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Rote Liste der bedrohten Medien

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Medien entstehen, Medien vergehen. Die junge Wissenschaft der Medienarchäologie hat sich vorgenommen, diesen 5000jährigen Entwicklungsstrom von den ersten geritzten Steinen bis Chatroulette genauer zu untersuchen. Wolfgang Riepl hatte 1913 mit dem folgenden Satz eine Art “Naturgesetz” der Medienevolution formuliert:

[D]ie einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und für brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauerhaft verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.

Je weiter man jedoch in die Vergangenheit blickt, desto häufiger stößt man auf Medienartefakte, ja ganzen Medienkomplexe, die nicht nur in der Gegenwart nicht mehr in Gebrauch sind, sondern für die nicht einmal ihr ursprünglicher Sinn und Zweck rekonstruiert werden kann. Außer eben, dass es sich um Medien handelt, die menschliche Sinne und Denkprozesse einmal auf irgendeine Weise erweitert haben. Im günstigsten Fall geraten Medien nicht vollkommen in Vergessenheit, sondern werden von kleinen Subkulturen als sinn- oder identitätsstiftende Praktiken adoptiert. Die besten Beispiele dafür sind Phänomene wie die Steampunk– oder Retrofuturismusbewegung.

Was z.B. in der Bronzezeit einmal ein Rechenhilfsmittel gewesen sein könnte, wird heute als Talisman verehrt. Oder Steine, in die möglicherweise die Geschichte eines jungsteinzeitlichen Stammes eingeschrieben wurde oder die für die Zeitrechnung verwendet wurden, werden heute als Kraftorte von esoterischen Reisegruppen besucht. Meine Ergänzung zur Rieplschen These wäre:

Je länger der Verlust der ursprünglichen Aufgaben und Verwertungsgebiete her ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel, Formen und Methoden von esoterischen Subkulturen adaptiert werden.

Klar ist, es gibt unterschiedliche Grade der Vergessenheit und des Verschwindens von medialen Praktiken. Daher liegt es nahe, für weit verbreitete, bedrohte, ausgestorbene und wiederauferstandene Medien eine Art “Rote Liste der bedrohten Medien” anzulegen analog zu entsprechenden Listen für das Tier- und Pflanzenreich:

0: ausgestorben oder verschollen
1: vom Aussterben bedroht
2: stark gefährdet
3: gefährdet
R: extrem selten
G: Gefährdung anzunehmen
D: Daten mangelhaft
V: Vorwarnliste (noch ungefährdet, verschiedene Faktoren könnten eine Gefährdung in den nächsten zehn Jahren herbeiführen)

Eine ähnliche Idee hat Bruce Sterling gemeinsam mit Richard Kadrey 1995 zur Formulierung des “Dead Media Manifestos” gebracht, das zunächst die Rieplsche These im Großen und Ganzen akzeptiert, dann aber relativiert:

[S]ome media do, in fact, perish. Such as: the phenakistoscope. The teleharmonium. The Edison wax cylinder. The stereopticon. The Panorama. Early 20th century electric searchlight spectacles. Morton Heilig’s early virtual reality. Telefon Hirmondo. The various species of magic lantern. The pneumatic transfer tubes that once riddled the underground of Chicago.

Leider ist die Seite des “Dead Media Projects” zur Zeit nicht mehr erreichbar – also bezeichnenderweise selbst zu einem toten Medium geworden -, aber über Seiten wie archive.org sind die zahlreichen Notizen zu ausgestorbenen Medien noch erreichbar, darunter zum Beispiel die militärische Nutzung von Brieftauben, der Volksempfänger, die Sonnentelegraphie (Heliographie), ausgestorbene Techniken von TV-Fernbedienungen wie z.B. die Ultraschallfernbedienung, das PALplus-Fernsehformat, Dioramen und Panoramen oder die Camera Obscura.

