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Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln

Ich habe neulich über Twitter einen Hinweis auf einen Artikel der Financial Times Deutschland bekommen: Bernd Oswald schreibt dort über den “PR-Journalismus im digitalen Zeitalter”. In dem Beitrag wird der Eindruck vermittelt, dass das Medium Internet zu einer unseligen Verflechtung von PR und Journalismus geführt habe, von Unternehmensinteressen und öffentlicher Berichterstattung. Diese Aussage kann ich so nicht gelten lassen. Im Gegenteil handelt es sich bei der Vermischung von PR und Journalismus um eine ungebrochene Tradition, die mit dem Erscheinen der Online-Medien am Publikationshorizont nichts zu tun hat. Zu Beginn der 90er Jahre war es jedenfalls Gang und Gäbe und keinesfalls unüblich, dem Publikationswunsch eines Pressetextes bei der Redaktion mit dem Hinweis auf die Anzeigenabteilung Nachdruck zu verleihen. Vom Internet war damals noch weit und breit nichts zu sehen. Die Personalausstattung der Redaktionen war schon zu dieser Zeit so ausgelegt, dass ein gewisser Prozentsatz an externen, aus der PR stammenden Beiträgen durchaus einkalkuliert war. Man könnte meinen, dass sich dieses Problem nun erledigt habe (keine Anzeigenkunden, keine Interessenskonflikte), aber so ist es – noch – nicht.

Als Beispiel für die Interessensvermischung durch das Digitale führt der Beitrag Richard Gutjahrs Berichterstattung von der iPad-Premiere an: “PR-Journalismus reinsten Wassers” (diese Formulierung stammt nicht von Oswald selbst, sondern von Thomas Leif, dem Vorsitzenden des Netzwerks Recherche). Und hierin besteht meiner Meinung nach ein Missverständnis. Die Frage lautet: Ist es – und unter welchen Umständen – journalistisch legitim, positive Berichte über Unternehmen und ihre Produkte zu machen? Wann ist es glaubwürdig, wann ist es ein Interessenskonflikt? Wie subjektiv darf ein Journalist sein? Ist es “Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards und […] reine Werbung”, wenn ein Jounalist sich 24 Stunden lang in New York in die iPad-Warteschlage einreiht und von dort aus live per Twitter, Blog und Printbeiträgen berichtet? Die Fragen sind interessant und führen zu Haltungs-Unterschieden im Print- und Online-Journalismus.

Darf ich mich zum Beispiel als Autorin des Wirtschaftsmagazins brand eins noch positiv über sie äußern? Ist es ein Interessenskonflikt, wenn wir als Slow Media Autoren die brand eins als Prototyp erfolgreicher Slow Media darstellen? Darf ich das? Meine Antwort hierauf lautet: Ja. Weil ich selbst weiß, wie die Reihenfolge ist: Meine Haltung zu brand eins war schon vorher da, nur deshalb bin ich überhaupt dort Autorin geworden. Wenn ich sie nicht für ein beeindruckendes Qualitätsmedium gehalten hätte, hätte ich ihr nicht als erstem Publikatinsmedium meinen Twitter-Beitrag angeboten. Ergo wäre ich nicht brandeins-Autorin geworden. Ich handle und schreibe nach meiner (vielleicht fehlbaren aber) wirklichen Überzeugung.

Eine ähnliche Haltung unterstelle ich auch bei Richard Gutjahr, wenn er zur iPad-Premiere nach New York reist. War er schon vorher überzeugter, erklärter und offener Apple-Addict? Ja (zumindest nach dem Eindruck, den ich von ihm über längere Zeit über Twitter und seinen Blog gewonnen habe). Ist es unglaubwürdig, wenn er dann nach New York fährt und davon berichtet? Eher nein. Macht es ihn käuflich? Möglicherweise, vielleicht auch nicht. Die Handlung wäre jedenfalls nicht mit einem beliebigen anderen Event, dem Launch eines xy-Produktes austauschbar.

Wie also definieren wir Glaubwürdigkeit? Ich denke, Glaubwürdigkeit ist da, wenn Stimmigkeit zu dem sonstigen Handeln und Schreiben besteht. Das setzt zwei Dinge voraus: Der Mensch und seine Haltung müssen hinter der Reportage, den Zeilen, dem Podcast sichtbar werden (dies ist übrigens These 14 unseres Slow Media Manifestes). Und die Leser müssen mehrere Beiträge desselben Autors gelesen haben, um ihn überhaupt einschätzen zu können. Das verlangt eine Bindung zwischen Lesern und Schreibenden, die ich dem Journalismus in Zukunft wünsche, ob nun print oder online.

