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Der Idiot – wieder eine zeitgemäße Figur?

Tozkij dachte im stillen: ›Er ist ein Idiot, weiß aber instinktiv, daß man durch Schmeichelei am ehesten zum Ziel kommt!
Dostojewski, Der Idiot

Open systems don’t always win.
Steve Jobs.

Dear Igor Barinov,

The status for the following app has changed to Removed From Sale.
App Name: WikiLeaks App

Techcrunch, 21.12.2010

The iPad as a particular device is not necessarily the future of computing. But as an ideology, I think it just might be.
Steven Frank, http://stevenf.com

Der idiōtēs war in der griechischen Polis ein Mensch, der Privates nicht von Öffentlichem trennte – meist aus wirtschaftlichem Zwang, wie die Händler oder aus gesellschaftlichem Zwang, weil ihm, wie den Frauen und den Sklaven die öffentliche, politische Betätigung verwehrt blieb.

Platon beschreibt in seiner Politik, was er daran für bedauernswert hält: Ein Idiotes kümmert sich nur um seinen eigenen Oikos – seinen Herd und nicht um die Gesellschaft, die Polis. Dabei kann selbst ein reicher Idiotes nur durch die Gnade der Gesellschaft überleben. Nur, weil der davon ausgehen kann, dass ihm die Polis stets zur Seite springt, kann er darauf vertrauen, nicht einfach von seinem Hauspersonal ermordet zu werden. Er wäre ohne die Öffentlichkeit, die er durch sein Idotentum verachtet, vollkommen hilflos.
***

Netzpolitik ist zur Zeit in aller Munde. Dieses Wort, so könnte man weiterdenken, mag unterstellen, dass es im Internet eine Polis, eine Öffentlichkeit gibt.

An dieser Stelle haben wir bereits mehrmals darüber geschrieben, dass eine politische Öffentlichkeit sich nur entfaltet, wenn ihre Regeln zweckfrei verhandelt werden können. Solange das Netz praktisch vollständig privatwirtschaftlich kontrolliert wird, ist eine freie, wertegetriebene, politische Diskussion nicht möglich. Unternehmen kontrollieren über CDN, Backbone und DNS, ISP und neuerdings sogar über die Betriebssysteme der Endgeräte die Inhalte; das Argument der Zensur ist so gut wie nie ein politisches oder ethisches; wie bei der von Apple gelöschten Wikileaks-App werden die AGB, die Terms and Conditions angeführt.

Ähnlich ist die Lage bei den Social Networks und Plattformen. Auch Twitter kann mein Profil jederzeit mit Hinweis auf die AGB sperren, Youtube Videos mit dem Verweis auf angebliche Regelverstöße einfach löschen. Und Netzneutralität – d. h. eine Gleichbehandlung aller Datenpakete – ist nur so gut, wie die gerechte Chance aller Seiten, auch über Suche gefunden zu werden.

Umso interessanter empfinde ich die Beobachtung, mit welcher Hingabe sich ganze Hundertschaften von Netzaktivisten zum Büttel der TK-Industrie, von Google, Facebook und besonders von Apple machen und deren teilweise Offenheit mit Öffentlichkeit verwechseln.

Die Verschiebung der Informationsmacht von den Content-Produzenten, den Autoren, Filmemachern, Musikern und ihren Verlagen und Verwertungsgesellschaften hin zu den Content-Plattformen, den Social Networks und Suchmaschinen ist wahrscheinlich unumkehrbare Folge eines viel grundsätzlicheren kulturellen Wandels. Deshalb ist für die zukünftige Form von Kultur und Kreativität die Antwort auf dieFrage entscheidend, wie (und ob überhaupt) eine politische Öffentlichkeit, eine Gesellschaft, trotzdem für das wirtschaftliche Auskommen von Menschen in Kreativberufen sorgen kann. Ich halte die Forderung der Piratenpartei, nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als “natürlich zu betrachten” und “explizit zu fördern” und gleichzeitig die Autoren “unabhängiger von bestehenden Machtstrukturen” zu machen, für utopisch. Im Moment nützen frei kopierbare Inhalte nur den Telcos, die ihre Bandbreite auslasten und natürlich den Plattformbetreibern, die dadurch Traffic erzeugen und dadurch bessere Werbeträger zu werden. Und obwohl ich selbst mein Geld mit Werbung verdiene, finde ich es doch ein wenig dürftig, wenn das alles gewesen sein soll, was bleibt.

Xenophon verwendete denn auch den Idioten schon im vierten Jhd. v. Chr. in einer übertragenen Bedeutung: ein Idiot ist ein unmusischer Mensch, der Dichtkunst unkundig.

Weiter lesen:
Die Illusion vom freien Internet
Alles wird Highway
Digitale Zwangsneurosen
Zensur?!

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Die Moderne ist unsere Antike

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(1) “A Vernacular is like a crumbled streetversion of a classic language. Like Italian is a vernacular language and Latin is a classic language. What does acutal vernacular online video sound like, that’s native to the Internet and speaks vernacular Internet ease? I’ll just read you the categories of an unnamed [Online Video Network] here: ‘LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy’. Those are actual terms, coined on the Internet. Now, you could think, to be classy, you would like to expunge that vernacular, and instead of them saying ‘LOL’ they should say something like ‘commedy’, instead of ‘OMG’ something like ‘experimental’. – Allright. That’s not how it works. It is a little hard to understand this, but the actual path to classiness is to upgrade the vernacular. You have to get through LOL, OMG, WTF, Cute, Games, Geeky and Trashy and somehow come out the other side. You have to make network culture classy on its own terms. You have to ennoble the vernacular – not by teaching people Latin, but by writing Dante’s Inferno!”
Bruce Sterling, Closing Keynote: Vernacular Video from Vimeo Festival. (Mein Transkript)

(2) klassisch zu lat. classis “militärisches Aufgebot; Abteilung; Klasse” stellt sich das Adjektiv classicus “die ersten Bürger-Klasse betreffend …
Duden, “Das Herkunftswörterbuch”

(3) “Die Moderne ist unsere Antike” – unsere Klassik
Mantra von Roger M. Buergel als Kurator der Documenta 12

“Der Gedanke, heute eine internationale Ausstellung der Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland zu veranstalten, liegt so nahe, daß er keine nähere Begründung zu erfordern scheint.”, leitet Werner Haftmann den Katalog zur ersten Dokumenta 1955 in Kassel ein. Offenbar war den Machern dieser ersten Kunst-Großschau ganz genau klar, was die Kunst ihres Jahrhunderts ausmacht. Nach dem Rundgang über die Documenta 12 war ich mir dagegen darüber klar, dass dies die letzte Dokumenta gewesen sein würde, die ich besuchte. Hatten die Kuratoren der drei Vorgänger-Ausstellungen wohl noch versucht, mit der Documena ein Bild der Kunst von heute zu zeichnen – und waren jeder auf ihre Art gescheitert, so hatte die Ausstellung 2007 aufgegeben, etwas wie “klassische Kunst unserer Zeit” zu definieren. Was zunächst wie Nachlässigkeit oder Denkfaulheit des Kurators wirken mag, erscheint mir heute als Symptom für einen Umbruch in der Kunst, die in ähnlicher Weise erschüttert wird, wie die Medien, die Musikindustrie und all die anderen sogenannten Kreativ-Bereiche.