Nicht nur ist das Dead Media Project und die vielen dort versammelten Notizen (mit der Aufforderung, daraus etwas zu machen, daran weiterzuarbeiten) ein großartiges Beispiel einer slowen Internetseite, die inspiriert und zum Austausch und Weiterdenken anregt. Sondern die Medienarchäologie ist ein sinnvoller wissenschaftlicher Unterbau für unser Slow Media Projekt, da es wie von selbst zu den Fragen führt:

  • Wie bedroht sind die langsamen Medien derzeit?
  • Welche Slow Media sind bereits vom Aussterben bedroht?
  • Wie sieht medialer Artenschutz aus?
  • Was können wir tun, um inspirierende und faszinierende Mediengattungen zu erhalten?

Einen Besuch lohnt auch die Webseite Radiomuseum, auf der es ziele Informationen über ausgestorbene Rundfunktechnologien gibt. Oder diese Seite mit Abbildungen gängiger Audiokassetten.

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Blogs Kunst Religion Slow theory Sprache

Von Steinen lernen – Medienfasten in Südtirol

Medienfasten funktioniert. Die letzten 10 Tage auf einem abgelegenen Bergbauernhof in Südtirol waren für mich auch 10 Tage sehr wertvolles Medienfasten. Das heißt also: Brotlaibidole, Figurenmenhire, Römerstraßen, Votivtafeln, Fresken und autochthone Dialekte wie das Sarnerische und das Ladinische statt Fernsehen, Internet und Telefon. Also alles Paradebeispiele für Slow Media, wenn nicht schon No Media, also Medien, deren Übermittlungsfunktion innerhalb mehrerer Tausend Jahre nur noch auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt ist, wenn sie nicht bereits erloschen ist. Medienskelette, die von uns nicht mehr sinnvoll zusammengefügt und gelesen werden können.

Südtirol

Je mehr man sich mit solchen vom Aussterben bedrohten oder gar ausgestorbenen Medien befasst, desto größer wird der Appetit auf lebendige Medien. Das Make-Magazin, die Wired-Titelgeschichte über das iPad in der Post oder die jüngsten Blogposts von Bruce Sterling

Eines der größten Missverständnisse des Medienfastens ist der verbreitete Irrglaube, es gehe dabei um Leere und Verzicht. Stattdessen geht es um Fülle und Genuss. Beziehungsweise die dialektische Beziehung zwischen diesen beiden Polen. Wahrscheinlich kann das eine nicht ohne das andere haben. Ebenso ist es mit Slow Media und Fast Media. Genausowenig wie das Fasten als Versuch missverstanden werden darf, die ausgewogene Nahrungsaufnahme zu bekämpfen oder gar aufzuheben, zielen Slow Media auf das Ende der schnellen Massenmedien. Für mich sind Slow Media vielmehr der Versuch, die eigene Mediennutzung zu schärfen und in einen wertvolleren Teil des eigenen Alltags zu verwandeln. In Anlehnung an Alexander Kluge: Mit Slow Media gewinnt man Zeit, statt dass man sie verliert.

Figurenmenhir von Latsch

Dem Mediengebrauch haftete immer etwas zauberhaftes an – das wird besonders im Blick auf archaische Formen wie zum Beispiel dem Latscher Figurenmenhir (s.o.) deutlich, in den die jungsteinzeitlichen Vorfahren der Blogger in einer heute nicht mehr entschlüsselbaren Zeichensprache eine Botschaft eingeschrieben haben: Äxte, Kreissymbole, Strichmännchen und Tiere. Die Aura ist kann hier mit den Fingern berührt werden: Ein Artefakt aus einer fremden, vergangenen und doch räumlich nahen Kultur – ganz im Sinne Walter Benjamis einmalig und dauerhaft. Eine Bedeutung von Slow Media, die sich hiervon ableiten lässt: Medien darauf hin zu untersuchen, inwiefern sie einen derartigen Zauber – ob man ihn Aura, Inspiration oder Nachhaltigkeit nennt – vermitteln können.

