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Schmerzlich vermisst: die Meta-Ebene im Wulff-Interview

Nein, ich möchte nicht über Christian Wulff und das Amt des Bundespräsidenten sprechen. Seit die ersten Zitate durchsickerten, noch vor Ausstrahlung des Interviews und unabhängig von der Rücktrittsfrage, wurde eines klar: Ab jetzt repräsentiert dieser Bundespräsident und die Auffassung von Politik, die er vertritt, einen Großteil seiner Bürger nicht mehr. Unsere Bundesrepublik ist alt geworden, ohne zu reifen, leider, und sie merkt es nicht. Das ist enttäuschend, aber wir werden damit leben. Wir sollten den Bundespräsidenten Wulff innerlich abhaken und unsere Energien konstruktiver nutzen, meine Meinung hierzu passt in einen Tweet.

Worüber ich aber sprechen will, denn das möchte ich noch nicht kampflos aufgeben, ist die Aufgabe der Journalisten. Da haben die Leiter der öffentlich-rechtlichen Hauptstadtstudios Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf diesen Bundespräsidenten vor sich, Abermillionen von Bürgern hängen an ihren Lippen. Sie müssen als Interviewer stellvertretend für diese vielen Menschen und für alle nicht zum Exklusivinterview geladen restlichen Medienvetreter die offenen Fragen stellen, als mediale Repräsentanten sozusagen.

Und was tun sie? Sie lassen sich auf ein unwürdiges Detail-Klein-Klein um Gästezimmer und Zinssätze ein. Sie stellen ihre vorbereiteten Fragen, aber fragen nicht nach, wenn windschiefe Antworten kommen. Sie halten die Steigbügel, anstatt zu hinterfragen. Die Ratlosigkeit darüber, wie es dazu kommen konnte, war sowohl Deppendorf als auch Schausten in ihren anschließenden Auftritten bei Tagenthemen und heute journal anzumerken. Sie sind zu recht unzufrieden mit sich, Frau Schausten und Herr Deppendorf.

Was ist bei dem Interview falsch gelaufen? Im so geführten präsidialen Interview ging es um Details der Spielzüge – es hätte aber um die Frage gehen sollen, ob überhaupt das richtige Spiel gespielt wird. Es geht nicht um vergessene Stiefschwestern, eine schwierige Kindheit, unordentliche Zinsen oder150 € für Gästezimmer. Sondern es geht um die Frage, auf welche Haltung diese Details schließen lassen und auf welches Verständnis von sich selbst, seiner Macht, seinem Amt – und ob das angemessen ist. Wem es als Journalist bei einem solchen Interview nicht gelingt, von den Details auf das Ganze zu schließen, wer es da nicht auf eine Metaebene schafft, wer hier nicht die Systemfrage stellen kann, leistet keine gute Arbeit.

Der Präsident hat sich “sofort nach seiner Rückkehr aus dem Ausland” bei Diekmann entschuldigt: Was heißt “sofort”? Wieviel Tage lagen zwischen der Mailbox und der Entschuldigung? Zwei Tage? Drei? Warum nicht gleich, wenn man den Wutausbruch bereut? Wann hat er Döpfner angerufen, danach? Und Friede Springer, auch danach noch? Kann man das den Präsidenten ohne Nachfrage “unbesonnen” nennen lassen? Oder weist es nicht eher auf eine generelle Haltung hin, auf eine Grundannahme, dass ihm das zusteht?

“Ich bin überrascht, wie stark die Bürger das von mir wissen wollen” – Was meint er damit? Hat er gedacht, dass es Bürgern und Landtag reicht,  juristisch wasserdichte Formulierungen zu hören? Was überrascht ihn daran?

“Es gibt auch Menschenrechte, selbst für Bundespräsidenten”: Wie bitte? Von welchen Menschenrechten spricht er? Hat er das Gefühl, dass bei ihm Menschenrechte verletzt werden? Welche genau? Durch was? Durch Pressefragen?

Man kann solch ein Interview nicht führen, ohne auch spontan auf Aussagen des Interviewten einzugehen. Es reicht nicht, vorüberlegte Fragen abzuarbeiten und mit nichts auf seine Antworten Bezug zu nehmen. Diskursivität, wir sprechen im Manifest davon -, das wäre hier nötig gewesen, damit es zu einem richtigen Interview kommt. Zu einer gesprächsartigen Situation, Zuhören und Nachfragen. Dann wäre es vielleicht nicht nur bei Floskeln und Formeln geblieben, die einen ratlos hinterlassen. Diese Art der Interview-Führung ist kein Ruhmesblatt für den Journalismus. Auch sie ist alt, ohne weise zu sein.

 

[Abbildung: Screenshot des Interviews. Blicke auf vorbereiteten Fragekatalog]

 

 

 

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Datenhöflichkeit

Hinrichtung Ludwigs XVI
Der Hof Ludwigs XVI. gilt als Extase der Höflichkeit. Esprit, der Witz und das höfische Auftreten waren in nie wieder erreichtem Maße übertrieben worden. Das Ende: der Terror – die unhöflichste aller möglichen Formen menschlichen Zusammenlebens

“Privacy invasion is now one of our biggest knowledge industries.”
“The more the data banks record about us, the less we exist.”

Marshall McLuhan

“Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.”
Immanuel Kant

“Being socially exposed is OK when you hold a lot of privilege, when people cannot hold meaningful power over you, or when you can route around such efforts. Such is the life of most of the tech geeks living in Silicon Valley. But I spend all of my time with teenagers, one of the most vulnerable populations because of their lack of agency (let alone rights). […] The odd thing about forced exposure is that it creates a scenario where everyone is a potential celebrity, forced into approaching every public interaction with the imagined costs of all future interpretations of that ephemeral situation. “

Diese Sorge teile ich voll und ganz mit danah boyd. Üblicher Weise wird den Kindern und Jugendlichen geraten, sich “vor den Gefahren des Internet” in Acht zu nehmen. Aber was heißt das? Sollen sie sich vom Austausch mit anderen auf Facebook fernhalten? Und wie sollte ein Jugendlicher seinen Altersgenossen oder Freunden verbieten, Fotos zu posten, auf denen er vielleicht zu sehen wäre? (Die Option, ungewollte Fotos über die Eltern “klären zu lassen” besteht im wahren Leben nicht wirklich – von krassen Verunglimpfungen oder Mobbing vielleicht abgesehen).