Neulich habe ich einen Anruf im Auftrag einer namhaften überregionalen Print-Tageszeitung aus großem Verlagshaus erhalten. Es ging um ein “Themenspecial”, in dem wir mit unserer Agentur eine Anzeige schalten sollten. Neben dem Anzeigenplatz wird unverhohlen der redaktionelle Teil der Qualitätszeitung mitverkauft:  “1/3 Seite neutraler Fachbeitrag in dieser Ausgabe, der aus Ihren Themenvorschlägen von unserem Autor für Sie erstellt wird”, so lautet es im Angebot. Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass das Realität ist. Trotzdem irriert es mich, dass mein Gesprächspartner nicht einmal merkte, wie absurd es ist, Geld zu zahlen, um sich dann im redaktionellen Teil als Expertin für authentische Kommunikation zu präsentieren.  Ich habe Mitleid mit den Autoren, die diese Texte schreiben und am Ausverkauf des Journalismus mitwirken müssen. Natürlich spürt man in solchen Texten nicht mehr den Menschen, der sie schreibt. “Entfremdung” ist das Wort, das mir dazu einfällt als jemand, der selber schreibt. Es geht nur noch um die Schaffung anzeigenfreundlicher redaktionellen Umfelder. Ob es um das Thema “Knochen und Gelenke”, “Versicherungen” oder “Kommunikation der Zukunft” geht, ist völlig egal. Der journalistische Text (für den ich noch immer mütterliche Gefühle hege) wird hier zur völlig austauschbaren Ware.

“Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards” – hier sehe ich sie tatsächlich. Die Zukunft des Journalismus kann so etwas nicht sein. Das rettet einen Verlag höchstens über die nächsten Jahre. Vielleicht wäre es jetzt die Aufgabe für den Journalismus, sich zwischen den Polen der Entfremdung und der Subjektivität einen neuen Ort zu suchen.

Nachtrag (10. November 2010):

Gerade sehe ich ein sehr interessantes Interview mit Chris Anderson, dem Chefredakteur der Wired (über die wir hier bereits berichtet haben).

Er stellt folgendes fest (und das schließt hervorragend an die obigen Ausführungen über Redaktions/Anzeigen-Interessensverquickung an):  Im 20. Jahrhundert haben die Zeitschriften/Zeitungsverlage die Frage “Who is my customer?” de facto mit: “the advertiser” beantwortet (bzw. beantworten müssen). Da stellt Anderson nun einen Wandel fest: Die Finanzierung läuft inzwischen zu gleichen Teilen über Anzeigenkunden und Leserschaft. Dadurch rückt der Leser plötzlich in den Fokus: “Going forward if my customer becomes my reader I am going to do the right thing for the reader – because it improves my profit.” Dass Publikatinsmedien ihre Leser zukünftig als ihre Kunden betrachten könnten, das finde ich eine ganz wunderbare Aussicht. “It’s the most exciting time in media ever.” Und auch hier muss ich ihm zustimmen.

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Zensur?!
Mein Tag 3 ohne Google.

[Read this post in English]

Leave aside the fact that Google was happy to censor results for China until its servers were hacked. The fact is, Google still censors search results in other countries at the request of their governments. […] Censoring results for years, shifting course for entirely unrelated reasons, and then vilifying competitors who don’t jump on the bandwagon. (Though, of course, completely Google’s prerogative.) But it’s particularly hypocritical when Google is still happily censoring its search and YouTube products for other countries.
http://www.businessinsider.com

Den heutige Post zu meiner Internetnutzung ohne Suchmaschinen habe ich in Berlin geschrieben. Er ist entsprechend staatstragend.

Die indifferente Haltung bis zur willfährige oder sogar vorauseilenden Unterstützung von Unrechtsregimen durch Google, Microsoft und andere Medienkonzerne verdient unsere Kritik in aller Schärfe. Meldungen wie Googles Einlenken gegenüber den französischen Behörden hinterlassen ebenfalls ein Gefühl von Ratlosigkeit. Was passiert, wenn einem so zentralen Teil unserer Kommunikationsinfrastruktur über reine Verwaltungsakte Fesseln angelegt werden?

Offenbar fehlt etwas: die Würdigung von Online-Medien als zunehmend relevante Plattformen unserer politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildung, den Online-Medien den staatlichen Umgang und den verfassungmäßigen Rang zuzuweisen, den sie ihrer Bedeutung nach längst verdienen.