Semantischer Nachtrag: Wenn man im Internet nach steinzeitlichen Medien sucht, stößt man sofort auf den Begriff “Kraftort” (wie passend, dass es hierzu kein Lemma in der Wikipedia gibt), unter dem solche Steine und ihre Fundorte heute einsortiert werden (oft flankiert von skurrilen GoogleAds zum Thema “Sind Sie ein Kelte? Finden Sie heraus, ob Sie keltische Vorfahren haben”). Dabei kommen auch Medien immer wieder vor – aber gemeint sind nicht die abstrakten Vermittler oder Extensions of Man, sondern Extensions of Ghosts, die Botschaften aus dem Jenseits übermitteln. Ich frage mich, wie lange es dauert, dass ein Science-Fiction-Roman seinen Protagonisten zukünftige “Kraftorte” besuchen lässt, in der Hultschiner Straße oder in der ZDF-Straße, deren genaue Bedeutung nicht mehr genau entschlüsselt werden kann. Oder wurde dieser Roman schon geschrieben?

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Spektrum der Wissenschaft

[Read Post in English]
Was die Physiker als “Standardmodell” der Teilchenphysik bezeichnen – um seinen vorläufigen Charakter anzudeuten –, liefert eine beeindruckende Deutung vieler Aspekte unserer Welt. Spektrum.de / Weltbild vor dem Umbruch

Heute ist der große Tag am LHC, dem großen Teilchenbeschleuniger am europäischen Forschungsinstitut CERN. Warum ist es uns wichtig, dass durch die gewaltigen Energien immer feinere Details unserer Welt für uns erkennbar werden? Weil nur durch die Beobachtung offenbar wird, ob unser Bild der Welt, unser Modell, dass wir zu ihrer Erklärung konstruieren, zur Vorhersage von Tatsachen, von Wirklichkeit taugt.

Seit Mai 1980, genau dreißig Jahre lese ich das Spektrum der Wissenschaften (anfangs allerdings waren es eher die mystischen Bilder, die mich in ihren Bann zogen – die meisten Artikel habe ich noch nicht verstanden). Viele der wissenschaftlichen Projekte, die dieser Tage Eingang in die allgemeine Presse finden, waren von Anfang an dabei. An Tagen wie heute wird mir bewusst, was für ein schöner, dialektischer Prozess die Wissenschaft sein kann. Über Jahre hinweg werden Modelle spekuliert, wird die Existenz neue Bausteine unserer Welt daraus abgeleitet – wie etwa das Higgs-Boson, für dessen experimentellen Nachweis schließlich die enorme Anstrengung in Genf unternommen wird. Wenn man diese Entwicklung nur von hinten – von der Veröffentlichung der bahnbrechenden Nachrichten her liest, kann man nicht verstehen, die Wissenschaft funktioniert.

Die Ruhe, diesen Prozess Monat für Monat nachzuzeichnen, ist für mich die herausragende Qualität des Spektrum. – Für und Wider der unterschiedlichen Standpunkte, und zwar Quer durch alle Wissenschaften. – und nicht zuletzt die Philosophie. Hier habe ich zum ersten Mal von John Searls “Chinesischem Zimmer” gelesen (Jan 1990) – und habe seine Kritik an Dougles Hofstadters Vorstellung menschlichen Automaten als Befreiung empfunden; hier bin ich zum ersten Mal David ChalmersRätsel des bewussten Erlebens” begegnet, und wie darin die Möglichkeit zum empirischen Erkenntnisgewinn über uns selbst radikal in Frage gestellt wird.

Vielen Streitgespräche auf Wissenschafts-Blogs oder auf Twitter sparen sich den Punkt, um den sich auch sonst viele Wissenschaftler durch die Konzentration auf das empirisch Machbare allzuleicht herumdrücken: die impliziten Grundlagen von Erkenntnis. Wenn in wissenschafts-ethischen Diskursen gefordert wird, ohne Scheuklappen zu diskutieren, so ist damit meist gemeint, dass man ernste Bedenken, die das Vorgehen in Frage stellen würden, bitte hier nicht zu äußern habe. Doch eben Dispute wie Searle oder Chalmers sie liefern, sorgen für den nötigen Raum zur Selbstreflexion. Das ist für mich eine der herausragenden Stärken von Spektrum. Und dadurch werden mir auch Artikel lesbar (und sogar lesenswert), wie der Essey des Religionskritiers Edgar Dahl “Die Würde des Menschen ist antastbar!” im März-Heft.

