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Archäologie Philosophie Slow theory

Geister

I-I-I’ll Be back to haunt you
The Dylans, 1994

Her voice lives on the breeze
Her spirit comes at will
And from sleep when I arise
Her bright smile haunts me still
And from sleep when I arise
Her bright smile haunts me still
JE Carpenter / WT Wrighton, 1864

Die Gespenster sind zurück. Jacques Derrida beschrieb die Rückkehr der Spektren oder Geisterwesen der Vergangenheit in “Marx’s Ghosts” aus einer visionär-prophetischen Haltung. Heute sind die Gespenster mitten unter uns, ein fester Bestandteil des Alltags geworden. Überall stößt man auf Phänomene, die so aussehen oder sich so anhören, als wären sie ein unmittelbarer Import aus der Vergangenheit: Instagramfilter, mit denen jedes Bild auf dem iPhone so wirkt, als wäre es direkt aus einem Kindheits-Fotoalbum aus den 1970er Jahren auf dem Smartphone-Display gelandet; Musikrichtungen wie Dubstep (allen voran der Künstler Burial), bei denen das Knistern der Vinylspuren eine gespenstische Brücke in alte, längst ausgestorbene (bzw. in die nostalgische Liebhabersphäre hinaufgehobene) Technologien schlägt; Orte wie das Tempelhofer Feld, die niemals wirklich gestorben sind, allenfalls “stillgelegt” oder “aufgelassen”, und suggerieren, sie könnten jeden Tag plötzlich wieder in hektische Betriebsamkeit aufwachen (die passenden Flugzeuglackierungen dazu sind mittlerweile auch wieder im Regelbetrieb der Lufthansa).

03.08.14 - 1

Derrida beschrieb mit “Hauntologie” eine Wissenschaft, die sich um die Gespenster kümmert, die sich in unseren Alltag eingeschlichen haben (der definierende Text dazu neben Derrida ist Lisa Gyes Webprojekt Halflives). Bei Bruce Sterling ist es die “Atemporalität”, die einen Zustand beschreibt, in dem es gar keine Gegenwart mehr gibt, sondern nur noch ein Neben- und Gegeneinander von Zeiten, Stilen, Moden und Trends – so treffend beschrieben mit dem Schlagwort “Retrofuturismus” (siehe dazu auch das Interview mit dem Kulturtheoretiker und Hauntolgen Mark Fisher).

Spätestens seit den 2010er Jahren ist die Postmoderne endgültig vorbei, und an ihre Stelle tritt eine Welt der Abandoned Places, von verlorenen Orten wie geschlossenen pyschiatrischen Anstalten, Parkhäusern, Kinos, U-Bahnhöfen und Bunkern, in denen die Vergangenheit so konzentriert ist, dass man die Geister der Vergangenheit hier spüren – ja, hören kann. Bei oberflächlicher Betrachtung meint man noch, diese Orte wären deshalb verlassene oder lost places, weil sie ihre Funktion mittlerweile verloren haben. Aber das Gegenteil ist der Fall! Sie hatten noch nie eine so wichtige Rolle als kulturelle Signifikanten gespielt wie gerade in diesem Moment.

Die Verwandlung von ehemaligen Funktionsbauten in Abandoned Places bedeutet – in Anlehnung an Pierre Bourdieu – eine Umwandlung von Funktionskapital in Bedeutungskapital. Eine Folge der Digitalisierung fast aller Industrien ist die massenhafte Entwertung von Funktionskapital. Das Bedeutungskapital und seine Leitwährung Aura erlebt derzeit an der Börse der Erinnerungen eine nie zuvor dagewesene Hausse. Investieren in die Vergangenheit – was für eine perverse Reprise von Benjamin Franklins “Zeit ist Geld“! Und vor diesem Hintergrund ist mit Instagram dann auch so etwas wie “Trauerarbeit für Phantomschmerzen” möglich.

Immer schwieriger wird dabei die zuverlässige Unterscheidung zwischen “Vintage-” oder “Stil-Geistern” und den echten Spektren der Vergangenheit. Vor allem auch deshalb, weil Atemporalität an dieser Stelle auch bedeutet, dass die klaren Grenzen unscharf werden und das was früher einmal eine Lüge der Kulturindustrie gewesen ist, in seinem Nachleben als Geist trotzdem so etwas wie eine auratische Qualität erhalten kann: Die Faszination mit gespenstischen Relikten von Vergnügungsparks und Shopping Malls zeigt das eindringlich. Auch die neo-toskanische Pappmachée-Dekoration in den Thermen und Spaßbädern der 2000er Jahre verwandelt sich, wenn sie erst einmal 10 Jahre sich selbst überlassen ist, von einer Unwahrheit zumindest in eine Halbwahrheit.