Meist wird mit Zensur die gewaltsame Unterdrückung von kritischen oder vom Mainstream abweichenden Meinungen verbunden. Von der Verbannung Ovids über den Index der Kirche, der bürgerlich-autoritären Zensur in Metternichs Deutschem Bund zu den mörderischen Systemen totalitärer Zensur des zwanzigsten Jahrhunderts: es fallen mir beim ersten Nachdenken wenig Gründe ein, warum es Staaten erlaubt sein sollte, freie Rede und deren Zugänglichkeit zu beschränken.

Dennoch gibt es bei differenzierter Betrachtung sehr wohl Gründe, warum wir das Recht zur Auseinandersetzung mit Google haben. Diffemierungen, Rechtsbrüche, Hetze, all das ist mit Grund aus den Medien verbannt worden. Und zu Recht gibt es einen Presserat und die Möglichkeit zur Klage (und zwar nicht nur in Hamburg …). Wir sollten uns nicht einreden lassen, dass unsere Forderung nach der Einhaltung demokratischer Rechte einen “Dammbruch” (was für eine hole Metapher!) der Zensur bedeutet und uns die Legitmation nimmt, gleichzeitig weltweit für unser Verständnis von Meinungsfreiheit zu werben.

Die Forderung, das Internet sei Rundfunk, die der bayerische MInisterpräsident in seiner Eröffnungsrede der diesjährigen Medientage erhoben hat, halte ich für vollkommen Gerechtfertigt. Das Internet tritt nicht nur an die Stelle des Rundfunkts, es leistet schon jetzt weit mehr, was Meinungsbildung, Information und Unterhaltung betrifft, als die Verlage und Rundfunk es je getan haben.

Umso wichtiger ist es, für Pluralität zu sorgen, für eine Vielfalt von Angeboten, zu denen auch staatlich bzw. öffentlich geförderter, kultureller und journalistischer Freiraum gehören müssen.

Auch wenn ich schon den dritten Tag gut ohne Suchmaschinen leben kann, bin ich nicht so naiv zu glauben, dass es sich bei meinem Google-Fasten um mehr als eine zeitlich begrenzte Abstinenz handeln kann: ich will gar nicht auf Dauer und vollständig auf Suchmaschinen verzichten müssen. Ich will aber nicht in Abhängigkeit von ihrer Totalität geraten. Ich wünsche mir, dass sich aus der Mitte der europäischen Gesellschaften heraus eine liberal-bürgerrechtliche Bewegung formiert, die durch attraktive Gegenangebote von der Art von Wikipedia oder OpenStreetMap lautstark ihre Position im Netz artikuliert.

Weiterlesen:
Die bisherigen Posts zum Experiment “Ohne Google”:

und: Virtueller Rundfunk. Mein Plädoyer für eine starke Öffentlichkeit im Internet.

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Orientierung mit OpenStreetMap
Ohne Google: Tag 2

[Read this post in English]

Auch heute keine Suchmaschinen.

Der heutige Tag ist ein Reisetag. München-Düsseldorf, dann weiter nach Berlin. Zur Orientierung in Düsseldorf nutze ich OpenStreetmap. Worin liegt der Unterschied zu Google Maps? OpenStreetmap ist ein Wiki-Projekt. Es ist offen. Ich kann mich beteiligen. Natürlich bietet auch Google Maps die Möglichkeit, eigene Karten zu erstellen und zu veröffentlichen. Die Schnittstelle, mit der ich Google Maps in andere Anwendungen vernetzen kann, ist phantstisch einfach. Aber es ist ein Unterschied, ob ich nur eigenen Layer erzeugen kann, wie bei einem proprietären Projekt von der Art Google Maps nicht anders möglich, oder ob ich eben im Innersten des Systems mitarbeiten kann.

Ähnlich wie bei Wikipedia ist die Editionsgeschichte der Kartenausschnitte sehr interessant und verhindert das unkontrollierte und vollkommen willkürliche “auslöschen” von Objekten, wie es auf Google Maps regelmäßig vorkommt. Wenn neue Karten eingespielt werden, sind die alten für uns nicht mehr zugänglich. Es gibt keine Historie.

Neben der Redlichkeit, die Entstehung und (erhoffte) stetige Verbesserung der Karten mit jedem Editionsschritt sichtbar zu machen und zu dokumentieren, sind es die Diskussionen, die manche Beiträge hervorrufen, durch die man so viel mehr erfährt, als durch die einfache Karte, auf der man über das “Warum” über die Existenz – oder gar das Fehlen – eines Eintrags nur spekulieren kann. Google gibt in der Regel keine Auskunft über seine Motive.