Und liegt mir Dahls Menschenwürde noch schwer im Magen, so liefert dieselbe Ausgabe auch wunderbar leichte Kost: Gleich die Titelgeschichte macht sich auf die Suche nach den Geschwistern der Sonne – eine poetisches Überschrift – und wir machen uns auf eine Reise, fünf Milliarden Jahren zurück, sehen, wie eine Supernova in nächster Nähe explodiert und wie die Sonne und ihre Geschwister ihre Kinderstube verlassen und sich langsam über die ganze Milchstraße zerstreuen; reine Utopie!

Bereits Ende der Achtziger wird der Klimawandel thematisiert (leider geht das Online-Archiv nur bis 1993 – immerhin das Geburtsjahr des Browsers, aber der älteste Artikel, an den ich mich erinnere war Juni 1989). Auch zur Zeit läuft eine Reihe unter dem etwas großspurigen Namen “Erde 3.0” und auch hier verharrt Spektrum nicht beim Altbekannten, sondern stellt in zum Teil abenteuerlichen Projekten Alternativen vor. Landwirtschaft in Hochhäusern zum Beispiel.

Scientific American, dessen deutsche Ausgabe das Spektrum der Wissenschaft ist, scheint mir auch eines der ganz wenigen Medienprodukte zu sein, dass wirklich durch seine Internationalität profitiert. Eine Zeit lange habe ich die amerikanische Ausgabe gelesen, musste aber feststellen, dass einem durch das deutsche Spektrum nichts verloren geht.

Spektrum ist auch die einzige allgemeinwissenschaftliche Publikation, die ich kenne, die in jeder Ausgabe der Mathematik ihren Platz gibt – mindestens in einem, häufig, wie im aktuellen Heft sogar in mehreren Artikeln.

Und wenn ich mich gefangen fühlen, in der Wirrsal des Alltags – dann denke ich an den eschatologischen Beitrag zum “Das Ende des Raumschiffs Erde”. Ja, in geologischen Zeiträumen ist das Ende der Erde bereits nahe; schon bald verschluckt die sterbende Sonne alles Leben.

Spektrum inspiriert. Es ist für mich persönlich mein wichtigste Slow-Medium.

Weitere Beiträge auf slow-media.net über Zeitschriften:
Die Brand Eins
Wired Magazine
Kunstforum International: 200 Ausgaben
Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie

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“L’idée vient en parlant”: Kleist über Twitter

Heinrich von Kleist

Jörg Blumtritt hat gestern einen schönen Beitrag über Twitter geschrieben. Damit haben sich die Autoren des Slow Media Blogs endgültig als Twitter-Fans geoutet. Twitter, ein Schwarm von Vogelgesaengen. Eine Volière, die – wie es Wikipedia so unvergleichlich formuliert – den “Freiflug der Insassen ermöglicht”, und nicht nur den der Insassen, sondern auch die Freiflüge aller anderen, die sich durch die geräumigen und durchlässigen Begrenzungstäbe dort hineinwagen.

Zu der gestern bereits angeführten Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Twitter möchte ich ein paar Gedanken ergänzen. Beginnend mit einer Frage: In welcher Zeit findet das Ganze eigentlich statt? Die Sprache verrät es uns: “What are you doing?” lautete die Eingangsfrage von Twitter (bis sie von dem jetzigen “What’s happening?” abgelöst wurde). Die digitalen Frei- und Höhenflüge finden also in der Verlaufsform statt, im englischen “present progressive“, der sogenannten -ing-Form. Sie wird verwendet, wenn “das Geschilderte im erzählten Moment (…) gerade passiert” (ein Äquivalent wäre die Rheinische Verlaufsform des “Ich bin am twittern”). Auch das Partizip Präsens Aktiv drückt Gleichzeitigkeit aus: unser Zustand ist schreibend, denkend, sprechend, twitternd.