Atemporalität klingt aber viel zu distanziert und neutral. Die Wirklichkeit ist viel unheimlicher. Die Gespenster der Vergangenheit umgeben uns mittlerweile lückenlos  – sogar diejenigen, die erst nach dem Ende der Sowjetunion und dem Mauerfall auf die Welt gekommen sind, können die geisterhaften Erscheinungen wahrnehmen. Es mag sein, dass sie die Spektren gar nicht als solche erkennen und lost places sind für diese Generation genauso gegenwärtig wie Avincii und Cupcakes. Womöglich sind sie gerade damit beschäftigt, ihre eigenen Geisterheere oder Geisterstädte zu erschaffen, die sie dann in den kommenden Dekaden verfolgen werden. Every Generation has its own Ghosts.

herbrightsmile

Wahrscheinlicher aber ist, dass die Mechanismen der Erinnerungen so raffiniert sind, dass sie imstande sind, Nostalgie-Gespenster zu schaffen, ganz unabhängig davon, ob diese Zeit tatsächlich erfahren wurde oder nur in Überlieferungen, Filmen oder Büchern erlebt wurde. Meistens reicht die minimale Spur einer Erinnerung, um daraus einen Geist zu beschwören, der einen dann nicht mehr loslässt.

I years had been from home,
And now, before the door,
I dared not open, lest a face
I never saw before

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Archäologie Blogs

Netzstecker

Woran es liegt, weiß ich nicht. Aber auf diesem Blog ist Pierre Bourdieu bisher leider viel zu selten zu Sprache gekommen. Dabei sind seine Gedanken zum sozialen Feld, Kapitalsorten und Distinktion wie geschaffen für die Analyse von Slow. Ist die Lebenszeit nicht auch eine Art Kapital, die man gegen andere eintauschen kann? Bedeutet Slow dann nicht auch, sein Zeitkapital für wertvoller zu halten als sein ökonomisches Kapital und der Versuchung zu widerstehen, kostbare Zeitbudgets für epikuräischen Genuss umzutauschen in Geld oder Einfluss?

Was mich gerade eben wieder zu Bourdieu gebracht hat, ist aber eine andere Idee. Er schreibt über Kunstwerke und Kulturproduktion, dass ihr primärer Zweck nicht der ästhetische Genuss ist, sondern dass die drei folgenden Distinktionsmechanismen für die soziale Hierarchie des guten Geschmacks viel entscheidender sind: erstens sind Ergebnisse der Kulturproduktion immer an bestimmte soziale Klassen gerichtet und leisten also auch Beihilfe zur Definition der Klasse. Zweitens grenzen sie diese von anderen Klassen ab und drittens dienen sie als Ausweis der Mitgliedschaft zu dieser. Der Künstler und der Connoisseur bedienen sich dieser Mittel um eine exklusive, hierarchische und stabil reproduzierbare Hierarchie der Kultur zu etablieren. Ein wichtiger Punkt dabei: die Unterschiede müssen rein gehalten werden, die Klassen müssen anhand ihrer kulturellen Codes jederzeit sauber voneinander getrennt werden können: Donaldisten ins Töpfchen, Leser von Lustigen Taschenbüchern ins Kröpfchen.

Tulpen

Vor fünf Jahren hatte ich mit einer Archäologie der Blogosphäre begonnen und habe versucht, die frühesten Schichten dieser Sphäre auszugraben – also die Trojas I bis X der digitalen Literatur und ihre Genealogien zu entdecken. Eines der Ergebnisse ist dieser Zeitstrahl der deutschen Blogosphäre. Was an den frühen Blogs fasziniert, ist die intensive Verwendung von Links. Kein Post ohne Links, waren doch die ersten Ur-Blogs der mittleren digitalen Bronzezeit doch nichts anderes als kommentierte Linklisten. Der Gestus des Bloggers erinnert dabei an die Ethnologen des 19./20. Jahrhunderts. Sehet, welche merkwürdigen Dinge ich in den endlosen Weiten des Internets gefunden habe.