Die Moderne – die Kunst der Neuzeit, wie sie sich in den letzten dreihundert Jahren entwickelt hatte – ist unsere Antike, genau, wie Roger Buergel es sagt. Ähnlich, wie das scholastische Festhalten an der Antike noch weit in die Neuzeit hinein das Denken und Schaffen des Abendlandes beherrscht hatte, gelten uns die neuzeitlich-modernen Begriffe und Kategorien immernoch als Maß für “klassiche” Qualität. Bestandsaufnahmen und Zustandsbestimmungen zeitgenössischer Kunst münden entweder in blutleeren Formalismus, wie etwa das jüngste Kunstforum, oder enden in totaler Beliebigkeit, wie eben die letzte Dokumenta.

Ratlos blickt man sich um: muss es nicht etwas geben, das an die Stelle des Alt-Ehrwürdigen tritt? Eine neue Generation? Eine neue Richtung? Bruce Sterling gibt uns die Antwort, in seiner fast einstündigen Rede zum Abschluss der Vimeo-Konferenz. Das Neue ist schon da, und zwar als Mundart, Volkssprache, Räubersprache, kurz: es steht außerhalb der klassischen Kultur. Das Neue findet sich in der Vernakular-Kultur des Netzes.

Man mag einwenden, dass diese Erkenntnis weder neu noch originell ist; dass das Internet die Kultur durch und durch umkrempelt, davon sprechen ganze Jahrgänge von Wired und tausende von Stunden TED-Konferenz. Aber Sterling sagt etwas anderes: Um das Neue zu erkennen, müssen wir darüber sprechen können. Die (Fach-)Sprache der Kulturwissenschaften und der Kritiker ist aber immernoch die Lingua Franca der Moderne. Gleichzeitig ist das Vernakular der Netzkultur noch nicht viel mehr, als ein Jargon.

Die Formen der zukünftigen Kunst (falls man diesen durch Genie-Kult und bürgerlichen Produktionsprozess ohnehin korrumpierten Begriff überhaupt perpetuieren möchte) können unter anderem so etwas wie Urban Art oder Generative Art sein – Favela Chic, um mit Sterling zu sprechen – oder der der Netzkultur eigentümliche Eklektizismus, die Bricolage, das Collagieren, der Punk – Sterlings Gothic High Castle.

Diese Vernakularkultur unterscheidet sich insbesondere durch ihre Produktionsbedingungen von der klassischen zeitgenössischen Kultur. Der klassische Schriftsteller, Künstler oder Komponist erhält seine Entlohnung durch juristisch saktionierte Transfersysteme wie GEMA, VG Wort, VG Bild/Kunst – oder er ist direkt beim Staate angestellt, als Professor, als Mitglied eines Staatsorchesters oder als Rundfunkredakteur. Dagegen steht die viel bejammerte scheinbare “Kultur des Kostenlosen” der Blogs, der Online Videos, der Remixes und Covers, des sogenannten “Bürgerjournalismus” und so weiter und so weiter. Und obwohl es manchem als naheliegend erscheinen mag, der vernakularen Kreativität des Netzes die Produktionsweise der klassischen Kultur zu übertragen, ist dies doch zum Scheitern verurteilt: die Kategorien der alten Welt greifen nicht mehr; die Menschen wollen kein Latein mehr sprechen, weil ihnen Italienisch in viel flüssigerer Weise Ausdruck verleiht.

Enhances
“Stand on the shoulders of Giants”
Accessibility of knowledge
Retrieves
everybody a publisher
oral tradition
dilettante / amateur

Non-Commodity-
writing

(Decay of Copyright)

Reverses
Bricolage (Ecclecticism)
Generative Art
New definition of Public Space
Obsolesces
Assembly-line book
mass-marketing for books
book-fairs

In der Tabelle links habe ich versucht, diese Entwicklung mit der Tetrade von Herbert Marshall McLuhan zu interpretieren:

Als Folge dieses Wandels wird es allerdings nur noch wenig große Romane geben, nur selten wird jemand das Risiko auf sich nehmen, einen teuren, abendfüllenden Spielfilm zu produzieren oder mit einem Orchester ein sinfonisches Werk der Musica Viva einstudieren. Was wir erleben, ist die Rückkehr des Dilettanten, durchaus im besten Sinne, des Enthusiasten; “Everybody a Publisher” bedeutet: Non-Commodity-Production of Culture.

Mehr dazu:
“So literature collapses before our eyes” – Non-Commodity Production
Das Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe.

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Let it slow: Weihnachtsempfehlungen Teil III

Und nun auch von mir zwei Empfehlungen für Weihnachten. Sie sind beide sowohl zum Schenken geeignet wie auch dazu, sich ausgiebig mit ihnen zwischen den Jahren zu beschäftigen. Das ist ein Faktor, den man beim Schenken – und erst recht beim slowen also nachhaltigen Weihnachts-Beschenken – nicht unterschätzen sollte. Denn zwischen den Jahren haben wir Z e i t. Und vielleicht haben wir auch Kinder, die bekanntermaßen nach Heiligabend zur Erfüllungsdepression neigen und gehegt werden wollen.

Kommen wir zur ersten Empfehlung:

1. Filme von Jacques Tati.

Jacques Tati ist – wie auch sein berühmterer Kollege Charly Chaplin – ein Perfektionist gewesen, der seine Filmszenen akribisch choreographiert und minutiös durchkomponiert hat. Am Ende des Boulevard Saint Michel, dort wo er auf die Seine stößt, gab es früher in Paris ein Kino, in dem nur Tatifilme liefen.

Einer meiner Lieblingsfilme (die es auch auf DVD gibt, sonst könnte man sie ja nicht verschenken) ist „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (“Les Vacances de Monsieur Hulot”). Es passiert: eigentlich nichts. Außer Ferien am Meer, um genau zu sein in der Bretagne. Das bedeutet: Es gibt dort Ebbe und Flut. Und das ist es,was auch in dem Film passiert: das Meer kommt und geht. Es kommt wieder und geht wieder und dazwischen passieren Dinge. Man geht an den Strand, zum Mittagessen und wieder zurück. Es wird Tag und Nacht. Die Feriengäste kommen an und am Ende des Filmes gehen sie wieder.

Auch als Zuschauer kommt man immer wieder zu den Filmen zurück. Es macht also Sinn, die Filme auch zu besitzen. Jedesmal wird der aufmerksame Zuschauer neue Neben- und Hintergrundszenen entdecken und sich an ihnen erfreuen. Ich empfehle ausdrücklich, einzelne Szenen zurückzuspulen und nochmals (gegebenenfalls in slow motion) mit der Familie genauer anzusehen und sich an der Präzision der Abläufe zu erfreuen: Die Eingangsszene am Bahnhof oder das Kartenspiel im Hotel de la Plage. Das wird mit jedem Hinschauen schöner.

Auch und immer wieder sehenswert ist „Jour de Fête“: Das Erstlingswerk des Regisseurs und Schauspielers Jacques Tati. Er ist – wie ich soeben beeindruckt bei Wikipedia nachgelesen habe – „französisch-russisch-holländisch-italienischer Herkunft“, eine wilde Mischung. Ein Postbote (gespielt von Tati selbst) versucht, inmitten von Tradition und Moderne, mit der Technik Schritt zu halten. „Rapidité! Rapidité!“ Schon 1953 gab dieser Ruf unerbittlich den Takt an. Ein schöner Film, um über Langsamkeit, Schnelligkeit und über die Zeit nachzudenken. Wer übrigens meint, Kinder hätten nur Sinn für schnelle Schnitte, kann sich mit Tati-Filmen eines Besseren belehren lassen.

