Einbildung nicht mehr unterscheiden – es kommen die senile Paranoia, Depression, oder mystische “Altersweisheit”.

Lebensalter Zeitalter Tropus
Kindheit Mystik Metapher
Jugend Helden Metonymie
Erwachsenenzeit Menschen Ironie
Alter Ricorso Metonymie
Senilität Zerfall Metapher

Wie schon öfter angeführt, kann man unsere neuere Geschichte regelrecht als eine Folge von “Wendepunkten” in der Kommunikationskultur beschreiben. Als erstes beendet das Linguistic Turn das “finstere Mittelalter” des allegorischen Denkens, die “Kindheit” unserer Kultur. Der “Iconic Turn” hebt uns ins Zeitalter der globalen Massenkommunikation mit Ironie, um nicht zusagen Zynismus als Leitfigur. Und schließlich erleben wir gerade jetzt die nächste Wende, den Memetic Turn, bei dem wir wieder ins bildhafte zurückfallen. Diese “History of Turns” habe ich – wie gesagt – etwas ausführlicher in einem eigenen Post beschrieben: Memetic Turn.

***

Unsere Welt als unaufhaltsame Abfolge von Fort-Schritten, hat unterliegend etwas Trauriges. Man stirbt nämlich immer zu früh. Es gibt wohl so gut wie keine angenehme Art, aus dem Leben zu scheiden. Unerreichte Ziele, Dinge, die am Lebensende übrig bleiben, erscheinen uns sogar tragisch. So muss der Engel der Geschichte mit weit aufgerissenen Augen der zusehen, wie “eine einizige Katastrophe, unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.”; Fortschritt als Abfolge von Tragödien. Statt aber uns über unser sicheres Ende zu grämen, empfehle ich jetzt, Nachman von Bretzow zu lesen, jenen großen Mystiker, der vor zweihundert Jahren in der heutigen Ukraine als chassidische Zaddik lehrte; sein moralisches Gebot: “Mitzvah gedolah le’hiyot besimcha tamid” – Es ist die große Weisheit, stets glücklich zu sein.

Weiterlesen:
Kohelet – Zeit und Glück
Michael Ende: Momo
Memetic Turn
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte IX

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Kein Mädchenpensionat

Wikipedia ist kein Mädchenpensionat. de.wikipedia.org

“Brauchen wir Frauenquoten?” als Antwort auf “Warum sind hier so wenig Frauen?”, austauschbar im Kontext Führungskräfte, Professoren, Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschaftler, Gamer oder Piraten, darauf scheint sich mir die Gender-Debatte aktuell zu reduzieren. Wie ein Blick nach Skandinavien, Frankreich oder den USA leicht plausibel macht, hat ein Ungleichgewicht von Männern und Frauen in den Durchschnittsgehältern und der durchschnittlichen hierarchischen Stellung im Beruf offensichtlich etwas mit dem Angebot an Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zu tun. Dies zu leugnen ist ähnlich naiv, wie zu behaupten, der Klimawandel sein nur eine kurzfristige, statistische Schwankung.

Das erklärt aber überhaupt nicht, warum es in den “männlichen” Studiengängen und Berufen so wenig Frauen geben sollte. Für eine Mathematikerin ist die Chance auf Kinderbetreuung im Berufsleben vermutlich sogar besser, als für eine Kunsthistorikerin, würde ich zumindest aus meinem beruflichen Umfeld direkt folgern. Fragt man also, warum es diese Ungleichheit schon in der Ausbildung gibt, ist die stereotype Antwort, das läge an Erziehung und gesellschaftlich-kulturellem Rollenbild. Und da wird es meiner Ansicht nach interessant.

Üblicher Weise wird es als Flucht, als Schwäche der Frauen interpretiert, wenn sie sich für das “Weibliche” entscheiden. (“Weiblich” im Gender-Sinne, also das Verhalten, welches gesellschaftlich als eher weiblich attribuiert wird, finde ich ein schwieriges Konstrukt, das ich mir nicht zu eigen machen möchte, sondern in der Bedeutung zu verwenden versuche, wie es in den betreffenden Kontexten häufig auftaucht). “Frauen studieren Kunstgeschichte, weil sie sich nicht an die harten Fächer herantrauen” – hab ich tatsächlich schon den einen oder anderen Akademiker sagen hören. “Hier weht eben ein rauerer Wind.” – und dann sind wir ganz schnell bei den “Warmduschern” und anderen “Weicheiern” – wir sind also bereits weit jenseits von Sexismus, bei Diskursmacht angekommen und stehen mal wieder kurz vor der “Schweigespirale”. Und es ist ja so einfach, sich lustig zu machen, über “Political Correctness”; da hat man die Lacher immer auf seiner Seite.