Links sind dabei auf den ersten Blick nichts anderes als kulturelle Querverweise oder Zitate. Die Blogosphäre kann man auch als eine globale Zitationsgemeinde sehen. Insofern, könnt man meinen, gefundenes Fressen für die oben beschriebene kulturelle distinction Bourdieuscher Art. So wie man in der Partitur von Schoenberg Zitate von Strauss findet, entdeckt man auch immer mehr Verweise zwischen den digitalen Kulturprodukten. Mit einem entscheidenden Unterschied: die digitalen Verweise sind maschinenlesbar. Mit der geeigneten Software – mein Code dafür hieß Metaroll – lässt sich der auf den ersten Blick esoterische Zusammenhang zwischen Blogs und Bloggerinnen restlos entschlüsseln. Der Algorithmus erkennt in Sekunden, wer eng befreundet ist, wer inhaltlich auf einer Linie ist und welche Blogger in ihren eigenen isolierten Parallelwelten leben und schreiben. Das war mit der alten Kultur nicht möglich (wird aber womöglich auch nicht mehr lange dauern).

Zum Entschlüsseln des farbenfrohen Referenzentangos der Blogosphären-Eingeboren muss man kein Feldforscher sein, ja nicht einmal ein armchair anthropologist. Diese Aufgabe kann sogar ein Roboter erledigen. Alles Wissen darüber liegt dem Onliner mit den geeigneten Werkzeugen zu Füßen. Das bedeutet aber nicht weniger, als dass die Blogosphäre sich nicht zur kulturellen Distinktion eignet. Sie ist nicht das Habitat des Connaisseurs, sondern des kulturellen Allesfressers. Dass gegen Jahresende 2012 Bloggerinnen und Blogger wie Johnny Häusler, Jens Best oder Claudia Klinger wiederentdecken, was für ein subversives Instrument sie mit der Blogosphäre bedienen können (oder könnten), ist gut. Noch besser, wenn die Blogosphäre sich im Zuge dieser Renaissance auch wieder an die wichtige Funktion des maschinenlesbaren Links erinnern würden: als Gegenmittel gegen kulturellen Standesdünkel und Distinktionsgewinnler. Überlasst die Blogosphäre nicht den Connaisseuren.

[Dieser Blogpost wurde auf einem Eee PC 900 verfasst, einem Netbook aus der Blütezeit der Blogosphäre]

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Archäologie Fernsehen

Lob des Fernsehens

Hinreißend, wie Susanne Gaschke den neuen Slow-Media-Autoren Tom Hodgkinson in der Zeit inszeniert. Mit Bauern, alten Traktoren und alten Bauernhöfen. Letztere heißen natürlich nicht Bauernhof, sondern Farmhaus, weil das englischer und noch ein bisschen altmodischer klingt. Nach einer vergangenen Epoche, in der man in der Tramway einen Paletot getragen hat. Aber zur Sache. In dem Artikel geht es um Tom Hodgkinsons Kritik der spätkapitalistischen Lebensweise, die hier als “Fast-Food-Monokultur” bezeichnet wird.

Das kleine Theater von Pula
Das kleine Theater von Pula - dort gab es im Gegensatz zur Arena die niveauvolle Unterhaltung, nach der sich die meisten Bildungsbürger so sehnen

Die Lösung der Misere ist, wie bereits vor 700 Jahren von Petrarca beschrieben, die Entsagung des schnellen Stadtlebens und die Hinwendung zur naturnahen guten Lebensweise:

Hört auf zu jammern! Kündigt eure Jobs, arbeitet frei oder in Teilzeit! Lernt ein Handwerk, gründet ein Geschäft, baut Gemüse an, zerschneidet eure Kreditkarten! Zieht aufs Land, wo alles billiger ist. Backt Brot, spielt Ukulele!

So klingt das bei Hodgkinson.

[…] gutes Essen, gutes Trinken, gute Bücher, Freunde und Feste stehen im Zentrum seiner Ideen. Es geht ihm um eine Konzentration auf das Wesentliche. Und er behauptet, dass man sich all dies relativ mühelos leisten könne, wenn man sich von der Plastikwelt abwende, Bücher secondhand kaufe und sein eigenes Gemüse anbaue.

Villa Rustica auf den Brioni-Inseln
Die Reste einer Villa Rustica aus dem republikanischen Rom auf den Brioni-Inseln - So sieht Landleben aus, wenn man es richtig macht

So paraphrasiert Gaschke das noch einmal. Eigentlich ist dagegen nichts einzuwenden. Das klingt schon ziemlich nah an dem Slow-Media-Evangelium, das wir in diesem Blog und in unseren Veranstaltungen predigen. Leider fällt das Hodgkinsonsche Programm dann an einer Stelle rapide ab. Er meint (wiedergegeben durch Gaschke):

Weg mit Auto, teuren Reisen, iPods, Prada-Gürteln und vor allem: weg mit dem Fernsehapparat!