2. Die zweite Empfehlung: das Buch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ von Franz Fühmann.

Ein sperriger Titel, ein großartiges Buch. Und das für jede Phase im Leben, also für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Das Sprachspielbuch mit Illustrationen von Egbert Herfurth erschien zuerst 1978 im Kinderbuchverlag in Ostberlin und ist inzwischen in einem schönen gebundenen Nachdruck im Hinstorff-Verlag neu aufgelegt worden.

Es beginnt alles mit Langeweile, diesem Zustand, den zu verhindern man heute den Kindern allerlei an die Hand gibt. Dabei kann Langeweile durchaus fruchtbar sein. Wer weiß schon, was einem einfallen würde, wenn man sich ihr eine Weile lang aussetzen würde? Wie in diesem Buch: Große Ferien, endloser Regen und fünf Kinder, die aus Langeweile mit Sprachspielen beginnen. Heraus kommt ein Buch über die deutsche Sprache, antike Philosophen und türkische Umlaute.

Erstes ist dieses Buch wahnsinnig gelehrt, und zwar auf ganz leichtfüßige Weise. Zweitens befasst es sich mit dem, woraus unsere Kommunikation besteht, mit der Sprache, ihren Philosophen, ihren Regeln, ihren Sonderheiten und mit dem Material, aus welchem die Sprache gewebt wird, mit Vokalen, Konsonanten, Umlauten. Es ist drittens wunderbar typografisch gesetzt und illustriert und fühlt sich – viertens – gut an. Außerdem und fünftens: Es ist ein unschätzbares Zeitzeugnis. Wie Franz Fühmann (der fünf Jahre vor dem Fall der Mauer 1984 verbittert über seinen Staat starb) inmitten des sozialistischen Realismus darlegt, welche Wahrheit in biblischen Texten steckt – das ist ein großer Moment. Eine Gratwanderung, die heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Es ist wieder die Sprache, die einen Alltag abbildet, in dem eine Einstufungskommision darüber befand, ob man Kultur machte, und der in Begriffen wie “Staatsapparat” (Wort mit fünf A) und “Kulturbundschulung” (Wort mit fünf u) wieder aufscheint. Ein historisches Glossar gibt im Anhang Aufschluss über diese inzwischen fremden Alltagsvokabeln. Es gehört also einfach – sechstens – in jeden Haushalt.

Weiterlesen:
Langsame Weihnachten (Weihnachtsempfehlungen, Teil I)
Slow-Media Weihnachtsgeschenke von jbenno (Teil II)

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Informatik Literatur Philosophie

Slow Coding

von Regine Heidorn, Bit-Boutique®.

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Die atemberaubende Geschwindigkeit, in der manche Produkte des Programmierens wie Software oder Webseiten zu entstehen scheinen, mag darüber hinwegtäuschen, daß Programmieren keine schnelle Tätigkeit ist.

Code is poetry – der von WordPress okkupierte Slogan – steht für eine der vielen Bewegungen digitaler Poesie, die mit dem Erscheinen der Zuse-Großrechner seit Mitte der 1950er Jahre entstand. Künstliche Texte entstehen durch programmatisches Austauschen von Wörtern, etwa die Anweisung “Ersetze jedes n-te Substantiv eines Textes durch das an n-ter Stelle folgende Substantiv in einem bestimmten Wörterbuch“ – eines der Experimente der 1960 in Frankreich gegründeten Gruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle, Arbeitsgruppe für Potentielle Literatur), die Texte als Werkstoffe betrachtet und unter Labor-Bedingungen die Potentiale der Ästhetik künstlicher Texte auslotet.

Code is poetry – in Bezug auf die Produktion von Programmiercode verdichten sich Anforderungen an effiziente, weil dichte Textproduktion. Gekennzeichnet von möglichst wenigen Zeilen Code unter Verwendung möglichst weniger Zeichen in möglichst klarer Benennung sowohl der Elemente der zugrundeliegenden Programmiersprache als auch der vom Autor frei wählbaren Elemente wie Variablen und Funktionen. Je weniger Zeichen und Zeilen Code desto weniger Tipp-Arbeit bei der Text-Entstehung. Je sprechender die Bezeichnungen, je semantisch unmißverständlicher, desto leichter die Wartbarkeit. Zahlreiche Diskussionen über die Struktur einer optimalen Programmiersprache landen bei diesen Grundanforderungen.

Der Sinn von Programmierung besteht darin, ähnlich der Fließbandfertigung von Massengütern Abläufe in wiederkehrende Schritte zu unterteilen. Damit ist ein erstes Kriterium für den Einsatz von Programmierung definiert: der zu programmierende Prozess wird konzeptionell vorweggenommen und der Aufwand geschätzt. Wer hier zu viel Schnelligkeit antizipiert, riskiert aus dem Ruder laufende Budgets. Mithin, um im Bild zu bleiben, Projekte, die nicht mehr steuerbar sind. Damit offenbart sich ein weiteres Kriterium für den Einsatz von Programmierung: der Aufwand für die Programmierung bemißt sich nach dem definierten Ziel eines Arbeitsschrittes oder aus mehreren Arbeitsschritten bestehenden Arbeitsablaufs. Die Transformation in eine Programmierung lohnt sich, wenn der Aufwand für die Erstellung eines programmierten Produkts und dessen Integration in die bestehenden Arbeitsabläufe die Aufwände für die zu ersetzenden Abläufe unterschreitet.

Diese Vorgehensweise setzt voraus, daß der Aufwand für eine Programmierung im Voraus festgesetzt werden könnte. Dabei ist es selten möglich, auf bereits vorhandene Software oder eine Sammlung von Skripten zuzugreifen, ohne diese auf die tatsächliche Verwendbarkeit im spezifischen Fall zu prüfen. Programmierprozesse umfassen eine Vielzahl von Grundvoraussetzungen, die einem permanenten technischen Wandel unterliegen: die gewählte Programmiersprache selbst unterliegt genauso wie unsere Alltagssprache einem ständigen Wandel. Manche wohlvertrauten Script-Libraries oder Frameworks werden nicht mehr aktualisiert, (neue) Hardware ist inkompatibel zu etablierten Programmier-Gewohnheiten, die Nutzung veralteter Hard- und Software beim Auftraggeber verhindert die Anwendung bereits in den Programmierablauf übernommener Neuerungen, möglicherweise wurde die Hard- und Software-Umgebung, für die programmiert werden soll, bereits so oft spezifisch gepatcht, daß es schon gar nicht mehr möglich ist, diese überhaupt zu erweitern. Wenn dann noch unverständliche oder gar keine Dokumentation vorliegt, steigt der Aufwand ins Unermeßliche. Ständig werden Sicherheitslücken entdeckt, die die Verwendung bisher valider Script-Schnipsel obsolet machen. Performance-Einbußen durch eine bestimmte Art der Programmierung ab einer gewissen Projektgröße kann eine komplett ungewohnte Herangehensweise nötig machen.

All diese Bedingungen machen eine Fähigkeit des Programmierers zur Grundvoraussetzung: das Wiederlesen. Wiederlesen des eigenen Codes auf Aktualität und Kompatibilität. Wiederlesen des Codes Anderer, in den eigene Ergänzungen gepatcht werden. Wiederlesen der Programmiersprache(n), um zu überprüfen, welche Bestandteile zur Umsetzung des individuellen Projektziels geeignet sind. Wiederlesen des Codes im Hinblick auf die Kriterien Sicherheit und Kompatibilität. Daher leben Programmierer in dem Bewußtsein, daß ihre Arbeit zum Zeitpunkt der Auslieferung zwar auf dem neuesten Stand der Technik ist, jedoch trotzdem bereits veraltet.