Bevor wir also “das Weibliche” (s. oben) einfach pauschal über Bord werfen, sollten wir doch sehen, was wir da Opfern. Es ist, z.B. sicher kein Zufall, dass die Löschtrolle (männlich/weiblich) in der Wikipedia ihre in der Regel groben bis rüpelhaften Umgangsformen genau damit begründen, “Hier ist doch kein Ponyhof.” Dieses Post-Gender “stellt euch nicht so an, sonst seid ihr nicht emanzipiert genug, um hier mitzumachen” trifft den jeweiligen Diskussionsgegner übrigens völlig unabhängig von seinem Geschlecht oder Gender, soweit sich diese überhaupt aus dem Nutzerprofil ablesen lassen. Es geht also nicht darum, tatsächlich Frauen zu diskriminieren, sondern eine bestimmte Kultur abzuqualifizieren, die sich durch Höflichkeit oder dem Abwägen von Argumenten auszeichnet.

Eine extrem geringe Bereitschaft, sich in etwas Distanz und Selbstkritik mit dem eigenen Fach zu beschäftigen ist mir bei vielen Kommilitonen und später bei Kollegen unangenehm aufgestoßen, als ich vor zwanzig Jahren Mathematik studiert und anschließend eine Zeit im wissenschaftlichen Betrieb gearbeitet habe. Der dogmatische Positivismus, den ich in meiner Timeline regelmäßig auch in Diskussionen um Medizin-Ethik, Evidenzbasierte Wissenschaft oder Technikfolgenabschätzung wahrnehme, wird durch ein “so ist das harte Leben eben; da ist kein Platz für Metaphysik.” jenseits von Argumenten absolut gesetzt.

Es stimmt, meiner eigenen Erfahrung mit Kindern nach zu urteilen, übrigens nicht, dass Mädchen nichts mit Star Wars anfangen können. Gerade deshalb – das hab ich schonmal hier geschrieben – finde ich es seltsam, was für eine geringe Rolle die relativ flachen Frauen-Charaktere in den ikonischen Romanen zum Anbruch des Nerd-Zeitalters spielen.

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Die “Welt am Sonntag” experimentiert mit These 9

Die Welt am Sonntag Nr. 46 vom 13. November 2011 wartet auf Seite 12 mit einer ganzseitigen Anzeige auf. Ganzseitige Copy-Texte fallen ohnehin auf. Diese Version irritiert zusätzlich. Sie ist nicht sofort einzuordnen, es braucht eine Weile, bis man sie als Anzeige in eigener Sache identifiziert hat. Sie adressiert nicht den Leser, sondern einen möglichen zukünftigen Leser – den Nachbarn , dem man als Leser seine Ausgabe weitergeben soll.

Das ist in mehrfacher Hinsicht interessant.

– Die Handlungsaufforderung, die unerwartet und deshalb komplex ist: Eine gängige werbliche Handlungsaufforderung würde lauten “Kauf mich!”. Hier aber lautet sie: “Verschenk mich, damit ich deinen Nachbarn davon überzeugen kann, mich in Zukunft auch zu kaufen!” Die eigentliche Aufforderung steht erst in einer winzigen Fußnote an der unteren Bildkante: “Lieber Nachbar, willst Du die besondere Zeitung jeden Sonntag bekommen? www.wams.de/praemien”

– Das hohe Maß an Aktivität, zu dem der Leser aufgefordert wird und das man ihm zutraut: Der WamS-Leser muss die Seite zuende lesen, mitdenken und die Aufforderung entschlüsseln. Dann muss er seine eigene Unterschrift daruntersetzen, die entsprechende Seite herausnehmen, um die Zeitung legen und sie zum Nachbarn tragen. Der Leser wird vom reinen Rezipienten zum Akteur, ja zum Komplizen seiner Wochenzeitung. Der Leser ist kein reiner Konsument mehr, er soll aktiv werden und handeln.

– Das Spiel mit der Materialität des Mediums:  Seinen Namen draufschreiben und das Produkt vor die Tür des Nachbarn legen – das geht nur mit Papier. Die Sharing-Kultur der digitalen Welt, das Empfehlen, Weiterleiten und Teilen, wird hier – das muss man sagen – gekonnt in das Medium Papier rückübersetzt.

– Höchst interessant auch der Hinweis, dass die Zeitung “zu schade fürs Altpapier” sei. Aus unserer Perspektive der medialen Nachhaltigkeit und Medienökologie betrachtet, ist die Mehrfachverwertung ja tatsächlich ein wichtiger Aspekt (auch wenn im vorliegenden Fall das Ziel natürlich die Abonnentengewinnung ist, nicht die reine Lesergewinnung).