Da ist sie wieder. Die wohlfeilste Art der Vulgärmedienkritik, die mindestens seit der Geburt des Mediums ihr Unwesen treibt. Das Fernsehen ist die Wurzel alles Übels. Das Fernsehen ist der Kulturzerstörer schlechthin. Slow Media heißt in erster Linie, einen Schritt zurück zu treten, und mit etwas gesunder Distanz zu bewerten, welche Medien und welche Inhalte gut sind und welche schlecht. Ein ganzes Medium zu verdammen ist Fast-Food-Kritik.

Arena von Pula
Die Arena von Pula - Auch in Rom gab es natürlich schon Fast Media. Blut, Kampf und Sauferei für das gesamte Umland der kleinen römischen Kolonie

Jedesmal, wenn mir dieses bildungshuberische Totschlagargument unter die Finger gerät, bin ich fast schon versucht, mit einem Lob oder zumindest einer Apologie des Fernsehens zu reagieren.

Ich könnte darüber schreiben, wie das Bildungsmedium schlechthin – das Buch – als reinste Trashschleuder begonnen hatte. Der frühe Buchmarkt bestand fast ausschließlich aus okkultistischen Ratgebern, in denen man zum Beispiel erfahren konnte, wie man den Froschkönigen ihre Krone entwenden konnte oder wie man sich einen Zauberspiegel herstellt (dazu sehr lesenswert Doering-Manteuffels Studie über Das Okkulte) oder schnell dahingeschriebenen Romanen.

Oder ich könnte von der TV-Produktion La meglio gioventù (dt. Die besten Jahre) schwärmen, die ausgerechnet in dem Land hergestellt wurde, das dem totalitären, verblödenden Fernsehen, wie es die Vulgärmedienkritiker sehen, noch am nächsten kommt: Berlusconi-Italien.

Oder natürlich über Kir Royal schreiben, die Serie, die auch nach 25 Jahren kein bisschen Schärfe und Witz verloren hat. Oder über Leo Kirch und sein UNITEL-Vermächtnis der grandiosen Opernverfilmungen von Jean-Pierre Ponnelle. Ist das nicht der perfekte Schlussakkord, der die Fernsehverweigerer als Kulturbanausen entlarvt, die sich selbst um den Zugang zu Bildern wie diesen bringen? Lautstärke aufdrehen, Vollbild einschalten und Lang lebe das Fernsehen!

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Alltag Archäologie Geschichte Küche

Das Porzellan der Oma

Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt.
Walter Benjamin

Langsame Medien, so haben wir Anfang des Jahres in unserem Manifest und danach auf zahlreichen Vorträgen immer wieder betont, erzählen eine Geschichte. Oft sind es gleich mehrere Geschichten, die sie uns erzählen, wenn wir nur aufmerksam genug zuhören. Den Begriff Medien darf man dabei nicht zu eng sehen. Es geht nicht nur um Zeitschriften, Bücher oder Internetseiten. Nein, wir bevorzugen einen breiten Medienbegriff, der alles einschließt, was dazu in der Lage ist, Informationen zu übermitteln.

Diese Kiste zum Beispiel erzählt eine solche Geschichte. Die Großmutter, vielleicht väterlicherseits, vielleicht mütterlicherseits, lag lange Zeit darnieder und ist schließlich entschlafen. Einige Dinge hat man für den eigenen Haushalt in einem der wohlhabenderen Münchener Vororte vielleicht brauchen können, die anderen Sachen hat man auf dem Bauhof entsorgt. In mehreren Fuhren, denn in den Kofferraum des 5er BMW passt nicht so viel hinein. Dann war da noch das Geschirr.

Einerseits passt es eigentlich überhaupt nicht in die reduzierte Inneneinrichtung – “so Zen-like wie es mit Kindern halt möglich ist” – andererseits hat die Oma wirklich an den Tellern gehangen. Das erste Kaffeegeschirr hatte sie sich damals Ende der 1950er gekauft als die von Löffelhardt entworfene schlanke Form 2025 noch richtig gewagt wirkte.

Fast schon etwas unvernünftig, sich das einfach so zu leisten. Aber irgendwie ist es ihr ans Herz gewachsen, so dass sie immer wieder nachgekauft hat. Es war längst nicht mehr ein Porzellan, sondern ihr Porzellan.