Wir haben keine Wahl. Entweder wir gelten als Sonderlinge, gar als Ludditen, oder wir werden einen breite Spur von Daten in der Welt zurücklassen. Mit der Zeit entsteht durch unser Verhalten im Netz ein Abbild unserer selbst, eine Projektion in die Datenwelt. Dieses Bild von uns liegt mehr oder weniger offen zu Tage. Und viele heimliche bis unheimliche Gesellen blicken uns im geheimen durch den Spiegel der Daten in unser Leben – Google, Facebook, Targetingsysteme und Shop-Empfehlungsmaschinen und schließlich auch die staatlichen Sicherheitsdienste, die hinter den Datengardinen auf unsere Verfehlungen lauern.

Aber die Indiskretion ist nicht auf professionelle Datenkraken beschränkt. Die Profile mit unseren persönlichen Informationen, unsere Posts, unsere Check-Ins – alles kann sich jeder, der möchte, ansehen. Und zum Teil wollen wir das ja auch: selbstverständlich freue ich mich über Leute, die mir auf Twitter folgen und ich habe einige meiner besten Freunde in Social Networks kennengelernt. Social Media funktionieren über Authentizität – diese Phrase ist schon so oft gesagt und geschrieben worden, dass sie vollkommen schal daherkommt! Aber es stimmt: wenn wir nicht offen sind, tatsächlich über uns selbst sprechen, werden wir kaum Kontakt zu anderen schließen. Es ist Teil der Kultur in Social Media (wie auch sonst im sozialen Leben), Dinge über uns preiszugeben, obwohl diese von anderen auch gegen uns verwendet werden könnten. Ich habe zum Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr an mindestens fünf Tagen über Wein (seltener Bier oder andere alkoholische Getränke) geschrieben. Natürlich möchte ich, dass Leute, die sich für mich interessieren, dies auch lesen können, wenn sie wollen. Wie wäre es aber, wenn jemand einen “Jörg trinkt”-Bot einrichten würde, der eine Statistik über meine Wein-Tweets führt uns publik macht? Aus dem Kontext gerissen würden meine Wein-Tweets ein ganz und gar ungünstiges Bild von mir zeichnen. (Das Beispiel verdanke ich Benedikt).

Nach meiner persönlichen Erfahrung ist der Schaden, sind die Kränkungen, die durch “manuellen” Datenzugriff an uns entstehen wesentlich schwerwiegender, als das professionelle Analysieren der Daten-Kraken zu kommerziellen Zwecken. Und während bei diesen sich Datenschutz und Persönlichkeitsrechte juristisch fassen und häufig, z.B. via ‘Unlauterer Wettbewerb’ sogar durchsetzen lassen, sind Übergriffe auf Daten durch Einzelne kaum sinnvoll durch Gesetze zu regeln. Wo fängt der Stalker an, wo die Beleidigung oder üble Nachrede? Und schon gar nicht gut ist es, wenn das Opfer sich wehren muss – der ‘Streisand-Effekt’, Hohn und Spott über jemand der eben ‘die Regeln nicht versteht’ und so dumm ist, sich auch noch zu widersetzen.

“Es haben ja eh schon xyz viele Leute gesehen, also mache ich es mal ganz öffentlich ist nunja, ein blödes Argument.”

twittert Sylvia Poßenau und das klingt fast wie die Übersetzung des Kernsatzes aus danah boyds Essay:

“Just because people can profile, stereotype, and label people doesn’t mean that they should.”

Aber was soll/darf “man” mit den Daten? Wo ist die Grenze?
Die Antwort liefert Sylvia Poßenau gleich mit: Datenhöflichkeit.

Höflichkeit ist eine kulturelle Technik, um Distanz zu wahren. Wir sind höflich, um unseren Abstand zu anderen zu organisieren und ihnen nicht zu nahe zu kommen.Höflich ist man durch Einhalten von Grenzen, die nicht durch Gesetze oder anders verschriftlichte Regeln definiert sind, sondern durch ein Verständnis, durch Achtung und Respekt dem anderen gegenüber. Höflichkeit ist der Esprit de Conduite, der gute Geist des Verhaltens. Was in Antike und Mittelalter als religiöse oder untertänige Pflicht erklärt wurde, erlebt in der Aufklärung seine philosophische Entfaltung. War dieser Esprit am Hofe Ludwigs XIV. noch Teil der Machtausübung des erstarkenden Königs gegen die schwächer werdenden Fürsten, wird er nach der französischen Revolution zu einem bürgerlichen Gut. Und die Maximen zum guten Handeln, die Kant für die Menschenwürde formuliert, werden schließlich von Adolph von Knigge in seinem Ratgeber “Über den Umgang mit Menschen” zu Handlungsempfehlungen für den Alltag.

Noch vor der Erfindung des Web hatte die Community der ersten User im Internet die Netiquette formuliert. “When someone makes a mistake – whether it’s a spelling error or a spelling flame, a stupid question or an unnecessarily long answer – be kind about it.” – Höflichkeit ist schon damals, neben den Ratschlägen zur technischen Klarheit – das Thema gewesen.

“Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen in einem vollkommen vertraulichen Tone verkehren. Um angenehm zu leben, muss man fast immer als ein Fremder unter den Leuten erscheinen.” warnt Knigge. Und auch sonst scheinen mir die Kultur der Höflichkeit des 19. Jahrhunderts für unsere Epoche der Post-Privacy durchaus angemessen. Höflichkeit ist Kultur. Kultiviert bedeutet gepflegt. Es ist wirklich Zeit für einen pfleglichen Umgang mit unseren Daten, die doch so eng mit uns persönlich zusammenhängen. Zeit für Datenhöflichkeit.

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SPEAK WITH US, NOT FOR US.

Direkte Demokratie: präsentieren statt repräsentiert werden.

Über den Niedergang der Volksparteien ist viel gesagt worden, ähnlich wie über das Ende der Massenmedien. Wir hören allerorten von Atomisierung der Gesellschaft, vom Werteverfall, und natürlich von Politikverdrossenheit. Gleichzeitig erheben sich auf der ganzen Erde Menschen, versammeln sich, protestieren gegen Unfreiheit, Ausbeutung und vor allem mangelnde Teilhabe. #arabspring, #spanishrevolution oder #occupywallstreet sind die prominentesten Vertreter dieser Bewegung. Aber auch die erstaunlich lebhafte Beteiligung der deutschen Wähler an immer zahlreicheren Petitionen an den Bundestag und das explosionsartige Wachstum der Piratenpartei sprechen weniger für ein Ende der Politik, als dafür, dass sich vielleicht an der politischen Form etwas geändert hat.

Marina Weisband: To do: Der Presse deutlicher erklären, dass wir eine BASISDEMOKRATISCHE Partei sind und nur den Vorstand zu befragen uns nicht gerecht wird.
Antwort von Christan Soeder: @Afelia Die größere Bedeutung des Vorstandes zu leugnen ist jedenfalls albern.