Die Twitter-Zeit ist auch das Partizip Präsens des „L’idée vient en parlant“ (die Idee kommt während des Sprechens). Heinrich von Kleist prägte diesen Begriff 1805 in Analogie zu der französischen Redewendung “L’appétit vient en mangeant” (der Appetit kommt mit dem Essen). Er schreibt es in seinem großartigen Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”, und ich möchte die Behauptung aufstellen, dass Kleist hier über Twitter schreibt. Er empfiehlt darin, wenn man nach stundenlangem Brüten in einer Gedankensackgasse steckt, das Gespräch mit einem anderen zu suchen. Im Gespräch mit einem Gegenüber kommen die eigenen Gedanken in Fluss, nehmen Gestalt an, gewinnen Konturen und formen sich zu einer klaren Argumentation. Kleist spricht hier nicht vom Wiedergeben bereits fertiger Gedanken, sondern von einem Sprechen als “ein wahrhaft lautes Denken”. Die Sprache sei dann wie ein “zweites, mit [dem Rad des Geistes] parallel fortlaufendes Rad”. Er spricht also auch von Gleichzeitigkeit, von Gleichzeitigkeit des Sprechens mit der Entwicklung des Auszusprechenden.

Das ist auch bei Twitter möglich. Auch bei Twitter kann “ein lebhaftes Gespräch [entstehen], eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen” – allerdings nicht nur wie Kleist noch voraussetzte in der mündlichen Rede, sondern auch in der quasimündlichen Schriftform der digitalen Welt. Inspiration und Inspirierendes, die Konzentration und Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, der im Begriff ist, sich im Jetzt und im Diskurs mit einem Gegenüber zu entwickeln: In diesem Punkt finden Kleists Essay, Twitter und unser Slow-Ansatz zusammen.

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Schoenheit von Vogelsang

[Read this Post in English]
“Every time I hear about Twitter I want to yell Stop. The notion of sending and getting brief updates to and from dozens or thousands of people every few minutes is an image from information hell. It scares me, not because I’m morally superior to it, but because I don’t think I could handle it.”

Die Kalte Panik vor der Informationshölle, die George Packer – Autor und Korrespondent der New York Times – mit Twitter verbindet, wie er in seinem in seinem Blog-Post beschreibt, können viele Menschen derzeit gut nachvollziehen; nicht zuletzt ist die Flüchtigkeit von Twitter das Wunderbare aber auch Erschreckende: nichts scheint von wert, nichts von dauer.

“Aufklärung braucht Zeit – und die fehlt im Netz”, sagt der Philosoph Markus Gabriel im Interview auf FAZ.net – und auf Twitter, möchte man ergänzen, ist sofortige Vergänglichkeit sogar ins System eingebacken – selbst die Twitter-eigene Suche geht nur zwei Tage in die Vergangenheit zurück. All die schönen Gedanken versinken so schnell in den Tiefen der Timeline, dass wir wohl verweilen möchen; aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der uns unaufhaltsam in die Zukunft treibt.

Betrachtet als Nachrichtenkanal, finde ich Parkers Panik über Twitter besonders gut nachvollziehbar. Jede Nachricht, die mich (per Re-Tweet) zum zweiten Mal erreicht, erscheint veraltet, irgendwie nicht mehr relevant. Und wie trostlos, wenn selbst der absolute Medien-Mainstream tausende Mal per Re-Tweet repliziert wird, wie heute: “Man Resigns On Twitter per Haiku”.

Doch gerade diese Meldung führt uns auf etwas an Twitter, das schön und wertvoll ist: Lyrik und Aphorismus, Schönheit in sprachlicher Reduktion. Das bemerkenswerte an der Rücktrittserklärung des Sun-CEOs ist nicht, dass er sie über Twitter bekannt gibt. Twitter ist der effizienteste Kanal für Mitteilungen dieser Art, das pfeifen die Heerscharen der Social-Media-Consultants schon seit Jahren von den Dächern. Bemerkenswert ist, dass Jonathan Schwartz die Versform des Haiku wählt. Kurze, tatsächlich gedichtete oder zumindest stark in ihren Silben schwingende Ausrufe sind für mich das Schöne an Twitter. Eine Meldung wie “Mars can be seen all night” mag einen tatsächlichen astronomischen Hintergrund haben. Als einzelner Vers betrachtet, werden die sechs einsilbigen Wörter zum Mythos, indem wir den Kriegsgott siegreich über das gesamte Reich der Neith erblicken.