Während sie immer wieder die kaputtgegangenen Stücke durch neue ersetzte, wurde das alte Arzberg-Werk, das mittlerweile der Firma Kahla gehörte, modernisiert. Dann kam in den 1960ern die erste Porzellankrise. Die Leute fingen an, Steingut zu kaufen und wussten den ästhetischen Wert der zarten Porzellanwände, durch die Kaffe und sogar Tee milchig hindurchschimmerten, nicht mehr zu schätzen.

Auch die radikale Modernisierung des Arzberger Corporate Design brachte nicht mehr als einen Aufschub der Krise. Zeitgleich mit der Ölkrise rollte bereits die zweite Porzellankrise heran und die Zeichen standen auf Marktbereinigung. Die Kahla AG ging mit den Hutschenreuthers zusammen und die Arzberg war auf einmal nur noch eine Marke der Hutschenreuther-Gruppe.

Das hielt die Oma nicht davon ab, weiterhin das 2025er nachzukaufen, auch wenn die langgezogenen Griffe an Teekanne, Kaffeekanne und Terrinen im Laufe der Zeit längst nicht mehr so avantgardistisch wirkten wie damals Ende der 1950er. Nachdem die Hysterie verflogen war, blieb jedoch die zeitlose gute Form des Porzellans. Die Oma war inzwischen weit mehr gealtert und wurde zum Pflegefall. Das Porzellan hat sie schließlich überlebt. Auch wenn der Goldrand an einigen Stellen etwas abgewetzt ist und ein, zwei der insgesamt 30 Teller schon eine Macke hatten, war es immer noch so gut in Schuss, dass es sich lohnen könnte, es nicht wegzuschmeißen, sondern per Kleinanzeige für den Wert eines ordentlichen Essens in einem Fastfood-Restaurant loszuwerden. Vielleicht sucht jemand noch Geschirr für den Polterabend.

An so einer Geschichte kann man doch einfach nicht vorübergehen, oder? Auch wenn es bedeutet, dass ich jetzt im Küchenschrank Platz schaffen muss für ein weiteres Porzellan aus Arzberg.

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Alltag Archäologie Webseiten Wikis Wirtschaft

Orientierung mit OpenStreetMap
Ohne Google: Tag 2

[Read this post in English]

Auch heute keine Suchmaschinen.

Der heutige Tag ist ein Reisetag. München-Düsseldorf, dann weiter nach Berlin. Zur Orientierung in Düsseldorf nutze ich OpenStreetmap. Worin liegt der Unterschied zu Google Maps? OpenStreetmap ist ein Wiki-Projekt. Es ist offen. Ich kann mich beteiligen. Natürlich bietet auch Google Maps die Möglichkeit, eigene Karten zu erstellen und zu veröffentlichen. Die Schnittstelle, mit der ich Google Maps in andere Anwendungen vernetzen kann, ist phantstisch einfach. Aber es ist ein Unterschied, ob ich nur eigenen Layer erzeugen kann, wie bei einem proprietären Projekt von der Art Google Maps nicht anders möglich, oder ob ich eben im Innersten des Systems mitarbeiten kann.

Ähnlich wie bei Wikipedia ist die Editionsgeschichte der Kartenausschnitte sehr interessant und verhindert das unkontrollierte und vollkommen willkürliche “auslöschen” von Objekten, wie es auf Google Maps regelmäßig vorkommt. Wenn neue Karten eingespielt werden, sind die alten für uns nicht mehr zugänglich. Es gibt keine Historie.

Neben der Redlichkeit, die Entstehung und (erhoffte) stetige Verbesserung der Karten mit jedem Editionsschritt sichtbar zu machen und zu dokumentieren, sind es die Diskussionen, die manche Beiträge hervorrufen, durch die man so viel mehr erfährt, als durch die einfache Karte, auf der man über das “Warum” über die Existenz – oder gar das Fehlen – eines Eintrags nur spekulieren kann. Google gibt in der Regel keine Auskunft über seine Motive.

Georgia without details on Google Maps
Und manchmal ist es einfach bizarr, was bei Google Maps ausgespart bleibt. Die rätselhaften Wolken, die sich über manche Bauwerke schieben – viel diskreter, als wenn der Anblick nur verpixelt worden wären! – oder ganze Länder, die von heute auf morgen verschwinden, wie etwa Georgien, dessen Bild in Google Maps seit dem Tag nach dem Beginn des Georgienkriegs 2008 keine Informationen mehr enthält. Selbstverständlich sind alle Details des Kaukasus auf OpenStreetMaps unverändert zu finden.