Der kleine Twitter-Dialog zwischen der politischen Geschäftsführerin der Piratenpartei, Marina Weisband, und dem SPD-Blogger Christan Soeder ist eine wunderschöne Verdichtung, worum es meiner Ansicht nach geht: Präsentation statt Re-Präsentation.

“Sprecht mit uns, nicht für uns.” ist der zentrale Satz aus der Autonomie-Erklärung von OccupyWallStreet. Dieser Satz ist für mich das eigentlich revolutionäre der Occupy-Bewegung. Für jemanden zu sprechen, Interessen vertreten, ein Mandat übernehmen – so stellen wir uns eine Demokratie vor. In mehr als 2000 Jahren, seit den Anfängen der griechischen Demokratie und römischen Republik haben wir gelernt, dass wir unsere Interessen delegieren müssen, weil Demokratie eben so funktioniert. Und tatsächlich gibt es, abgesehen von ein paar Schweizer Kantonen vielleicht, kaum Beispiele für direkte Demokratie, die man als Erfolg bezeichnen möchte. Ist die Ideologie der repräsentativen Demokratie also alternativlos? Für Repräsentation, “Volksvertretung”, sprechen eine Reihe von Gründen – von “es kann ja nicht jeder zu allem Experte sein” bis zu “es können ja nicht immer alle mitreden” – die ich hier gar nicht diskutieren möchte. Es geht mir auch gar nicht um eine Kritik der repräsentativen Demokratie, sondern um eine alternative Hypothese dazu.

Alles fließt, oder: ‘Permanent Beta’

Ein Weg zu einer nicht-repräsentativen Demokratie wurde von Habermas und anderen im Konzept der Deliberation beschrieben. Politischer Wille wird in Diskursen direkt zwischen den Menschen ausgehandelt und in geeigneter Weise verbindlich an die politischen Akteure (z.B. Berufspolitiker) im Zentrum der Gesellschaft kommuniziert. Die Kritik an diesem, im Ideal vollkommen liberalen Willensbildungsprozess ist leider nicht von der Hand zu weisen: Menschen, die sich schlecht arktikulieren können oder die fürchten müssen, dass sie im Gespräch “überredet” oder sogar “niedergebrüllt” werden, fangen erst gar nicht an, sich daran zu beteiligen. Jeder, der schon einmal Opfer einer Löschdiskussion auf Wikipedia wurde, weiß, wie sich das anfühlt. Und dennoch steht doch gerade Wikipedia ganz ohne Zweifel für einen der großartigsten Erfolge von kollektivem Arbeiten im Netz. Es mutet auf den ersten Blick unglaublich an, was hier völlig ohne monetären Anreiz von abertausenden von Menschen gemeinsam erarbeitet wurde – und ständig wird an der Wikipedia weitergearbeitet und verbessert, und das, obwohl die Kommunikationskultur doch eher ruppig ist, um es noch freundlich zu sagen.

Eine Form deliberativer Demokratie ist die Liquid Democracy – sozusagen das Wikipedia-Prinzip direkt auf politische Willensbildung übertragen. Als Liquid Feedback findet dieses diskursive Konzept zur Zeit Anwendung bei der Piratenpartei. Auch an dieser Stelle möchte ich gar nicht auf die möglichen Schwächen dieses Entscheidungsprozess eingehen. Viele der diskutierten Kritikpunkte an Liquid Democracy in einer, juristisch immernoch “herkömmlichen” Partei machen aber schon deutlich, worum es mir eigentlich geht: viele Konflikte entstehen, da zwischen dem basisdemokratischen Ansatz der direkten Präsentation und Argumentation eigener Meinung jedes Einzelnen und der, in unserem politischen System vorgesehenen mittelbaren Repräsentation durch einen “Volksvertreter”, der irgendwie versucht, “Mehrheitsmeinungen” durchzusetzen.

“Möchte man mit einer Partei, deren Entscheidungen mittels Liquid Democracy in permanenter Interaktion zwischen Basis und Repräsentanten fallen, zusammenarbeiten oder gar eine Koalition eingehen? […] Die grundsätzliche Frage wäre aber, ob Koalitionen nicht eigentlich der Suche nach der besseren Lösung im Weg stehen. Die Ausrichtung an Sachfragen könnte uns so bemerkenswerte Vorgänge ersparen, wie die Ablehnung dessen, was man eigentlich fordert aber leider von den „Falschen” beantragt wurde.”
(“Liquid Democracy” auf wiki.piratenpartei.de)

Stetigkeit und Berechenbarkeit sind offenbar notweniger Teil von repräsentativen Systemen. Der Vertreter steht ja nur mittelbar für seine Mandanten. Damit sie erkennen, dass er auch wirklich ihre Politik vertritt, muss er in einigen, plakativen Punkten konstant und verlässlich handeln, während sein die Motive für die meisten seiner Entscheidungen seinen Wählern verschlossen bleiben müssen. Fraktionszwang und Koalitionstreue sind die bekannten Folgen – nicht unbedingt im Sinne unserer Verfassung, die schließlich das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten nur deren (eigenem) Gewissen verpflichtet sehen möchte.

Keine Macht für Niemand!

“Occupy Wall Street is leaderless resistance movement with people of many colors, genders and political persuasions.” (occupywallst.org)

Direkte Demokratie wird meist mit Plebiszit gleichgesetzt, also mit dem “zur Abstimmung geben” von anstehenden Entscheidungen an alle Wähler. Im Wesentlichen bleibt es aber dabei, dass die politische Arbeit von gewählten Repräsentanten erledigt wird. Deutlich weiter geht das delegative oder imperative Mandat, bei dem Wähler ihr Stimmrecht bindend an ein bestimmtes Abstimmungsverhalten einem Abgeordneten übertragen, der sie dann parlamentarisch vertritt. Imperative Mandate sind üblicher Weise an Beschlüsse von Versammlungen gebunden, d. h. ein Parteitag oder eine Bürgerversammlung beschließt mehrheitlich und der Abgeordnete muss diesen Beschluss im Parlament vertreten. Delegative Demokratie, sogenanntes Proxy Voting erlaubt es dagegen jedem Einzelnen, sein Stimmrecht an denjenigen abzugeben, der in der jeweiligen Abstimmung ihre Meinung vertritt. Alle drei Formen, Plebiszit, imperatives oder delegatives Mandat, gehen – genau wie das klassische “Gewissens-Mandat” im deutschen Wahlrecht davon aus, dass es Gruppen von Menschen gibt, die hinreichend homogen sind, als Menge zusammengefasst zu werden, die dann von ihrem Abgeordneten repräsentiert wird.