Oliver Voss zeichnet für diese Kampagne verantwortlich, und er hat hier ein hübsches kleines Experiment vorgelegt. Er probiert neue Werbeformen mit dem neuen Leser aus. “Lies sie, genieß sie und gib sie weiter.” Fast könnte man meinen, er experimentiert mit der praktischen Anwendung unseres Slow Media Manifests im Werbe- und Medienalltag.

Die WamS-Anzeige propagiert These 9 des Slow Media Manifestes. Diese lautet in unserer Kurzfassung: “Slow Media werden empfohlen. Sie rufen danach, zitiert, weitererzählt, verschenkt, verteilt und mitgeteilt zu werden.” Und sie  kokettiert mit These 5,  “Slow Media fördern Prosumenten”: “An die Stelle des passiven Konsumenten tritt bei Slow Media der aktive Prosument”. Oder auch mit These 7 “Slow Media sind soziale Medien”, die die Bildung “aktiver Deutungsgemeinschaften” anregen – warum nicht auch die zwischennachbarliche Auseinandersetzung über eine Zeitung.

Ob das gelingt? Ob Leser und Nachbarn da mitspielen? Ob die Welt am Sonntag die richtige Zeitung dafür ist? Ich weiß es nicht. Es ist das Wesen des Experiments, dass man das vorher nicht sicher weiß.  Aber das ist ja das Schöne an dieser Phase, in der alte Mechanismen nicht mehr funktionieren und neue sich noch nicht etabliert haben: Man kann ganz neue Erzählformen entwickeln und neue Wege entdecken. Experimente wie diese sind erst der Anfang.

 

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Zeitungen lesen lernen

Slow Media steht für medienübergreifende Medienkompetenz. In Gedanken überlege ich zuweilen, welche Unterdisziplinen eine slowmediavistische Medienkompetenz hätte, wenn wir dieses Fach unterrichten würden. Eine Unterdisziplin wäre wohl “Zeitungen lesen lernen”. In dieser Unterdisziplin würde davon zu sprechen sein, wie man Zeitungen (oder allgemein: Medien) liest. Nicht nur rein lexikalisch, sondern so wie man auch ein Fußballspiel lesen kann oder eine soziale Interaktion oder eine Gruppen-Konstellation. So wie man den Subtext einer Situation entschlüsselt. Wichtig ist dabei der Blick auf das Spiel als Ganzes mit seinem Regelsystemwerk, nicht nur auf die einzelnen Spielzüge.

Diese Unterdisziplin der Medienkompetenz würde lehren, den methodenkritischen Blick zu schärfen. Sie würde nach den Grundvoraussetzungen suchen, unter denen ein Medienbeitrag zustande kommt und nach den Vorzeichen fragen, unter denen der Beitrag steht, nach den impliziten Grundannahmen.

Für uns alle (Mediennutzer wie auch Medienproduzenten)  sind diese Grundannahmen um so blindere Flecken, je näher sie unserer eigenen Einstellung, unseren eigenen Grundüberzeugungen sind. Was gibt es spannenderes als blinde Flecken – die eigenen und die der anderen? Wie herrlich man sie nutzen kann, um den Blick und die Instrumente zu schärfen. Was steht zwischen den Zeilen? Was ist das unsichtbare Kleingedruckte? Auch wenn wir längst lesen können, müssen wir erst noch lernen, Medienalphabeten zu werden.

Welten und Gegenwelten

Als Beispiel könnte man einen Beitrag der Welt am Sonntag vom 2. Oktober 2011 (Nr. 40, WS 6) hinzuziehen. Hier wird aus den steigenden Mieten in Berlin das erfreute Fazit gezogen: “Berlin wird endlich zur Metropole”. Auch im NRW-Teil der Zeitung werden unter dem Titel “Krönung für die Kö” freudig die ersten Luxusmieter begrüßt.

Daraus lassen sich unschwer Rückschlüsse auf die Leserschaft ziehen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei eher um Immobilienbesitzer als um Mieter handelt. Denn nur für erstere Gruppe dürfte es sich bei der Nachricht, dass  “In Top-Lagen […] Mietsteigerungen möglich” seien, um eine erfreuliche handeln.

Dass hierzu eine Gegengeschichte zu erzählen wäre, liegt nahe und wäre eine hübsche kleine Fingerübung für Leute, die sich in slowmediavistischer Wahrnehmung üben möchten. Wie könnte die Komplementärgeschichte aussehen? Eine, die von Stadtentwicklung spricht, von Gentrifizierung, von den Auswirkungen auf Gemeinwohl, Stadtteilkultur und Identität?