Wikipedia und ihre Schwesterprojekte sind nicht perfekt. Die Willkür und die rüden Umgangsformen mancher Administratoren wurde schon oft – und zu recht – beklagt. Aber alles, was geschieht, ist offen und sollte – zumindest im Grundsatz – zum Mitmachen einladen.

Ich wünsche mir, dass mehr öffentliche und komunale Verwaltungen sich an solchen Projekten beteiligen, ihren Raum darin ergreifen und ihre steuerfinanzierten Daten uns auf diese Weise offen zur Verfügung stellen, so wie es z. B. Augsburg unlängst angekündigt hat. Wie schön wäre es, wenn die wundervollen Karten mit ihrer hochwertigen Information, die etwa das Bayerische Landesamt für Denkmalschutz oder das Wasserwirtschaftsamt anbieten, über Openstreetmap eine offene Schnittstelle bekäme und sich ohne Bruch mit anderen Daten verbinden ließe. So bleibt es eben bislang an uns, selber die Boden- und Baudenkmäler einzutragen und damit anderen zugänglich zu machen.

Auch heute bin ich sehr zufrieden. Ich habe wieder das Gefühl, dass sich meine Zeit für all das, was ich heute Online gelesen habe, hat sich ausnahmslos für mich gelohnt hat. Und ich bin sicher auf unbekanntem Terrain zu Fuß und mit dem öffentlichen Personennahverkehr vorangekommen – auch ohne Google.

Die anderen Posts zum Experiment “Ohne Google”:

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Versunkene Orte

Then he had raised something,
and it must have come.

(H.P. Lovecraft)

Manchmal sollte man die Dinge, die tief unter der Oberfläche lauern, nicht stören. Zumindest nicht mehr als möglich. Als ich gestern in meinem Blog auf die für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunksender doch eher ungewöhnliche Redewendung “Innerer Reichsparteitag” hingewiesen habe, habe ich in zahlreichen Blogs und auf Twitter Antworten auf Fragen bekommen, die ich eigentlich lieber nicht stellen wollte.

Von den ebenso wohlfeilen wie schauderhaften Political-Correctness-Vorwürfen bis hin zu Kommentatoren, die es begrüßen, dass solche Redewendungen endlich im Mainstream angekommen seien und ihren Kommentar mit einem Zitat von Joseph Goebbels signieren war alles dabei, was jemanden wie mich, der nahezu alle abwegigen Redewendungen von Arno Schmidt gelernt hat und dessen sprachpolitische Sozialisation aus Viktor Klemperers LTI stammt, eine Gänsehaut auf den Rücken jagt.

Heute Abend hat es wie so oft geregnet. Aber der Himmel war nicht wie sonst grau verhangen, als ich an der Würm entlang an der Grenze zwischen der Münchner Schotterebene und der rißzeitlichen Moränenlandschaft durch den dampfenden Wald geradelt bin, sondern gelb. Ein unwirkliches gelb, das einen perfekten Hintergrund für eine Lovecraft-Geschichte abgegeben hätte. Ein gelb, das dazu einlädt, mit Schaufeln das Grauen in der Tiefe zu wecken. Wie passend, dass der Wald nicht nur ein Begräbnisfeld der Latènezeit unter dem dichten Fichtenbewuchs verdeckt, sondern auch noch einen untergegangenen Ort.

Früher hat sich in der Mitte des Waldes, damals noch als Königlicher Kloster=Anger=Wald bekannt, eine kleine Siedlung namens Kreutzing oder Creutzen befunden. Ein Hof, ein paar Wirtschaftsgebäude und eine dem Waldheiligen Nikolaus gewidmete Kapelle, mehr ist es damals nicht gewesen, aber doch genug für eine ansehliche Schar von Pferden, Rindern, Schafen, Schweinen, Gänsen, Enten, Hühnern und Bienenvölkern.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist diese Schwaige – wie passend, denn jetzt schweigt der Boden hier tatsächlich – von der Bildfläche verschwunden. Im selben Jahr, in dem das Deutsche Reich entstanden ist, wurden die Gebäude vollständig abgetragen, und binnen weniger Jahrzehnte hat der vor allem mit schnellwachsenden Hölzern bewirtschaftete Wald dann vollständig überdeckt. Gras über eine Sache wachsen lassen ist eindeutig eine falsche Metapher, das kann einem jeder Luftbild-Archäologe sagen. Fichten funktionieren viel besser und verbergen die Umrisse einer versunkenen Siedlung auch vom Himmel aus. Bis dann die Herbststürme wieder einmal heftiger ausfallen als erwartet und dann mehrere Hektar Wald in bloßen Boden verwandeln.