Aber muss das so bleiben? Über die Einschränkungen unserer Verfassung und des Parteiengesetzes hinaus sehe ich keinen prizipiellen oder theoretischen Grund, warum es nicht möglich sein sollte, jeden einzelnen selbst zu Wort kommen zu lassen. Warum soll Politik nur durch Einschließen funktionieren, nur dadurch, dass Menschen zusammengefasst werden? Eine vollständige Präsentation von jedermann für sich selbst trägt natürlich starke Züge des anarchischen Egoismus eines Max Stirner. Und Geimeinschaften, die sich auf solche, nicht-repräsentative Weise organisieren, wie z.B. eben Wikipedia, wirken auf mich auch genau, wie ich mir eine Stirner’sche Anarchie vorstelle. Und genau das gibt mir zu denken – ja, es ist ruppig und jeder, der nicht bei fünf auf dem Baum ist, wird von Trollen gefressen, aber trotzdem entsteht eine Gemeinschaftsarbeit, die alles, was ich an hierachisch-repräsentativ organisierten Projekten gesehen habe, weit in den Schatten stellt.
Der Unterschied von heute zu allein Zeiten davor ist, dass uns jetzt technische Plattformen zur Verfügung stehen, über die nahezu beliebig viele Menschen gleichzeitig an Politik beteiligt werden können.

Eine logische Folge eines solchen, nicht-repräsentativen Systems ist, auch staatliche Transferzahlungen, Subventionen, Fördergelder etc. nicht mehr Top-Down zu verteilen, sondern jedem Menschen gleichen Zugang zu ermöglichen, wie ich im letzten Post beschrieben hatte. Es ist daher Konsequent, wenn die Piratenpartei das bedingungslose Grundeinkommen als Ziel in ihr Programm nimmt.

Die globale Krise der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Ordnung macht es wert, darüber nachzudenken, ein neues Kapitel der Aufklärung aufzuschlagen und Menschen wirklich konsequent als autonome Wesen zu würdigen, die sich vielleicht besser um sich selbst kümmern können, als wohlmeinende Vertreter, die letztlich über sie bestimmen.

Today, we proudly remain in Liberty Square constituting ourselves as autonomous political beings engaged in non-violent civil disobedience and building solidarity based on mutual respect, acceptance, and love.
nycga.net

Bemerkung
Eine nicht-repräsentative Demokratie kann aus den oben geschriebenen, dürren Sätzen natürlich nicht begründet werden. Ich bin aber überzeugt, dass sich das Thema noch weiter entfalten lässt und dass es sich lohnen wird, daran weiter zu arbeiten. (Will heißen, dass dies hoffentlich nicht der letzte Post zum Thema sein wird …)

Literatur
von Alain Badiou:
“Die kommunistische Hypothese”
“Ist Politik denkbar?”
“Politik der Wahrheit”
“Das Sein und das Ereignis”

dann:
Friedrich Engels, “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats”
Max Stirner, “Der Einzige und sein Eigentum”

Weiterlesen
Urheberrecht, Kulturproduktion, Grundeinkommen

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Urheberrecht, Kulturproduktion, Grundeinkommen

“Sinn und Zweck des Urheberrechts ist die Sicherstellung von ökonomischen und ideellen Anreizen zur kreativen Arbeit.” Dieser Satz aus dem Antrag “Für ein modernes Urheberrecht” auf dem Bundesparteitag der Piratenpartei beschreibt in der Tat den ursprünglichen Gedanken, in dem das erste Copyright 1709 mit der Statute of Anne in England Gesetz wurde:

“An Act for the Encouragement of Learning, by vesting the Copies of Printed Books in the Authors or purchasers of such Copies, during the Times therein mentioned“

.

Über die Folgen, die der Zerfall der Urheberrechts-Verwertung auf Kreativität und Kulturproduktion hat, habe ich schon ein paar mal geblogt (“Non Commodity Production” oder “Virtueller Rundfunk“). Kunstproduktion funktioniert seit zweihundert Jahren in der spannungsreichen Symbiose von “Künstler-Unternehmern” einerseits und Verlagen/Galerien andererseits. Beiden Seiten garantiert das System ihr wirtschaftliches Auskommen – sofern es sich um professionelle Künstler handelt. Professionell ist dabei ein Zirkel-Begriff, da berufsmäßiges Künstlertum genau dadurch definiert wird, dass der Künstler einen Markt hat. Neben bzw. über dem Markt steht ein System der Kunstförderung mit staatlichen Mitteln. Dieses System funktioniert genau wie wir es auch von der Finanzierung von Wissenschaft kennen: Gremien verteilen die Gelder, die man über einen Ausschreibungsprozess für sein Projekt beantragt.

Ob Wissenschaft oder Kunst – ich habe in meinem Leben keine unproduktivere und unkreativere Arbeit gemacht, als Gelder über diesen Prozess öffentlicher Förderung zu beantragen. Für ein Projekt mit zwei Jahren Laufzeit kann man üblicher Weise von 12 bis zu 18 Monate intensiver Antragsarbeit veranschlagen. Dadurch werden diejenigen systematisch bevorzugt, die über eine Infrastruktur zur Bewältigung der anspruchsvollen juristischen und inhaltlichen Logistik des Antragsprozesses verfügen: Künstler bzw. Wissenschaftler, die vorher schon erfolgreich waren oder die an Universitäten und Akademien den wissenschaftlichen Mittelbau dafür ausbeutennützen können. (Auch darüber habe ich hier schonmal geschrieben.) Meist sind die Mittel noch an Kriterien gebunden, die politisch und nicht inhaltlich motiviert sind. Ein Beispiel sind die Staatsgemäldesammlungen, die mit ihrem Etat streng Künstler aus allen Regionen eines Bundeslandes gleichmäßig ankaufen müssen; ein zweites Beispiel sind Mittel der EU-Kommission, die nur genemigt werden, wenn Institute aus mindestens drei EU-Ländern sich beteiligen.

Aber der Hauptnachteil dieser subventionierten Künste und Wissenschaften ist: es gewinnt immer das Mittelmaß; Innovation, wirklich umwälzende Neuheit hat so gut wie keine Chance auf Förderung. So waren es so gut wie nie die verbeamteten Kuratoren der staatlichen Museen, die wirklich signifikante Sammlungen angelegt hatten – das sind so gut wie immer private Sammler.