Diese mögliche Gegenwelt ist wie die Rückseite des Mondes auch in dem zitierten Zeitungsartikel mitenthalten (genauso wie andersherum in dem gedachten Gegenbeitrag die Perspektive des obigen Beitrags implizit enthalten wäre). Slow Media bedeutet, diese ungeschriebenen Gegengeschichten mitzulesen und zu versuchen, von einer Einzelperspektive auf das Ganze zu schließen.

Zu dem steigenden Berliner Mietspiegel gibt es natürlich bereits Gegengeschichten, wie die lustige Erfindung des “Wutmieters“. Dass unsere Welt jenseits des medialen Tellerrandes aus geschriebenen Geschichten und Gegengeschichten besteht,  das ist eben der unschätzbare Wert einer pluralen Medienlandschaft.

 

 

 

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Plädoyer für einen differenzierten Ansatz

Ich komme gerade vom 23. Medienforum.nrw zurück, bei dem ich mit Ulf Froitzheim, Ulrike Langer, Sven Hansel und Konstantin Neven DuMont zum Thema “Unternehmerjournalismus” zu Gast war. Unsere Podiumsdiskussion war gelungen. Zumindest war sie – und zwar trotz unterschiedlicher Meinungen – frei von Lagerkämpfen und gut geführt von der Moderatorin Anke Bruns. Man hat sich zugehört und geantwortet. So sollte es auch sein.

In den Tagen vorher aber wurde klar, dass der Graben zwischen “alten” und “neuen” Medien noch viel tiefer ist, als ich gedacht hätte. Das Aneinandergeraten von Frau Piel und Herrn Gutjahr offenbarte dies, und auch die Aussage von Margot Käßmann, “Zeitungen verbinden Menschen, soziale Netzwerke nicht”. Klischees scheinen das Denken und die Diskussionen zu beherrschen.

Eines dieser Klischees ist das vom sozial vereinsamten Internetnutzer (Auflösung: Wer das Internet rein konsumierend nutzt, kann – wie auch der ebenso passiv-lethargische Fernsehkonsument – sozial vereinsamen. Wer das Internet sozial und als aktiven Kommunikationsraum nutzt, nimmt auch offline aktiv an sozialem Leben teil).

Ein weiteres Klischee ist das von der Ignoranz der Offliner (Auflösung: Es gibt tatsächlich Offline-Lobbyisten, deren Ignoranz aber Kalkül ist: Warum sich mit substantiellen Änderungen am Geschäftsmodell befassen, wenn man damit noch fünf Jahre durchkommt und bis dahin seine Schäfchen im Trockenen hat? Es gibt aber auch Offliner, die sich einfach nur nach Kräften bemühen, ihren Laden zusammenzuhalten (was derzeit nicht leicht ist), nach Lösungen für die Zukunft suchen und sich zu recht dagegen verwahren, per se Dinosaurier zu sein. Es gibt auch offline gute Zuhörer.)

Ein weiteres Klischee ist das von der Qualität im Print und dem Schrott im Internet. Niemand käme auf die Idee, einen Essay von Hannah Arendt mit einem pharmafinanzierten Artikel aus dem “Goldenen Blatt” zu vergleichen – nur weil beides zufällig auf Papier gedruckt ist. Mit unserem medienübergreifenden Ansatz im Manifest verlangen wir nicht mehr als dieselbe Differenzierung auch für digitale Medien walten zu lassen. Das gebietet eigentlich schon der gesunde Menschenverstand.

Warum wird die Mediendebatte mit derart hartnäckigen Klischees geführt?

Wir Menschen suchen in Phasen des Übergangs nach klaren und vertrauten Klischees, weil sie Orientierung bieten. Sie dienen der Selbstvergewisserung – und wer von uns bräuchte das nicht?

Trotzdem plädiere ich für einen mutigen und differenzierenden Blick. Einen naht- und stufenlosen Übergang von bisherigen zu zukünftigen Kulturtechniken wird es – so schön es wäre – nicht geben. Wir können nicht erwarten, für alles fertige Modelle zu haben. Wir müssen mediale Amphibien sein und das Nebeneinander von sich widersprechenden Konzepten aushalten. Wir müssen uns den Brüchen und Verwerfungen unserer eigenen Klischees aussetzen. Wir können uns als Gesellschaft dieses harte Entweder-Oder nicht leisten. Wir müssen nach neuen Kriterien suchen, die dies- und jenseits unserer Klischees funktionieren.

Um neue Lösungen zu finden, braucht es kritische Differenzierung. Wir müssen irritierende Grautöne zulassen – mehr noch: wir müssen sie sogar suchen.

Wir müssen das Weiße im Schwarzen und das Schwarze im Weißen sehen lernen.

Widerstehen wir der Versuchung, die Welt in schwarzweiss zu denken. Denken wir die Welt in all ihren wilden Farben und Zwischentönen.