Wo sich Kreuzing nun genau befunden hat, weiß niemand mehr und die alten Karten lassen sich nur sehr ungenau über die neuen legen. Aber die Siedlung und ihre 25 damaligen Bewohner leben in der Bezeichnung des Waldes weiter, der heute Kreuzlinger Forst heißt. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, den Dingen immer auf den Grund zu gehen. Manche Dinge lässt man dann doch lieber tief im Boden ruhen.

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Alte Geschichte

Der Geschichtsschreiber wirkt langsam,
und mehr auf die Nachwelt (Heinrich Döring, 1835)

“Soziologie ist aber keine richtige Wissenschaft,” hatte der Althistoriker immer wieder zu mir gesagt. Klar, wer ständig einen zeitlichen Horizont von 2000 Jahren vor der Nase hat, dem kommt die industriegesellschaftliche Moderne winzig und vielleicht sogar irrelevant vor. Auf die hat sich die Soziologie nun aber einmal spezialisiert. Leider. Denn deswegen spielt diese Disziplin heute, nach dem Ende der Industriegesellschaft, auch keine besonders herausragende Rolle mehr in der öffentlichen Meinung.

Für den Althistoriker ist an der Moderne nur das wichtig und interessant, was über sie hinausweist, beziehungsweise, was sie von anderen Epochen wie zum Beispiel dem römischen Kaiserreich abhebt. Das alles wird er aber in 200 Jahren ebenso gut an den schriftlichen und steinernen Zeugen ablesen können. Es eilt nicht. Die Gegenwart der Gegenwart ist aus dieser langsamen Perspektive sowieso nur die Vergangenheit von Morgen.

Althistoriker haben Zeit. Sie zitieren nicht das Gerede ihrer Kollegen, sondern greifen in ihren Referenzen gerne weit zurück in die Welt der bleibenden Werke. Wer mit bloßer Hand canabae legionis unter der dalmatinischen Sonne ausgegraben hat, lebt zur Hälfte sowieso in der römischen Kaiserzeit. Und die andere Hälfte stört es auch nicht, wenn sie sich auf Literatur beruft, die geschrieben wurde, als noch niemand absehen konnte, dass der Bundespräsident einmal in einem verregneten Frühsommer beleidigt hinwerfen würde, ja nicht einmal, dass es einmal so etwas wie einen Bundespräsidenten geben würde. Der Althistoriker hat übrigens noch bis in die 70er Jahre hinein auf Latein publiziert. Heute findet man auch in der historischen Fachliteratur zunehmend Übersetzungen lateinischer oder griechischer Zitate.

Die Bücher, die er mir vererbt hat, vielleicht unter missionarischen Hintergedanken, sind teilweise ziemlich alt. Aber nicht manufactum-alt wie die technisch perfekte Nachdruckmassenware, sondern Patina-alt, wie es nur Bücher sein können, die Generationen von Wissenschaftlern zum Nachschlagen aus den Regalen gezogen haben. Leider fehlt der zweite Band des Ur-Paulys von 1835, der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, in dem die historischen Schlagwörter zwischen By und E ausgebreitet werden. Damals haben die biedermeierlichen Historiker ihre Bücher bei einem Buchbinder in Auftrag gegeben, bevor sie in die Bibliothek kamen. Deshalb lässt sich diese Lücke nicht nachkaufen, ja nicht einmal nachsammeln. Die Kombination von the medium und the message ist hier ein Unikat, ganz zu schweigen von der Patina, die sich wie ein Kopierschutz über Einband und Seiten gelegt hat.

Ich habe aus einem dieser alten Bücher in meiner Doktorarbeit zitiert. Leider konnte der Historiker das nicht mehr erleben. Wahrscheinlich hätte es ihm gefallen, als ein nur für Eingeweihte wahrnehmbares Zugeständnis, dass die schnelle Wissenschaft der Soziologie ohne das langsame zeitliche Gerüst der Geschichte nicht tragfähig ist.

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Rote Liste der bedrohten Medien

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Medien entstehen, Medien vergehen. Die junge Wissenschaft der Medienarchäologie hat sich vorgenommen, diesen 5000jährigen Entwicklungsstrom von den ersten geritzten Steinen bis Chatroulette genauer zu untersuchen. Wolfgang Riepl hatte 1913 mit dem folgenden Satz eine Art “Naturgesetz” der Medienevolution formuliert:

[D]ie einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und für brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauerhaft verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.