***

Während das alte Verwertungssystem zerfällt, erhebt sich gleichzeitig etwas Neues: die Mittel zur Kreativ-Produktion und Veröffentlichung stehen mehr und mehr Menschen zu immer geringeren Kosten bereit. Gleichzeitig steht praktisch alles, was erzeugt wird und wurde, allen jederzeit zur Verfügung. Durch diese beiden parallelen Entwicklungen – ‘jeder ein Künstler’ und ‘alles schonmal dagewesen’ wird die Schöpfungshöhe relativiert, aus der sich im bisherigen Verständnis die Schutzfähigkeit von geistigen Leistungen ableitet. (Was daraus für die Kreativberufe folgt, steht z. B. hier). Kreative Arbeit wird von viel mehr Menschen geleistet, als je zuvor. Aber es sind nicht mehr notwendiger Weise die ‘großen Würfe’. Das heutige Finanzierungssystem ist nicht darauf ausgelegt.

Wie in vielen Bereichen, ist auch bei der Subventionierung von Wissenschaft und Kunst unser Staatswesen darauf gebaut, die Menschen zu repräsentieren, das heißt einzuschließen, zu umschließen, zu homogenisieren. Und selbst der sogenannte Minderheitenschutz und das Pluralitätsgebot gehen davon aus, dass man die Menschen innerhalb dieser Minderheiten bzw. Teilmengen der Gesellschaft zusammenfassen kann. ‘Wir wissen, was gut für euch ist’ – so funktioniert das repräsentative System. Es ist autoritär, selbst wenn die Repräsentaten gewählt werden. Vieles in unserer Gesellschaft funktioniert nach diesem Prinzip, ob es die vielbeschriebene “Gate-Keeper”-Funktion journalistischer Redaktionen ist, ob kommunale Ausschüsse für “Kunst im Öffentlichen Raum” oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG.

Netzkultur jedoch sperrt sich gegen das Repräsentiert-Werden. Das liegt daran, dass sich im Netz jeder selbst präsentieren kann. Ein auf Repräsentation fußendes Finanzierungsmodell wie die heutigen Subventionen ist damit genauso ungeeignet, wie der auf signifikante Schöpfungshöhe basierende Schutz geistiger Leistung.

***

Das Recht der Menschen auf Sozialhilfe leitet sich in Deutschland aus dem Artikel 1 des Grundgesetzes ab. Mit der Sozialhilfe muss die Gesellschaft allen Menschen im Land ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Es steht also nicht zur Diskussion, ob unsere Gesellschaft auch für die Menschen sorgt, die – warum auch immer – aus dem wirtschaftlichen Raster fallen. Aber Sozialhilfe wird – genau wie die Gelder für Wissenschaft und Kunst – auf Grundlage des repräsentativen Systems verteilt. Menschen müssen sich qualifizieren, müssen sich als geeignet erweisen, um die Hilfe zu erhalten – was im Kern schon gegen den Gedanken einer allgemeinen Sicherung der Würde verstößt. Nicht zuletzt aufgrund der entwürdigenden Schikanen, die bedürftigen Menschen durch Hartz-IV aufgezwungen werden, um zu überleben, und die daraus folgende Finanzierung eines Molochs an staatlichem Verwaltungs- und Überwachungsapparat, wird schon länger die Alternative eines bedingungslosen Grundeinkommen diskutiert: die Zahlung eines Grundbetrags von Geld an jedermann, unabhängig, ob sich der Empfänger dafür als geeignet bewiesen hat, oder nicht.

Ich möchte aber hier gar nicht auf die schwierige und hochgradig ideologisch aufgeladene Debatte des Für und Wider des bedingungslosen Grundeinkommen eingehen. Mir geht es um eine Nebenwirkung, die ein solches Angebot für unsere Gesellschaft haben könnte: das bedingungslose Grundeinkommen wäre gleichzeitig die Grundfinanzierung für kreative Innovation. Für fast alle Künstler, Wissenschaftler und auch für viele der Unternehmensgründer, die ich kenne, wäre eine Existenzsicherung durch ein bedigungsloses Grundeinkommen eine enorme Erleichterung, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Und auch das sogenannte Übergangsgeld, welches Arbeitnehmern gezahlt wird, die ein eigenes Geschäft aufbauen wollen, wäre nicht mehr daran gebunden, dass deren Arbeitsplatz erst wegfällt. Es geht mir also um eine Alternative zum System der Subventionen einerseits und einer grundsätlichen Sicherstellung der Existenz, die den Einzelnen in die Lage versetzt, selbständig zu arbeiten.

Die Umstellung der kreativen, kulturellen Produktion vom repräsentativen System von heute, auf ein System, dass es die Präsentation des Einzelnen fördert, muss neben der Grundfinanzierung der Menschen ein Zweites sicherstellen: diskriminierungsfreien Zugang zu den Produktionsmitteln – und das sind heute vor allem die Plattformen zur Publikation, die CDNs, die in Wahrheit ‘Netzneutralität’ bedeuten und schließlich zu den Suchmaschinen, die die Produkte erst für andere sichtbar machen. Dieser zweite Aspekt sollte mit dem ersten komplementär durchdacht werden.

Die Rede vom “Diskutieren ohne Scheuklappen” wird meist von Leuten eingesetzt, um Abscheulichkeiten und Grausamkeiten in die Runde zu werfen und so den Boden für einen Kompromis zu ihren Gunsten zu erreichen. Im Fall des bedingungslosen Grundeinkommen stehen wir erst am Anfang der Diskussion. Weiten Teilen der Gesellschaft scheint es vollkommen undenkbar, einfach Geld ohne Bedingungen zu verteilen. Ich bin aber überzeugt, dass ein bedinungslose Grundeinkommen genau die Form ist, staatliche Sicherheit und Förderung vom autoritären, umschließenden “Vater Staat” auf die Netzkultur zu transformieren, die doch so ganz und gar auf Ermächtigung es einzelnen Menschen ausgerichtet ist.

Nachsatz

Der Grundgedanke von der Repräsentation durch den Staat im Gegensatz zur Präsentation des Einzelnen findet sich an einigen Stellen bei Alain Badiou (u.a. in “Das Sein und das Ereignis”). Badiou überträgt die aus der Mengenlehre entlehnten Begriffe vom “Einschließen”, “Zugehören” auf seine Ontologie und findet interessante Anknüpfungspunkte zur Dialektik von Öffentlichkeit/Privatheit bzw. Ökonomie und Politik bei Aristoteles und Marx/Engels. Ich habe leider bisher niemand gefunden, der diese Gedanken auf eine “post-demokratische” Gesellschaft und Netzkultur überträgt. Auch Badiou entfaltet nicht explizit eine politische Theorie aus seinen Überlegungen, sondern verharrt – verständlicher Weise – im Gegensatz von Kapitalisus/Kommunismus seiner Zeit. Gerne möchte ich an diesem Punkt weitermachen. Falls als jemand passende Quellen kennt, wäre ich dankbar für einen Hinweis!