Sieht man Twitter nicht als Kurznachrichten-Dienst, sondern nimmt das Bild ‘Vogelgezwitscher’ ernst, verliert die nimmer endende Flut von Text ihren Schrecken – es ist keine Information sondern wird gleichsam zu Musik, einem Strom, auf dem man sich treiben lassen kann.

Sound of vernal showers
On the twinkling grass,
Rain-awaken’d flowers—
All that ever was
Joyous and clear and fresh—thy music doth surpass.

Teach us, sprite or bird,
What sweet thoughts are thine:
I have never heard
Praise of love or wine
That panted forth a flood of rapture so divine.
(Shelley, To a Skylark)

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Webseiten Zeitschriften

Wired Magazine

“We know a lot about digital technology, and we are bored with it. Tell us something we’ve never heard before, in a way we’ve never seen before.”

Das ist die Vision von Louis Rosetto. Durch diese Vision motiviert, gründete er Wired 1993 – in dem Jahr, in dem mit Mosaic der erste Browser verfügbar war, der das Internet tatsächlich als Medium erscheinen lies. Und bis heute ist Wired die verlässliche Chronik des Internet-Zeitalters.

Das faszinierende an Wired ist dabei die Position, die das Medium einnimmt. Es steht wunderbar erhoben zwischen dem technokratischen Positivismus der Computer- und PC-Zeitschriften einerseits und dem Kulturpessimismus der klassischen Feuilletons andererseits, bei denen oft schon allein durch den digitalen Analphabetismus ihrer Redakteure eine relevante inhaltliche Auseinandersetzung verhindert wird.
Wired ist anders. Wired ist radikal liberal, offen, ja gerade süchtig nach Wandel – stets ohne Verantwortlungslosigkeit das Wort zu reden. Neben der Freude über die Veränderungen von Kommunikation, (Welt-)Gesellschaft und -Kultur, zieht sich die Auseinandersetzung über Klimawandel und Nachhaltigkeit genau wie über Bildungs- und Gesundheitspolitik von Anfang an durch die Reportagen. Die einzige Lösung sieht Wired in Fortschritt, und zwar nicht nur in technologischem, sondern gerade in gesellschaftlich-kulturellem. Ein schönes Beispiel dafür ist “der Aufstand (oder Aufstieg?) der Neo Green“.

Legendär ist der Stil: Typografie, Layout und insbesondere der Einsatz von Sonderdruckfarben machen das Heft jeden Monat zu einem optischen Genuss. Stilprägend war auch von Anfang an die Übertragung der Inhalte ins Internet, der Hotwired-Style. Und allem Paid-Content-Gerede zum Trotz verkauft sich das gedruckte Heft wohl gerade weil (und nicht obwohl) die Inhalte sofort kostenlos online verfügbar sind – und bleiben.
Großartig auch, wie alle Beiträge mit Original-Fotostrecken illustriert und bereichert werden.

Die “Kreide-Tertiär-Grenze” der Online-Welt: die Stapelhöhe der Jahrgänge 2000 und 2001 zeigt anschaulich, was unter Krise verstanden werden kann.


The medium, or process, of our time-electric technology- is reshaping and restructuring patterns of social interdependence and every aspect of our personal life. – Programmatisches McLuhan-Zitat aus der ersten Ausgabe


18 Jahre – konstant guter Stil



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Bachs Kantatenwerk

Bach Cantatas Website“Aber gerade in diesem Augenblicke erwacht das antike Ideal des Zusammenwirkens von Dichtkunst und Musik zur dramatischen Darstellung der religiösen Ideen noch einmal zu neuem Leben und bezaubert die protestantische Kirchenmusik. Es zieht ihr voran mit dem Reize des großen Ideals, zugleich aber auch in dem Unvermögen der deutschen Poesie jener Zeit.” (Albert Schweitzer)

Das Kantatenwerk von Johann Sebastian Bach gehört für mich zu seinen spannendsten Werken, da er mit den gut 200 Kantaten eine ganze musikalische und liturgische Welt aufspannt. Jeder Sonntag erhält in einer eigenen Kantate musikalisch seine Form. Damit entsteht ein immergleicher Zyklus von Kantaten, der sich jedes Jahr wiederholt, zugleich aber dem Zuhörer mit jedem Umlauf neues zeigt. Ein äußerst langsamer Kreislauf, der überraschenderweise neben dem wunderbaren Einführungsbuch von Alfred Dürr auch im Internet seinen Niederschlag gefunden hat.