Je weiter man jedoch in die Vergangenheit blickt, desto häufiger stößt man auf Medienartefakte, ja ganzen Medienkomplexe, die nicht nur in der Gegenwart nicht mehr in Gebrauch sind, sondern für die nicht einmal ihr ursprünglicher Sinn und Zweck rekonstruiert werden kann. Außer eben, dass es sich um Medien handelt, die menschliche Sinne und Denkprozesse einmal auf irgendeine Weise erweitert haben. Im günstigsten Fall geraten Medien nicht vollkommen in Vergessenheit, sondern werden von kleinen Subkulturen als sinn- oder identitätsstiftende Praktiken adoptiert. Die besten Beispiele dafür sind Phänomene wie die Steampunk– oder Retrofuturismusbewegung.

Was z.B. in der Bronzezeit einmal ein Rechenhilfsmittel gewesen sein könnte, wird heute als Talisman verehrt. Oder Steine, in die möglicherweise die Geschichte eines jungsteinzeitlichen Stammes eingeschrieben wurde oder die für die Zeitrechnung verwendet wurden, werden heute als Kraftorte von esoterischen Reisegruppen besucht. Meine Ergänzung zur Rieplschen These wäre:

Je länger der Verlust der ursprünglichen Aufgaben und Verwertungsgebiete her ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel, Formen und Methoden von esoterischen Subkulturen adaptiert werden.

Klar ist, es gibt unterschiedliche Grade der Vergessenheit und des Verschwindens von medialen Praktiken. Daher liegt es nahe, für weit verbreitete, bedrohte, ausgestorbene und wiederauferstandene Medien eine Art “Rote Liste der bedrohten Medien” anzulegen analog zu entsprechenden Listen für das Tier- und Pflanzenreich:

0: ausgestorben oder verschollen
1: vom Aussterben bedroht
2: stark gefährdet
3: gefährdet
R: extrem selten
G: Gefährdung anzunehmen
D: Daten mangelhaft
V: Vorwarnliste (noch ungefährdet, verschiedene Faktoren könnten eine Gefährdung in den nächsten zehn Jahren herbeiführen)

Eine ähnliche Idee hat Bruce Sterling gemeinsam mit Richard Kadrey 1995 zur Formulierung des “Dead Media Manifestos” gebracht, das zunächst die Rieplsche These im Großen und Ganzen akzeptiert, dann aber relativiert:

[S]ome media do, in fact, perish. Such as: the phenakistoscope. The teleharmonium. The Edison wax cylinder. The stereopticon. The Panorama. Early 20th century electric searchlight spectacles. Morton Heilig’s early virtual reality. Telefon Hirmondo. The various species of magic lantern. The pneumatic transfer tubes that once riddled the underground of Chicago.

Leider ist die Seite des “Dead Media Projects” zur Zeit nicht mehr erreichbar – also bezeichnenderweise selbst zu einem toten Medium geworden -, aber über Seiten wie archive.org sind die zahlreichen Notizen zu ausgestorbenen Medien noch erreichbar, darunter zum Beispiel die militärische Nutzung von Brieftauben, der Volksempfänger, die Sonnentelegraphie (Heliographie), ausgestorbene Techniken von TV-Fernbedienungen wie z.B. die Ultraschallfernbedienung, das PALplus-Fernsehformat, Dioramen und Panoramen oder die Camera Obscura.

Nicht nur ist das Dead Media Project und die vielen dort versammelten Notizen (mit der Aufforderung, daraus etwas zu machen, daran weiterzuarbeiten) ein großartiges Beispiel einer slowen Internetseite, die inspiriert und zum Austausch und Weiterdenken anregt. Sondern die Medienarchäologie ist ein sinnvoller wissenschaftlicher Unterbau für unser Slow Media Projekt, da es wie von selbst zu den Fragen führt:

  • Wie bedroht sind die langsamen Medien derzeit?
  • Welche Slow Media sind bereits vom Aussterben bedroht?
  • Wie sieht medialer Artenschutz aus?
  • Was können wir tun, um inspirierende und faszinierende Mediengattungen zu erhalten?

Einen Besuch lohnt auch die Webseite Radiomuseum, auf der es ziele Informationen über ausgestorbene Rundfunktechnologien gibt. Oder diese Seite mit Abbildungen gängiger Audiokassetten.