“Wieder lesen, eine Verrichtung ganz gegen die kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft, die uns die Geschichte ‘wegzuwerfen’ heisst, sobald sie einmal konsumiert ist (…) so daß wir dann zu einer anderen Geschichte weitergehen, ein anderes Buch kaufen können … Wieder lesen wird hier empfohlen, um anzufangen, denn es allein rettet den Text vor der Wiederholung (diejenigen, die es nicht schaffen, wieder zu lesen, sind genötigt, überall dieselbe Geschichte zu lesen).“

stellt Roland Barthes 1981 fest.

Das Wiederlesen rettet den Code davor, seine Geschichte zu wiederholen: Inkompatibilitäten und Sicherheitslücken zu reproduzieren. Umständliche Programmierung und unverständliche Benennungen durch nicht reflektierten Gebrauch von vorhandenem Code zu zementieren. Für das aktuelle Projekt unnötige Funktionen zu übernehmen, die sich zu unkalkulierbaren Fehlerquellen auswachsen können. Routinen weiter zu transportieren, die möglicherweise gar keine Funktion mehr haben, weil sie allein für eine bestimmte Bedingung im vorhergehenden Projekt nötig waren.

„Diejenigen, die es nicht schaffen, wieder zu lesen, sind genötigt, überall dieselbe Geschichte zu lesen“ – genau das passiert z B bei Webdesignern, die Anfang der 90er Jahre ihr Handwerk erlernt haben und seither ihre Code-Produktion nicht mehr geändert haben. Das Resultat sind Webseiten, deren Basis veralteter Code ist und die an neuere Entwicklungen, wie beispielsweise mobile Internetnutzung, nicht anschlußfähig sind. Überflüssig zu erwähnen, daß dieses Wiederlesen Zeit benötigt, genauso wie das Abklopfen der Bedingungen für die Programmierung, um ein realistisches Projekt-Budget und einen realistischen Zeit-Plan aufstellen zu können.

Code is poetry – im Gegensatz zur Prosa ist Poesie dicht – wenige Wörter transportieren verdichtete Bedeutungen. Die auch in Programmiersprachen permanentem Wandel unterzogen sind und gegebenenfalls triviale Redundanzen produzieren können. “For the master craftsperson, great code and great poetry are lean and trim, with no excess of words or other unnecessary elements.“ meint Matt Ward im Smashing Magazine. Programmieren ist ein kreativer Prozess, der Konzentration erfordert. Slow Coding ist daher kein sophistisches Postulat ästhetischer Polemik, sondern eine semantische Redundanz, ein Pleonasmus. Der als rhetorische Figur dennoch Aktualität besitzt, da die atemberaubende Geschwindigkeit, in der manche Produkte des Programmierens wie Software oder Webseiten zu entstehen scheinen, darüber hinwegtäuschen mag, daß Programmieren keine schnelle Tätigkeit ist.

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Critical Point of View:
Diskurs in Theorie und Praxis

Vom 24. bis zum 26. September fand in Leipzig in der altehrwürdigen (und rekonstruierten) Bibliotheka Albertina die Konferenz „Critical Point of View“ statt. Sie war als Wikipediaforschungskonferenz angekündigt und ich hatte die Ehre, dort einen Vortrag zum Thema „Zukunft der Wissengesellschaft“ zu halten. Es war eine sehr gut organisierte, strukturierte und angenehme Konferenz, mit einem spannenden Ansatz: Wikipedisten (Wissenschaftler, deren Forschungsobjekt die Wikipedia ist) und Wikipedianer (aktive Wikipediabeiteiligte und -autoren) zusammenzubringen; also Innensichten und Außensichten aufeinandertreffen zu lassen – und dann zu beobachten, was passiert (das war es zumindest, was ich dort getan habe).

Clash of Diskurskulturen

Es gibt Zweikompenentenkleber und Zweikomponentensprengstoff, und irgendwo dazwischen lag auch die CPoV. Es gab in diesem Reagenzglas Albertina eine Art Clash of Diskurskulturen, der sich unter anderem in dem Bericht des Historikers Peter Haber mitlesen lässt – vor allem auch in den Kommentaren. Wie geht man miteinander um? Kritisiert man einander und wenn ja wie und wo, bei einer Tasse Kaffee oder bei Twitter? Wie funktioniert (konstruktive) Kritik in akademischen und wikipedianischen Kontexten? Interessant, welche Diskursvarianten zu Tage traten: Zirkuläre Argumenationen von Wikipedianern auf Vorschläge von außen (entweder „Das gibt es schon!“ oder „Dann macht es doch selbst!“). Ritualisierte Dauerdiskurse innerhalb der Wikipedia (die „Käsebrot-Debatte“, die eigentlich eine „Restaurationsbrot-Debatte“ war, und ihr Äquivalent in basisdemokratisch ausgericheten Kita-Elterinitiativen in der „Nutellabrot-Debatte“ findet).

Aber Diskurse sind richtig und wichtig, so ermüdend sie auch in oben genannten Fällen sein mögen. Von verschiedenen Perpektiven profitieren wir auch innerhalb des Slow Media Teams. Jüngstes Beispiel: Der Wikipedia-Kommentar unseres Slow Media Manifestes, das ich vorab auf dem CPoV-Blog publiziert habe. Wikipedia aus der Perspektive Slow Media. Mein Beitrag nimmt eine empathisch-wikipedistische Sicht von außen ein, zeigt Potentiale auf und ist fasziniert von deren Funktionsmechanismen. Einen ganz anderen Blickwinkel hat da mein Mitautor Jörg Blumtritt: Seine Perspektive ist die Innensicht eines aktiven Wikipediaautors. Er schaut auch auf das, was im Wikipediaalltag stattfindet: Kommunikations-Unkultur, Aggressivität, Ringen um Macht und Deutungshoheiten. Das immer wieder Untergehen von ideen- und begriffsgeschichtlichen Themen, von Kultur- und Sozialgeschichte zugunsten personen- und ereignisorientierter Beiträge. Ist das repräsentativ? Was ist relevant? Wer bestimmt den Kanon? Die Apokryphen (von wem als solche definiert?) landen in Wikipedias berüchtigter Löschhölle. Das ist in der Praxis tatsächlich alles andere als dialogisch.

Diskursivität, Gesprächsbereitschaft, sozialer Austausch – diese Aspekte spielen in unserem Slow Media Ansatz eine zentrale Rolle. Die oralen und sozialen Aspekte der Wikipedia, die ihrer Zwitterrolle als quasimündlichem Schriftmedium geschuldet sind, sind ihr größtes Potential und zugleich die größte Quelle des Unmutes. Während Autorenhinweise anderer Publikationen sich auf Vorgaben zur formalen Darreichungsform beschränken, lesen sich die Autorenrichtlinien für Wikipediaautoren wie eine Anleitung zum sozialen Miteinander. Wikipedia ist kein reines Publikationsprojekt, sondern auch ein sozial-gesellschaftliches. Theorie und Praxis des respektvollen Miteinanders liegen hier – wie auch woanders – weit auseinander.

Sind die Entstehungsdiskurse Teil des Beitrags? Und sind Diskurse abbildbar?

Wer bei einer Online-Suchmaschine nach einem Stichwort sucht, landet mit ziemlicher Sicherheit zuerst bei Wikipedia. Er findet einen (fertigen) enzyklopädischen Beitrag vor, mundgerecht konsumierbar. Nun gibt es ja keine endgültige Wahrheit, das wissen wir schon länger, und die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Auch eine kleine Erzählung wie ein Wikipediabeitrag stellt nicht die endgültige Wahrheit dar. Der vermeintlich „fertige“ Text im Frontend ist zwar das Ergebnis einer gemeinsamen sozialen Handlung, aber doch immer nur eine Zwischenstufe, eine Art Zwischenbericht, eine Zwischendokumentation eines Prozesses, der noch weiter andauert. Den endgültigen, autorisierten Text, von dem – zumindest als Grundprinzip – die Philologie noch in den 90er-Jahren ausging, gibt es bei offenen Werken wie der Wikipedia nicht mehr.