Die “Bach Cantatas Website“, auf den ersten Blick eine schroffe, Web 1.0-Homepage, offenbart erst bei zufälligem Klick auf eine Kantate, zum Beispiel BWV 144 “Nimm, was dein ist, und gehe hin” die hier angebotene Informationstiefe. Auf den Einzelseiten erfährt man nicht nur alle erdenklichen Informationen über Entstehung, Notierung, liturgischen Bezug und alle Tonaufnahmen (gleich mehrere Dirigenten wie Pieter Jan Leusink, Ton Koopman, John Eliot Gardiner, Philippe Herreweghe, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt, Masaaki Suzuki haben sich der Herausforderung gestellt, den kompletten Zyklus einzuspielen), sondern kann sich den Text der Kantate auch auf Katalanisch oder Chinesisch ausgeben lassen oder sich die Noten ansehen (und ausdrucken).

Aber es handelt sich hierbei nicht um ein reines Kantaten-Lexikon, sondern auch eine Diskussionsgemeinschaft, die auf hohem Niveau ebenfalls in einem langen Zyklus über die Kantaten und ihre Aufnahmen debattiert. Letzte Woche z.B. drehte sich das Gespräch um Kantate BWV 156 “Alles nur nach Gottes Willen” – und zwar bereits das dritte Mal (2003, 2007, 2010).

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Feeding America

“A life, the major part of which is spent in sweeping, that the dust may re-settle; in washing, that clothes may he again worn and soiled; in cooking, that the food prepared may be consumed; in cleansing plates and dishes, to put back upon the table that they may return, in grease and stickiness, to the hardly-dried pan and towel, does seem to the superficial spectator, ignoble even for the wife of a struggling mechanic or ill-paid clerk.”
Hauswirtschaft scheint dem oberflächlichen Betrachter als niedrig und unwert: die täglich mehrmalige Wiederkehr des immer Gleichen.
Aber die ungeheuer produktive Marion Harland wird uns in wortreicher Plauderei vorführen, welche Freuden und wieviel Abwechslung in der Zubereitung von “Breakfast, Luncheon and Tea” zu finden sind.

1796 erscheint mit Amelia Simmons “American Cookery” das erste genuin amerikanische Kochbuch. Darin findet sich das älteste bekannte Rezept für Truthahn – dem “schönsten Geschenk, dass die neuen Welt der alten gemacht hat” wie Brillat-Saverin und den “welschen Vogel” lobt; und überhaupt kann man bereits die Eigenheiten der amerikanischen Küche erkennen, angelehnt, an europäische Speisen, abgewandelt um die autochtonen amerikanischen Lebensmittel, und unter Einbeziehung indianischer und creolischer Einflüsse.

Feeding America: The Historic American Cookbook Project ist eine Auswahl von 76 aus mehr als 3000 Kochbüchern der Bibliothek der Michigan State University. Sauber eingescannt und transkribiert, finden sich dort gastrosophische und bibliophile Schätze der amerikanischen Küche seit der amerikanischen Unabhängigkeit bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Seite für Seite kann man wundervoll Illustriert Werke wie “The Grocer’s Encyclopedia von Artemas Ward” durchblättern oder sich von den legendären Rezepten aus Hearns “Cuisine Creole” inspirieren lassen.

Der Name des Projekts, Feeding America ist, dessen wird man ohne Zweifel gewahr, ein gnadenloses Understatment, denn es geht hier nicht um die Befriedigung des Hungers, sondern darum, eine der interessantesten und vielseitigsten Kochkulturen der Welt zu feiern.

A Whipt Syllabub.
Take two porringers of cream and one of white wine, grate in the skin of a lemon, take the whites of three eggs, sweeten it to your taste, then whip it with a whisk, take off the froth as it rises and put it into your syllabub glasses or pots, and they are fit for use.