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Die digitale Kluft.

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Durch unsere Gesellschaft (falls wir überhaupt noch dieses Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert bedienen wollen) läuft eine tiefe Kluft. Mit der Digital Divide wird üblicherweise das Problem des “digitalen Analphabetismus” bezeichnet, also die Tatsache, dass ein Teil der (Welt-)Bevölkerung durch Armut oder Starrsinn vom Internet ausgeschlossen bleibt.

In Wahrheit aber, davon bin ich überzeugt, läuft die Bruchlinie der digitale Wasserscheide aber viel elementarer durch unsere ganze, sogenannte abendländische Kultur. Dieser reaktionären Begriff scheint mir ganz in dem negativen Sinne von Oswald Spengler angemessen, denn es geht um nichts weniger, als den kompletten Umbruch der Ordnung, die uns seit mindestens 200 Jahren als gegeben scheint. Warum schreibe ich so pathetisches Zeug? Weil es passt!

Vor fünfzehn Jahren hatte ich in der Wired einen launigen Artikel gelesen: Net-Heads vs. Bell-Heads. Bell-Heads leitet sich von der Bell Telephone Company ab, der ersten Telefongesellschaft der Welt und dem direkten Vorläufer von AT&T. Über hunder Jahre lang waren Bell-Heads die Architekten der globalen (Tele-)Kommunikation. Aus den Bell Labs in New Jersey gingen viele epochale Erfindungen des IT-Zeitalters hervor, nicht zuletzt der Transistor. Die Bell-Heads waren die Helden und Propheten der vernetzten Welt.

Das Ende des Bell-Zeitalters trägt inzwischen legendäre Züge: John Draper, wie er sich mit dem Ton einer Trillerpfeife aus einer Cornflakes-Packung 1972 das US Telefonsystem unterwerfen konnte. Als sich die dezentrale Netz-Logik von TCP/IP mehr und mehr durchsetzte, wurde den Vordenkern der Netzkultur klar: ein zentralistisch-bürokratisches System wie die Telefongesellschaft war dem verteilten Chaos des Internet langfristig unterlegen. Die Net-Heads, die Evangelisten der anti-hierarchischen Kommunikationsarchitektur wurden zu den Apokalyptikern, die das Ende der alten Telefonwelt kommen sahen.

***

Das Netz ohne feste Hierarchie mit rein lokaler Organisation ist das Sinnbild für ein neues Gesellschaftsmodell geworden. Das Maß an Freiheit von Zwang, Freiheit der Rede und die schier unbeschränkten Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung und Kreativität, deren Entwicklung wir seit den 90ern im Internet erleben konnten, hat uns gezeigt, wie wir auch leben könnten. Aus dem Kommunikations-Netz wurde eine Utopie. Aber die Wirklichkeit außerhalb des Netzes sah anders aus: 9/11 und “Krieg gegen den Terror”, Bankenkrise, Wirtschaftssklaverei, von unseren eigenen Grenzschützern ertränkte Flüchtlinge im Mittelmeer und das Leistungsschutzrecht – um nur einen Teil der politischen Litanei der letzten zehn Jahre herunterzubeten. Es ist also kein Wunder, dass uns das Netz manchmal geradezu messianische Züge annehmen mag, der Ort, an dem alles besser wird. Aber heute geht es mir gar nicht darum, diese – wie bei allen Utopien fragwürdigen Heilsversprechen der digitalen Welt zu dekonstruieren.

Auf einmal herrscht Unruhe in der Welt. Menschen erheben sich und gehen auf die Straße. Aber es sind keine Ideologien, keine Parteiprogramme oder Gewerkschaftsreden, die die Menschen in Aufruhr versetzen. Der Anlass zum Aufstand ist auch nicht immer derselbe. Vom Maghreb über Spanien in die USA sind es durchaus ganz unterschiedliche Zwänge, gegen die die Menschen sich erheben.

Was aber die Demonstranten zwischen Tahrir-Platz und Wallstreet eint, ist der Wunsch nach Selbstbestimmtheit und Selbstorganisation. Und das Vorbild ist die Kultur im Netz.

Thierry Lhote twitterte unlängst: “like in may 68 in France a whole generation is learning meme manufacturing for their next Media VP job #occupywallstreet”; und was sich auf den ersten Blick zynisch lesen mag, ist bei längerem Nachdenken eine interessante Beobachtung. Wie vor fünfzig Jahren ist eine Generation herangewachsen, deren Werte mit der “alten Welt” nicht mehr in Konsens zu bringen sind. Dabei läuft der Bruch quer durch die alten Lager. Rechte, Linke, Grüne – in allen Gruppen dominiert eine Generation von Menschen, die emotional und intellektuell der Netzkultur fremd bleibt, selbst wenn sie sich nicht offen feindselig stellen. Und wenn sich die Net-Heads versuchen, in die alten Strukturen einzubringen, so funktioniert das nur so lange, wie man eben nichts ändert, und das Alte bedingungslos akzeptiert, wie die Twitter-Zensur bei den Grünen unlängst auf fast tragisch-komische Weise vorgeführt hat.

Oft wird der Aufstieg der Piratenpartei mit den Grünen in den späten 70ern verglichen. Und vieles an diesem Vergleich passt. Manche Feinde von damals sind dieselben geblieben: Atomkraft oder monopolistische Konzerne. Manches hat geradezu frappante Parallelen. Was die Notstandsgesetze für unsere Eltern bedeuten, sind uns heute der Bundestrojaner, IMSI-Catcher, Rettungsfonds und FRONTEX. Das Mem #0zapftis – Top-Thema der Frankfurter Allgemeinen von heute – ist die Spiegel-Affäre unserer Generation.

Damals, als wg. Sachen wie #Bundestrojaner noch Bürger auf die Straßen gegangen wären.

mag der @videopunk bedauern – aber ich bin überzeugt, dass genau das gerade geschieht.

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Den Stecker ziehen?

Oft angesprochen auf die Macht der Computer sagte Konrad Zuse: Wenn die Computer zu mächtig werden, dann zieht den Stecker aus der Steckdose.
Horst Zuse

Die sächsische Polizei hat im Februar die Daten der Mobiltelefonverbindungen von mehreren tausend Personen gespeichert und ausgewertet. Darunter waren nicht nur Menschen, die von ihrer verfassungsmäßigen Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gebraucht gemacht hatten, sondern auch zahllose Anwohner und andere zufällige Passanten.