Das Interface jedoch suggeriert einen erreichten Reifezustand, und die Wikipediabeiträge werden wohl tatsächlich von den meisten Wikipedialesern als „fertige“ Texte gelesen. Wer schaut schon auf die Rückseite der Werkstatt, auf die Diskussionseiten und die Versionshistorie? Sie sind faszinierende Diskursdokumentationen, aber richtig lesen können sie wohl nur Wikipedianer mit ausreichender Innensicht.

A Critical Point of View: ein Blick in die Werkstatt

In der Auflistung der Forschungsvorhaben der Forschungsinitiative „Critical Point of View“ steht an fünfter Stelle: „Design: Interfaces für Diskussionen.“ Hinter dieser prosaischen Formulierung steht nichts Geringeres als die Frage, ob die soziale Handlung, deren vorläufiges Ergebnis ein Wikipediabeitrag ist, selbst abbildbar ist. Ob ein Frontend denkbar ist, das wie eine gläserne Scheibe den Blick in die Werkstatt dahinter, in den noch laufenden Werkprozess erlauben kann. Das geht natürlich weit über Designfragen hinaus. Sind textgenetisch neuralgische Punkte innerhalb eines Textbildes visualisierbar? Während des Abschlusspodiums nach der Wikipedia seiner Träume befragt, antwortet Geert Lovink mit ebendiesem Punkt – mit einer Wikipedia, die Diversität und kontroverse Entstehungsdiskurse benutzerfreundlich und intuitiv im Frontend abbildet, anstatt sie im Hinterzimmer zu verstecken.

Das Abschlusspodium der CPoV

Textgenese aus editionsphilologischer Sicht

Eine ähnliche Aufgabenstellung hat auch die Editionsphilologie, aber auch sie hat bisher nur eine wenig benutzerfreundliche Lösung gefunden. Das Ziel von historisch-kritischen Werkausgaben ist es, die Genese eines Werkes für die Forschung nachvollziehbar zu machen und den Text eines Autors aus seinem Entstehungskontext verstehen zu können. Denn selbst bei nichtkollaborativ entstandenen Texten eines einzelnen Autors ist ja der Text im Fluss, es gibt Notizen, Randbemerkungen, Ergänzungen, Lektoreneingriffe, Verlagsentscheidungen und Varianten innerhalb verschiedener Auflagen. Um diese Kontexte, in denen Texte stehen, wertneutral und sachgerecht verfügbar zu machen, hat die Editionsphilologie einen Visualisierungscode entwickelt, der allerdings nur von Fachleuten und mit entsprechendem Schlüssel zu lesen ist. Dann schaut man als Leser dem Autor über die Schulter, und sieht, wie aus „Wünschen“ „Gespräche“ werden und aus einem „lesbaren Pfeilglück“ eine „Pfeilschrift“.

Historisch-kritische Darstellung des Gedichtes "Beim Hagelkorn", Paul Celan

Für die Wikipedia wird es nun darum gehen, eine Methode zu entwickeln, wie man mehreren Autoren über die Schulter schauen und ihren Diskursen beiwohnen kann. Denn – nimmt man ihre Sonderrolle als mündlich-schriftliches Zwittermedium ernst, dann sind die Diskurse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen, tatsächlich ein Bestandteil des Textes.

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Fotos: eigene. Bei der Handschrift handelt es sich um ein altes Katalogverzeichnis aus dem 19. Jahrhundert aus dem Bestand der Bibliotheka Albertina.

Die letzte Abbildung stammt aus: Paul Celan. Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung. Lyrik und Prosa. 7. Band. Atemwende. Textapparat des Gedichtes “Beim Hagelkorn”. S. 76. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1990.

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Geschichte Naturwissenschaft Philosophie

Atommodelle

τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε·
Ζεὺς ἀργὴς Ἥρη τε φερέσβιος ἠδ’ Ἀιδωνεύς
Νῆστίς θ’, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον.

Denn höre zuerst die vier Wurzelgebilde aller Dinge: hell scheinender Zeus; Leben spendende Hera; unsichtbarer Aidoneus und fließende Nestis, die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom benetzt.
(Empedokles, Frgm. 6, Aetius I 3,20)

Die Vorstellung, das die Welt aus Atomen besteht, die unterschieldiche Elementar-Eigenschaften besitzen, ist mehr als zweitausendfünfhundert Jahre alt. Die Verbildlichung es Elementaren kann man also mit Fug und Recht als eine der ältesten Unternehmungen wissenschaftlicher Visualisierung bezeichnen. Von Empedokles (ca. 500-430 v.Chr.) ist oben zitiertes ältestes Fragment überliefert, in dem die vier Elemente als Wurzelgebilde aller Dinge bezeichnet werden. Der philosophischen Schule der Pythagoräer wird die Zuordnung der Elemente zu den regelmäßigen Körpern zugeschrieben – man kann dieses erste bildhafte Atommodell durchaus mit den mathematischen Beschreibungen von Naturgesetzen in der Sprache der modernen Physik vergleichen: wie die Physiker von heute aus den mathematischen Modellen schließen, dass es noch Teilchen geben muss, die noch nicht beobachtet wurden – ohne deren Existenz aber das Modell nicht stimmen würde, genau in dieser Weise wurde von den antiken Philosophen ein fünftes Element gefordert, denn es gibt eben exakt fünf dieser platonsichen Körper. Der Dodekaeder mit seinen zwölf regelmäígen Fünfecken fällt aus der Reihe – die Zahl fünf war den Pythagoräern ohnehin heilig, ihr Erkennungszeichen der Legende nach das Pentagramm. So wurde die Quintessenz, die Prima Materia, der Äther geboren, um das Modell der vier elementaren Atome zu vervollständigen.

Nur ein einziges Element besitzt die Kristallstruktur dieses Modells aus einer akademischen Physiksammlung: das hochgiftige und radioaktive Polonium. Es ist ein kubisch-primitives Gitter mit nur jeweils einem Atom an den vier Ecken – nicht zu verwechseln mit dem raumzentrierten Gitter des brüsseler Atomiums.

Aber was verdeutlicht dieses Modell? Wenn wir Atome als Kugeln darstellen: wird uns irgendetwas beim Polonium klarer dadurch, einem Element, das (zum Glück) so gut wie kein Mensch je in Wirklichkeit gesehen hat? Welche Realität symbolisieren die Stäbe, die die Atome verbinden?

“Was wir heutzutage aus der Sprache der Spektren heraus hören, ist eine wirkliche Sphärenmusik des Atoms, ein Zusammenklingen ganzzahliger Verhältnisse, eine bei aller Mannigfaltigkeit zunehmende Ordnung und Harmonie.”
(Arnold Sommerfeld)

Der Gründer des Deutschen Museums, Oskar von Miller, hatte sich 1918 an Arnold Sommerfeld gewendet und ihn gebeten, ob er nicht Atommodelle vorschlagen könnte, die “in denen der Elektronenreigen um den Kern kinematisch vorgeführt werden könnte.” Auch wenn Sommerfeld diese, doch recht triviale Visualisierung ablehnte, setzte er sich, gemeinsam mit seinem Doktoranten Wolfgang Pauli in den folgenden Jahren mit der Frage nach einer angemessenen Darstellung des Atoms für die neue Abteilung “Aufbau der Materie” im Deutschen Museum auseinander.

Das Modell eines Goldatoms von 1928 – oben zu sehen – zeigt die Elektronen-Orbitale schematisch als Kugeln, deren Schalen-Dicke die Orte hoher Wahrscheinlichkeit für dazugehörigen Elektronen symbolisiert. Für die Didaktik der Physik ist es seit dieser Zeit eine Streitfrage, ob man – wider besseres Wissen – die Elektronenhülle durch Kugel- oder Kreisbahnen quasi planetarisch Verbildlichen darf; einmal im Kopf, wird man die Vorstellung von kreisenden Elektronen nie mehr los.

Aus ganz anderen Gründen wurde Sommerfelds Atom-Präsentation im Deutschen Museum kurz nach ihrer Einweihung wieder entfernt. Den Nazis war die Quantenphysik und speziell das Bohr-Sommerfeld Atommodell ein Dorn im Auge. Und kaum war Oskar von Miller, der über die Sammlung stets schützend seine Hand gehalten hatte, gestorben, konnten die braunen Pseudowissenschaftler die verhassten Exponate ins Depot verfrachten.

“Der Gedanke, daß ein einem Strahl ausgesetztes Elektron aus freiem Entschluß den Augenblick und die Richtung wählt, in der es fortspringen will, ist mir unerträglich. Wenn schon, dann möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter einer Spielbank sein als Physiker.”
(Albert Einstein)

Computergrafik ermöglicht uns, die mathematischen Funktionen darzustellen, mit denen wir die Atommodelle unserer Zeit beschreiben. Mag man sich das innere der Materie noch als kleine Kügelchen vorstellen können, die mit Drähten aneinander hängen – um die Quantenwelt als Real akzeptieren zu können, müssen wir uns von davon verabschieden, dass die Welt im Kleinsten irgendwie doch genauso aussieht, wie wir sie im großen kennen – auch wenn in den meisten Physikbüchern immernoch die Bohr-Sommerfeldschen Elektronen-Planeten um den Atomkern als Sonne kreisen. Auch in der Physik verläuft die Entwicklung des Weltbildes von einer rein mathematisch-philosophischen Vorstellungen, wie bei den Pythagoräern, über scheinbar konkreter werdendes Erkennen, bis in unserer Zeit wieder auf ein abstraktes Modell die Welt als Überlagerung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen reduziert.

Doch in Wahrheit ist es ein ganz anderes Sinnbild, das die meisten Menschen mit “Atom” assoziieren:
Trefoil

Weiterlesen:

Metaphysik, Spekulation und die “Dritte Kultur” und:


Atombilder: Ikonographien des Atoms in Wissenschaft und Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts. Hsgb. von Jochen Hennig und Charlotte Bigg zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Museum, 2007.

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Über das Hinterfragenwagen
und den Luxus von Moral

Es gibt die verschiedensten Eigenschaften, nach denen man Menschen in Kategorien einordnen kann. Es gibt zum Beispiel Menschen, die sich das Beste bis zum Schluss aufbewahren (das Filet beim Essen zum Beispiel) – und andere, die den umgekehrten Weg gehen und sich gleich das Beste vornehmen (das Filet, bevor es kalt wird). Es gibt Morgenmenschen und Abendmenschen. Man kann sie auch einteilen in solche, die eher Hunde mögen, und solche, die eher Katzen mögen (unvereinbar). Oder in Heilserwarter und Unheilserwarter (Mischformen möglich).

Eine dieser möglichen Unterscheidungen habe ich gelernt für zentral zu halten: Es gibt Menschen, die sich, bevor sie etwas tun, fragen: „Nützt mir das?“ Und es gibt Menschen, die sich fragen: „Ist das richtig?“ Nun müssen sich ja Nutzen und Moral nicht notwendig ausschließen – die Gewichtung scheint mir jedoch von feiner Bedeutung zu sein. Es ist eine Art Grundhaltung des Seins, des Wertens und des Handelns auf allen Ebenen. Sie findet sich im Kleinen wie im Großen, im Berufsalltag ebenso wie im Privatleben. Auch wenn nicht immer offen sichtbar ist, führt ein tiefer Graben zwischen beiden. Die Motivation der einen Seite wird der jeweils anderen immer völlig unverständlich bleiben, gerade weil die Grundfrage für jeden so selbstverständlich ist.

Der Sozialdarwinismus, von dem im Metaphysik-Beitrag von Jörg Blumtritt die Rede ist, sagt: Moralisch richtig ist, was dem Eigen- oder Artennutz dient. Im Falle der Natur ist die Sache schnell geklärt: möglichst viele Gene verteilen. Jede Vergewaltigung wäre so moralisch legitimiert, die Natur ist da nicht kleinlich. Lässt sich dieses Prinzip aber auf eine kultivierte Gesellschaft übertragen? Bedeutet Kultur nicht gerade, sich den Luxus von Moral und Werten zu leisten, die außerhalb des reinen Eigennutzes liegen?

Was dient der Sache und was dient mir selbst? Auch hier könnte es doch einen dritten Weg geben. Wäre es möglich, die Pendlerpauschale falsch zu finden, obwohl man selbst davon profitiert? Ein Thilo Sarrazin bekommt ein großes Forum, weil man sich des Echos so schön sicher sein kann. Die Entrüstung ist groß, die Zustimmung auch, die Startauflage des Buches ist schon vor Erscheinen vergriffen. So gesehen eine klare Sache: Der Rummel nützt allen, dem Verlag, dem Buch-Autor sowie allen Medien, die sich auf dieser oder jener Seite an der Debatte beteiligen. Aber ist das auch richtig?

Gelegentlich staune ich, wenn ich durch das Fernsehprogramm schalte, über das, was ich dort zu sehen bekomme. Man fragt sich unwillkürlich, aus welchem Grund es überhaupt gesendet wird. Die einzig mögliche Antwort: Weil es Quote bringt. Einen anderen Grund kann es gar nicht geben. Weil es nützt. Aber reicht das?

Jeder Kindergarten wird ein Haifischbecken, wenn man die Kinder sich selbst überlässt. Das Recht des Stärkeren setzt sich zunächst einmal durch. Auf der anderen Seite werden Kinder zu einer unbeteiligten Schafsherde, wenn man es ihnen abnimmt, die Regeln des sozialen Miteinanders selbst zu entwickeln. Es geht also nicht nur um die Anwendung vorgegebener sozialer Regeln, sondern um die Fähigkeit, diese zu entwickeln. Kinder müssen lernen, einen Punkt zu finden, der außerhalb ihrer vielen verschiedenen Eigennutze steht, von dem aus sie Verhaltenregeln ableiten und untereinander verhandeln können. Natürlich geht es dabei auch um Eigennutzen. Aber es eben auch um einen Punkt, von dem aus diese ins Verhältnis gesetzt werden können.

Zivilisation und Kultur bedeutet doch genau dies: nutzenunabhängige, eigensystemübergreifende Regeln für Richtig und Falsch zu entwickeln. Immer wieder nach einem neuen Punkt zu suchen, von dem aus alles von außen zu betrachten – und zu beurteilen – ist. „Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden,“ sagt Jörg in seinem Beitrag, und es stimmt: Man findet nicht alle Antworten innerhalb des Systems. Ob wir das nun Metaphysik, Moral, Mündigkeit, Religion* oder sonstwie nennen, ist unwichtig. Wichtig ist, einen Punkt außerhalb des eigenen Systems denken zu können, für denkbar zu halten. In den „anderen Raum des Denkens“ treten zu können. Sich selbst, das eigenen Handeln, die eigene Rolle im Ganzen zu hinterfragen wagen.