Zum Glück ist der – nach meiner Meinung ins kriminelle verzerrte, exzessive – Missbrauch durch die sächsischen Behörden bekannt geworden und es beginnt die politische und juristische Nachbearbeitung.

Wirklich bemerkenswert finde ich allerdings, wie uns an diesem Beispiel vor Augen geführt wird, wie wenig Möglichkeiten uns bleiben, die Wirkung der digitalen Kommunikation auf unser Leben zu steuern oder wenigstens zu überblicken. Man mag wie Konrad Zuse ausrufen: “Dann zieht doch einfach den Stecker”, oder wie die Ludditen zum Maschinensturm aufrufen. Dabei wird allerdings die Dialektik des “Stecker Ziehens” deutlich. Die Ludditen, die uns ein Leben ohne Technologie vorschwärmen irren genauso wie die Apologeten der Technologie, die uns, mit Konrad Zuses Worten, zum Trost und zur Beruhigung eine sichere Alternative empfehlen, in der wir ja nur die Stecker aus den Dosen zu ziehen müssten – dass also die Technik stets unter unserer Kontrolle bliebe.

Beide irren – und interessanter Weise mit dem selben Argument. In Wahrheit lautet die Alternative schon längst nicht mehr “Stecker-Raus”. Selbst wenn wir uns verweigern, und kein Mobiltelefon nutzten – was weniger als 2% der Bevölkerung über 14 Jahre tun – die Kabel, über die unsere Person in zahllose Datenbanken sich vernetzt hat, lassen sich nicht einfach “aus der Dose” ziehen. Einwohnermeldestatistik, Toll Collect, Girokonto, Versicherungen, Browser-Cookies etc. etc. lassen sich entweder gar nicht, oder nur unter großen Einschränkgungen umgehen. In weiten Bereichen ist unsere Gesellschaft zwangsdigitalisiert.

Wir dürfen uns nicht vormachen lassen, dass wir so mir-nichts-dir-nichts in eine unvernetzte Gesellschaft zurückkehren können. Um so wichtiger, dass wir nach vorne schauen, dass wir dafür sorgen, diese vernetzte Welt so zu gestalten, dass wir so viel wie möglich Kontrolle darüber behalten.

Neben der Wachsamkeit gegenüber staatlicher Datensammelei ist insbesondere Vorsicht gegenüber transnationalen Konglomeraten von Wirtschaftsunternehmen geboten, die einen Großteil unserer Kommunikationsinfrastrutkur beherrschen. All die großartigen und überaus bequemen Angebote – Social Networks, Location Based Services, Mobile Apps, Search Engines, Smartphones und so weiter – sind eben nur scheinbar kostenlos. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist, diesen Unternehmen Einlass ins innerste unseres Lebens zu gewähren.

Ich bin überzeugt, dass wir aber nicht jeden Preis zu zahlen brauchen. Ich bin überzeugt, dass wir uns sehr wohl einiges an Kontrolle zurückholen können. “Empört euch!“, sollten wir rufen. Und es ist wohl bald an der Zeit, sich auf den digitalen Tahrir-Plätzen zu versammeln, um unseren Staatsverwaltungen wie auch den Unternehmen klar zu machen: wir wollen den Stecker gar nicht ziehen – aber uns gehört das Netz! Lasst uns endlich die Kontrolle darüber gewinnen!

Weiterlesen:
Das Menschenrecht aufs Internet
Die Illusion vom freien Internet
Virtueller Rundfunk
Ohne Google

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Disrupt Politics!

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“Wenn wir, vom Hungern matt, im Regen lagen
Und sich vor Müdigkeit die Augen schlossen,
Da ist an der Sierra-Front, im Regen,
Gar manche bittre Träne mitgeflossen.”
Jef Last

“Er sagte, es krache im Oberbau, und es krache im Unterbau. Da müsse sich sogleich alles verändern.”
(Bloch über Benjamin)

Gemeinschaften bestehen, indem die Mitglieder Aufgaben in der Gemeinschaft übernehmen, Pflichten erfüllen und an den gemeinschaftlich erlangten Erfolgen teilhaben. In einer Staatsgesellschaft delegieren Bürger Teile ihrer Aufgaben und Pflichten an die Staatsverwaltung. Über die letzten zweihundert Jahre haben die Bürger der sogenannten westlichen Welt mehr und mehr ihrer zum Teil ureigensten Verantwortungen an den Staat abgegeben – Kranken- und Altenpflege, Geburt und Sterben, Alterssicherung, Kindeserziehung und vieles mehr.

Wie diese delegierten Aufgaben zu erfüllen sind, wird über den repräsentativen Willensbildungsprozess der parlamentarischen Demokratie bestimmt. Mandatsträger werden für eine mehrjährige Zeitspanne beauftragt, sich darum zu kümmern. Dass all diese Aufgaben erfüllt werden können, müssen Fachkräfte bezahlt und mit Arbeitsmitteln ausgestattet werden. Und damit diese Fachkräfte wiederum wenigstens so in etwa mit ihren Mitteln das tun, was die Gesellschaft in ihrer Willensbildung vorgesehen hat, braucht es eine Verwaltung darüber.
***

Immer wieder wird Facebook mit einer Nation verglichen, die dann von ihrer Einwohnerzahl her – nach China und Indien – an dritter Stelle in der Welt stünde. Was macht Social Networks (und allen voran Facebook) so staats-artig?

Menschen schließen sich in den Systemen der Social Networks zu Gemeinschaften zusammen, teilen sich mit und tauschen sich aus. Meist ist der Austausch eher persönlich; auch wenn sich tausende arabische Frauen auf der Facebook Page des Persil Abaya Shapoo unter dem Dach ihres Lieblingswaschmittels zusammen finden, geht es hier doch zunächst um die kleinen Dinge des Alltags.

Aber nicht immer bleibt es beim Kleinen, Privaten. Ob Stuttgart 21, Agypten, Tunesien, Lybien oder Spanien – in den letzten Monaten finden sich große Gruppen von Menschen zusammen, zunächst, um sich auszutauschen, dann, sich einen gemeinsamen Willen zu bilden – das gemeinsame Bewusstsein, einen Zustand nicht mehr akzeptieren zu wollen, schließlich sich zu organisieren und gemeinsam zu protestieren. Und da es über die Networks stets transparent ist, wie weit sich andere der Bewegung anschließen, können sich die Protestierenden sicher sein, nicht plötzlich alleine im Regen zu stehen.