Was tue ich überhaupt und warum? Das bleibt eine zentrale Frage – für Menschen sowieso, aber auch als wissenschaftliche Disziplin, als Forschungszweig, als Verlag, als Unternehmen. Jeder, der handelt, sollte doch darauf eine Antwort haben.

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“Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bißchen anderen Worten.”

Margarete zu Faust (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Zeile 3.459)

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Metaphysik, Spekulation und die “Dritte Kultur”

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Der Wissenschaftler blickt durch das Objektiv – macht das seine Forschung objektiv?

Anlass für diesen Post ist eine ziemlich beharrlich geführte Debatte auf Twitter, aus der ich meine eigenen Punkte etwas erweitern möchte. Diese berühren nur einen Teil dieser, über weite Strecken, wie ich finde, kurzweiligen Diskussion in der ein viel weiterer Bogen gespannt worden war.

Das Grundmotiv des Gesprächs stellten “die zwei Kulturen”, wie der Komplex – Naturwissenschaft gegen Geistes- oder Humanwissenschaften – seit dem berühmten Text von Ch. P. Snow genannt wird. Ich möchte zwei Aspekten anreißen, die ich im Zusammenhang von Slow Media für erwähnenswert finde: die Frage nach dem Wert von Metaphysik für die Wissenschaft. Der zweite: meine Hoffnung, dass in der durch das Web mit Plattformen wie Wikipedia und durch die Blogs mit ihren Kommentaren veränderten Öffentlichkeit für Wissenschaften die “dritte Kultur” möglich wird.

Von den Protagonisten der Twitter-Diskussion waren schnell die entsprechenden Rollen im Spiel von Snows zwei Kulturen eingenommen; ich – trotz meines Werdegangs – auf Seite der Humanities. Am Ende hätte sich alles fast in Konsens aufgelöst, wären nicht ein paar Punkte aufgetaucht, bei denen der tiefe Graben zwischen den zwei Kulturen plötzlich wieder sichtbar wurde: zunächst die Frage, ob der Skeptizismus der naturwissenschaftlichen Methode auf deren Grundlagen selbst anzuwenden sei, und dann, und das kam vollkommen unerwartet für mich, durch ein Zitat, das ich zur Illustration dieser Frage getwittert hatte.

Ehlers: ‘ … die Entscheidung [ob man eine neue Theorie akzeptiert] fällt auf Grund von Argumenten, denen schließlich beide zustimmen: die Vertreter der älteren und die der jüngeren Generation.’
Stichweh: ‘Ob das immer so ist? Ich kenne keinen einzigen Gegner Darwins, der je überzeugt worden wäre.’

Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft.
Interview mit Jürgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Christian Huygens, “der eleganteste Mathematiker seiner Zeit”, eine der herausragensten Gestalten der Aufklärung, hatte im Kontext der Verteidigung Galileos gesagt: “Die Welt ist mein Heimatland und Wissenschaft ist meine Religion”. Dieses Zitat fand ich passend für die Unterhaltung. Danach war der Konsens bis zum Ende nicht wieder herzustellen, es kam ein scharfer Ton in die Rhetorik und – ich habe es so empfunden, da ich ja die Gegenposition vertrat – die “Partei der Naturwissenschaften” verfiel in Figuren der Eigentlichkeit, ja die Bilder wurden schließlich geradezu martialisch. Die Barschheit mit der eine Gemeinmachung, aus dem Zitat abgeleitet, von Wissenschaft mit Religion, bekämpft wurde, überraschte mich, noch mehr, dass ich damit die naturwissenschaftliche Seite beleidigen würde. Umgekehrt sah ich mich als gläubiger Katholik plötzlich mit Kreationisten und anderen esotherischen Spinnern auf eine Stufe gesetzt.

“Was an Kraft gewonnen wird, geht an Weg verloren.” Auch wenn es verlockend ist – die Übertragung physikalischer Bilder auf die Gesellschaft des Menschen, wie sie noch Francis Bacon gefordert hatte, funktioniert so einfach nicht …

Nach meinem Abitur hatte es für mich keinen Zweifel gegeben, dass ich eine naturwissenschaftliche Laufbahn einschlagen würde. Ich fing an, Mathematik und Informatik zu studieren. Wie viele meiner Zeitgenossen hatte mich vor allem die Freude an der Visualisierung von Daten ergriffen: es war die Zeit der “fraktalen Geometrie der Natur” von Mandelbrot und der Erfindung des Grafik-Prozessors. Aufgrund dieser Kenntnisse in elektronischer Datenanalyse bekam ich einen Job in der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs.

Das besondere an dem Team in diesem Institut bestand in der außergewöhnlichen, überdisziplinären Zusammensetzung: neben den Zoologen (vorwiegend Ornitologen und Primatenforscher) arbeiteten dort Mediziner, Psychologen, Sprachwissenschaftler und sogar Kunsthistoriker. Der Grund für diese ungewöhnliche Zusammensetzung bestand im Forschungsgegenstand: dem menschlichen Verhalten – von der nonverbalen Kommunikation (wo ich gelandet war) zu Sprache und Proxemik (das Verhalten in der Gruppe) bis zum ganzen Repertoire der Kultur, der Kunst, der Architektur und vor allem der Musik – gesucht wurde, was die Menschen eint, universal gültig, egal, welche Kultur der Welt betrachtet wird, und was spezifisch ist, wie Menschen ihr Verhalten an unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen. Von der Methodik der Ethologie, der vergleichenden Verhaltensforschung, profitiere ich bis heute – eine Vielzahl von Forschungsprojekten haben Christiane Tramitz und ich seither verwirklicht – auch wenn unsere Trennung vom Max-Planck-Institut damals ziemlich unsanft verlief.

Zu jener Zeit waren einige der bereits zum Proseminar-Stoff abgesunkenen, der Postmoderne entlehnte Argumentationsfiguren sehr en vogue. Hatten der humanwissenschaftliche Mainstream während der zehn Jahre zuvor die biologische Erforschung des Menschen noch alles Teil bürgerlicher Herrschaftsverteidigung massiv angegriffen, so wurde jetzt jeder Reduktionismus, der die klassische naturwissenschaftliche Methode gerade ausmacht, als Konstrukt geschmäht. Die Streitgespräche dieser Zeit waren im Grund recht harmlos und – anders als die Klassenkampf-Rhetorik der früheren Jahre – kaum angetan, die Forschungsarbeit ernsthaft zu stören. Mich – als mitlerweilen diplomierten Statistiker konnte die Postmoderne ohnehin kaum schrecken, hatte ich mir schließlich ein Fach gesucht, das sich mit dem Problem der Erkenntnisgewinnung und -überprüfung aus zufallsbehafteten Daten oder noch besser: aus unvollständigen Modellen beschäftigte.

“Naturwissenschaftler scheinen – dies sei hier einmal unterstellt – nicht allzu oft darüber nachudenken, was eigenlicht das Wesen ihrer Tötigkeit ausmacht, welcher Sinn darin zu sehen ist … kurz, welchen Platz ihre Disziplin in unserer Kultur einnimmt.” Michael Groß: Naturwissenschaftler gegen Wissenschaftstheoretiker: ein Krieg zwischen den Kulturen? (Spekturm 9 1997)

Manche Kollegen traf die Kritik offenbar sehr hart, und zwar, weil sie im Kern auf einen eigentümlichen Aspekt vieler Projekte der Humanbiologie zielte: dass sie nämlich aus den vorgeblich wissenschaftlichen Hypothesen ethische Normen ableiteten. Gerade die Soziobiologie, die das Verhalten des Menschen unter seinen Artgenossen unter biologischen Aspekten untersucht, ist extrem anfällig dafür, ihre Reduktionismen (“Gruppe”, “Sippe”, “Volk”, “Kultur” etc.) als wirkliche Gegenstände zu verabsolutieren. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf die Probleme postmoderner Anthropologie und Ethnologie eingehen. Etwas anderes musste ich nämlich am eigenen Leib lernen: diese Normen waren nicht zu kritisieren, wie ich mir sagen lassen musste, da sie ja mit wissenschaftlicher Methode abgeleitet wurden. Damit das etwas klarer wird: es handelte sich um ein Moral-Gerüst, das man im weiteren Sinne als darwinistisch bezeichnen könnte. Darwinismus – das sei hier betont – ist nicht die Evolutionslehre, sondern eine daraus abgeleitete Sozialethik. Diese bewertet das Verhalten moralisch gut oder schlecht, inwieweit es Menschen hilft, einzeln oder als eng verwandte Sippe, ihre Gene an eine möglichst zahlreiche, nächste Generation weiterzugeben; zu Ende gedacht ist hier die “grausame Königin Natur” in ihrem Reich – deutlicher muss ich wohl nicht werden; für mich war damals jedenfalls Schluss mit der Biologie.

Es gibt aus dieser Argumentation keinen Ausweg, wenn man in der positivistischen Logik der Biologie verharrt; das ist es, was man seit dem zweiten Weltkrieg allgemein die “Dialektik der Aufklärung” nennt. Es gibt aber eine Chance, mit aufgeklärtem Denken nicht in die Barbarei zu rutschen, nämlich einen Schritt hinaus zu machen.


Euklids Elemente. Indem man einzelne der scheinbar für unsere Anschauung evidenten Axiome verändert, gelangt man nicht zu Widersprüchen, sondern zu neuen Welten: der nichteuklidischen Geometrie.

Meta bedeutet hinter, jenseits, und Metaphysik ist seit der Antike der andere Raum des Denkens, inden wir zurücktreten können, um auf die Physis, die Natur zu blicken und darüber nachzudenken, was nach der Betrachtung der Natur daraus folgt.

Stichweh: ‘Wenn ich Wissenschaft von außen betratet mit Kunst oder Religion vergleiche, dann unterscheidet sie sich dadurch, dass sie für ihre Aussagen Wahrheit beansprucht. […] Niklas Luhmann hat gesagt, Wahrheiten sind Erschöpfungszustände der Wissenschaft.’
Aus Die Wahrheit in der Wissenschaft. Interview mit Jörgen Ehlers und Rudolf Stichweh. Spekturm 7 2001

Metaphysik, das habe ich gestern wieder erfahren, steht nicht hoch im Kurs. Die Frage nach der Bedeutung, nach dem Wesen der zutage geförderten wissenschaftlichen Erkenntnis kann aber nicht im System selbst beantwortet werden. Ob das Restrisiko der zivilen Nutzung von Atomkraft, das von ihren Befürwortern für alle Menschen eingegangen wird (ob die wollen oder nicht), ob Gentechnik voranzutreiben ist, ob der Klimawandel ein notwendiges Übel unserer Zivilisation oder ein Verbrechen ist – das alles sind keine wissenschaftlichen Fragen. Gerne wurde in der Vergangenheit von Politikern jede Skepsis an der Forschung abgewiegelt. “Diskutieren ohne Scheuklappen” war das Mantra des sogenannten Ethikrates, im Klartext: lasst uns bloß mit eurer Moral in Ruhe!

“Die Beschränkung auf herausgeschnittene, scharf isolierte Gegenstände […], die aus dem Bedürfnis nach Exaktheit laboratoriumsähnliche Bedingungen zu schaffen trachtet – verwehrt nicht bloß temporär, sondern prinzipiell die Behandlung der Totalität der Gessellschaft. Das bring mit sich, dass die Aussagen der empirischen Sozialforschung häufig den Charakter des Unergibigen, Peripheren […] tragen. Unverkennbar ist die Gefahr einer Stoffhuberei […] Durchs Bestreben, sich an hieb- und stichfeste Daten zu halten und jede Frage nach dem Wesen als Metaphysik zu diskreditieren, droht der empirischen Sozialforschung die Beschränkung aufs Unwesentliche im Namen unbezweifelbarer Richtigkeit. Oft genug werden ihr die Gegenstände durch die verfügbaren Methoden vorgeschrieben, … ” twa 9.2 S. 356

Die Spekulation ist das zweite metaphysisches Feld, dass meiner Ansicht nach fest mit den Wissenschaften verbunden ist. Spekulation bedeutet, sich nicht gleich von der normativen Kraft des angeblich Faktischen festnageln zu lassen. Durch Spekulation “schauen wir in einen Spiegel und sehen rätselhafte Umrisse”. Nur wenn es gelingt, sich aus der unmittelbaren Erfahrung, den schon eingesammelten Daten, zu erheben und davon abgehoben nachzudenken, kann es zu Paradigmenwechseln kommen.

“Kein Unterschied soll sein zwisschen dem Totemtier, den Träumen des Geistersehers und der absoluten Idee. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.” twa (dda)

Indem wir in den Naturwissenschaften eine Theoriediskussion ablehnen, wenn sie außerhalb der Wissenschaft selbst steht, wird aber Wissenschaft zur Dogmatik. Ich will ja gar nicht so weit gehen, wie Adorno seinerzeit, und der Wissenschaft vorwerfen, sie sei in Wahrheit der Mythos im neuen Gewand. Indem Metaphysik, Spekulation, durch Glauben begründete Ethik mit Esoterik und Götzenglaube verächtlich auf eine Stufe der Irrationalität den Wissenschaften gegenübergesetzt werden, vergibt die Wissenschaft sich die Chance zur Reflektion über sich selbst, zur kritischen Distanz.
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Allerdings tut sich einiges im Bezug auf die beiden Kulturen. Auf Plattformen wie Wikipedia treffen Vertreter beider Lager häufig zusammen und müssen einen Konsens führen, wenn es nicht zum endlosen Edit-War kommen soll. Die Argumente liegen nachvollziehbar auf der Diskussionsseite dokumentiert. Es gibt eine ansehnliche Zahl bloggender Natur- und Geisteswissenschaftler. In den Kommentaren können die Positionen in einer Weise transparent verhandelt werden, wie es in der Vergangenheit nie möglich war. Meinungen, die man nicht teilt, kann man hier kritisieren, kann beitragen und über Links Querverbindungen herstellen. Diese Partizipation an wissenschaftlicher Publizistik war früher ausschließlich den Peer-Reviews vorbehalten.

Das gute an dieser Öffentlichkeit: unverständliche und arkane Terminologie hat schlechte Chancen, die Diskussion zu überstehen; schlechte Zeiten, sich einzuigeln und sein Süppchen vor sich hin zu kochen. Ein offenes System, das schon allein durch die Art der Veröffentlichung – für jedermann zugänglich – einlädt, mitzumachen. Ich glaube, dass sich vielleicht so die “dritte Kultur” entwickeln wird, wie es Snow 1959 gehofft hatte.


Die Quadratur des Kreises: tritt man einen Schritt heraus, aus dem flachen Ring der Brüche, in den erhabenen Körper der Reellen Zahlen (was für eine Metapher!), so ist der Umfang schnell zum Radius ins Verhältnis gesetzt.