Inhalt der Proteste ist stets ein sich Zurück-Holen von Verantwortung und Einfluss, die – je nach Gesellschaftsform mehr oder weniger freiwillig – an den Staat abgegeben worden waren. Dieser Ruf “Wir sind das Volk” ist dabei nicht unproblematisch. Nur weil sich viele zu einem Thema zusammenfinden und artikulieren, heißt es noch lange nicht, dass eine Mehrheit diese Meinung teilt. Oft ist der Wille der Mehrheit völlig unklar, wie im Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhof. Und selbst wenn man davon ausgehen kann, dass wirklich eine Mehrheit der Betroffenen den Protest unterstützt, so fehlen immernoch die wichtigen demokratischen Korrektive des Minderheitenschutz und anderer, unverrückbarer Regeln, die unserem Verständnis von Staatlichkeit nach, selbst durch Mehrheiten sich nicht verändern lassen sollten.
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Politik wird zunehmend weniger durch Delegieren funktionieren. Die Wahlperioden scheinen uns angesichts der Bewegung von Themen in unserer Timeline vollkommen unangemessen lange – aber kürzere Perioden würden wohl lediglich zu einem ständigen Wahlkampf führen und nicht zu besserer Abbildung des Willens. Parteiprogramme scheinen uns ebenso irrelevant und unpassend, wie die seichten Inhalte der massenmedialen Nachrichten. Durch die neuen Gemenschaften und den Druck, den sie über die Social Networks aufbauen können, wird die politische Willensbildung erschüttert. Es ist aber nicht so, dass einfach eine neue Variante an die Seite der etablierten Kanäle der repräsentativen Demokratie träte, genauso wenig, wie ich glaube, dass die Internetnutzung die Zeitung oder andere traditionellen gesellschaftlichen Medien einfach nur ergänzt oder substitutiert.

Initiativen, die versuchen “Netzpolitik” irgendwie in die parlamentarischen Prozesse zu bringen, greifen notwendiger Weise zu kurz, um tatsächlich die Verwerfungen aufzuhalten. Die von den protestierenden Menschen – durch die Massenmedien neuerdings auch als Wutbürger geschmäht – geforderte Geschwindigkeit, Flexibilität und auch Kompromisslosigkeit lässt sich, meiner Meinung nach, kaum mit Fraktionszwang, Delegiertenversammlungen und Parteipräsidien unter einen Hut bringen, ohne die aber ein parlamentarisch-demokratisches System sich nicht organisieren lässt. Als eigenständige Bewegung, die, wie z. B. noch die Grünen in den Achziger Jahren, sich zusammenfindet, um letztlich ein gesamtgesellschaftliches Modell zu Verwirklichen, taugen die eher losen und spontanen Interessensgemeinschaften ohnehin auch nicht wirklich.
***

Es wird geschehen; der Parteipolitik droht das selbe Schicksal, wie der Zeitungsindustrie. Es hilft nicht, an einer Politik 2.0 wie an Symptomen einer Krankheit herumzudoktoren. Gedankliche Offenheit, dass ein jahrhundertealtes System auch scheitern kann, sollte uns den Blick frei geben, auf die Alternative, die vor uns liegen mag. Nur Ausprobieren vieler Möglichkeiten und Zulassen von Fehlern wird uns in die Lage versetzen, das, was uns an der alten Welt wichtig und teuer ist, in die neue hinüber zu heben. Dieser Wandel geschieht nicht von selbst, ist kein Naturgesetzt. Insbesondere die technologische Infrastruktur, die das Neue ermöglicht, wird gestaltet. Ist es uns wichtig, wie die Zukunft der Politik aussehen soll, müssen wir selbst Hand anlegen, nicht zuletzt an technologischen Entwicklungen und an der Ausformung der neuen, gemeinschaftlichen Systeme, wie etwa der Kultur in den Social Networks.

Semil Shah hatte auf Techcrunch bereits im Februar angesichts der Erhebungen in Nordafrika einige Überlegungen angestellt, die politischen Umbrüche als neues Social-Media-Produkt zu interpretieren. Ob dazu – wie er meint – tatsächlich Start-Ups gebraucht werden, die irgendwelche politischen Funktionen in Social Media transformieren, sehe ich nicht unbedingt. Ich denke, dass die Infrastruktur der bestehenden Social Networks, Smartphones, Video- und Photo-Networks wahrscheinlich schon ausreicht. In einem stimme ich ihm aber uneingeschränkt zu:

Politics – there is no greater market to disrupt.

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Das Recht aller Menschen, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.

“Internet should remain as open as possible”

“There should be as little restriction as possible to the flow of information via the Internet, except in a few, very exceptional, and limited circumstances prescribed by international human rights law”

Mein ganzes Leben lang bin ich immer wieder durch die Vereinten Nationen und ihre Agenturen beeindruckt worden.

Vor kurzem hat der UN Sonderberichterstatter zur Lage der Meinungsfreiheit Frank La Rue seinen Bericht zur Meinungsfreiheit im Internet an die UN Menschenrechtskomission abgegeben. Ich empfehle, den Bericht zu lesen. Darin finden sich unterschiedliche Positionen sorgfältig abgewogen, die Eigenverantwortung contra die kollektive Verantwortung durch Gesellschaft oder Verwaltung, politische und ökonimische Freiheit, Recht auf Eigentum contra Gewaltexzess.

Das Urteil ist klar: es gibt ein “Menschenrecht, durch das Internet jederlei Gedanken und Informationen zu suchen, zu erhalten und mitzuteilen.” Diese dreigeteilte Forderung (suchen, erhalten, senden) ist das fundamentalste ernstgemeinte Statement, dass ich bis jetzt in der Diskussion gelesen habe. Einschränkungen dürfen nur in engstem Rahmen und nur unter Angemessenheit der Mittel getroffen werden, ausschließlich und ohne Ausnahme nur auf gesetzlicher Grundlage, in Übereinstimmung der UN-Vorgaben und nur unter Wahrung vollständiger Transparenz.

Jedem, der einseitig Rechte einschrenken möchte, können wir von nun an diese Rahmenbedingungen entgegenhalten, die die Vereinten Nationen allen Staaten als Mindeststandards nennen. Jeden, der davon abweichende Regelungen einführen möchte, können wir nun zur Rechenschaft auffordern.

Das Internet als Menschenrecht ist die konsequente Fortsetzung der Idee der Meinungsfreiheit.

Links:
Der Bericht im Original (pdf): “Report of the Special Rapporteur on the
promotion and protection of the right to freedom
of opinion and expression, Frank La Rue”

Und die Pressemitteilung.

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