Georgia without details on Google Maps
Und manchmal ist es einfach bizarr, was bei Google Maps ausgespart bleibt. Die rätselhaften Wolken, die sich über manche Bauwerke schieben – viel diskreter, als wenn der Anblick nur verpixelt worden wären! – oder ganze Länder, die von heute auf morgen verschwinden, wie etwa Georgien, dessen Bild in Google Maps seit dem Tag nach dem Beginn des Georgienkriegs 2008 keine Informationen mehr enthält. Selbstverständlich sind alle Details des Kaukasus auf OpenStreetMaps unverändert zu finden.

Wikipedia und ihre Schwesterprojekte sind nicht perfekt. Die Willkür und die rüden Umgangsformen mancher Administratoren wurde schon oft – und zu recht – beklagt. Aber alles, was geschieht, ist offen und sollte – zumindest im Grundsatz – zum Mitmachen einladen.

Ich wünsche mir, dass mehr öffentliche und komunale Verwaltungen sich an solchen Projekten beteiligen, ihren Raum darin ergreifen und ihre steuerfinanzierten Daten uns auf diese Weise offen zur Verfügung stellen, so wie es z. B. Augsburg unlängst angekündigt hat. Wie schön wäre es, wenn die wundervollen Karten mit ihrer hochwertigen Information, die etwa das Bayerische Landesamt für Denkmalschutz oder das Wasserwirtschaftsamt anbieten, über Openstreetmap eine offene Schnittstelle bekäme und sich ohne Bruch mit anderen Daten verbinden ließe. So bleibt es eben bislang an uns, selber die Boden- und Baudenkmäler einzutragen und damit anderen zugänglich zu machen.

Auch heute bin ich sehr zufrieden. Ich habe wieder das Gefühl, dass sich meine Zeit für all das, was ich heute Online gelesen habe, hat sich ausnahmslos für mich gelohnt hat. Und ich bin sicher auf unbekanntem Terrain zu Fuß und mit dem öffentlichen Personennahverkehr vorangekommen – auch ohne Google.

Die anderen Posts zum Experiment “Ohne Google”:

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S21: Experiment am offenen Kopfbahnhof

Gestern hat die Schlichtung zum Stuttgarter Bahnhof begonnen. Eine Schlichtung ist nicht neu und nichts Ungewöhnliches. Neu ist, dass diese Schlichtungssitzungen live im Fernsehen und im Internet übertragen werden (hier alle Videos der ersten Sitzung). Das ist ein Experiment, man könnte sagen: ein Experiment am offenen Kopfbahnhof. Der Schlichter Heiner Geißler nennt es ein “Demokratie-Experiment”. Interessant, dass er das Herstellen von Öffentlichkeit mit Demokratie in Verbindung bringt. Ähnlich argumentierte gestern morgen im Tagesgespräch des WDR5 Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Er sieht in der öffentlichen Schlichtung eine Chance auf neue Formen der bürgerlichen Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Und neue Formen der Demokratie müssen wohl entwickelt werden. Denn immer mehr Bürger scheinen sich von ihren Vertretern nicht mehr richtig vertreten zu fühlen. Wie kommt das?

Die politischen Entscheidungrituale scheinen sich verselbständigt zu haben. So wie sich auch die politische Sprache in Rituale und Floskeln flüchtet.* So wie Talkshows zu Simulationen von Gesprächen geworden sind, in denen jeder nur vorbestimmte Statements ablädt und wieder geht. Es ist die Diskursivität, die hier fehlt – ein zentrales Element in unserem Slow Media Ansatz. Die Bereitschaft, Zuzuhören und einen Standpunkt zu gewinnen – anstatt ihn vorher schon zu haben.

Vielleicht muss unsere parlamentarische Tradition reparlamentarisiert werden. Und zu ihrem Wortursprung zurückfinden. “Parlament”: Das ist da, wo gesprochen wird. Und: Zugehört. Aufeinandereingegangen. Widersprochen. Reagiert. Agiert. Ganz im diskursiven Sinne. Diskurs, das heißt: Da ist etwas in Bewegung. Nicht: Da steht alles schon vorher fest.

Heiner Geißler hat schon im Vorfeld erklärt, dass er auf “völlige Transparenz” setzt. Alles müsse auf den Tisch, “alle Argumente, alle Fakten, alle Zahlen”. Gerade diese Absicht könnte die Politik das Fürchten lehren, darauf wurde schon öfter hingewiesen. Alle Fakten auf den Tisch. Hannes Rockenbauch, der Stuttgarter Stadtrat der SÖS, erklärt (als es bei der Schlichtung um die Frage geht, ob die Fakten auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen): “”Alles auf den Tisch”, das heißt auch: alles ins Netz!”. Da haben wir den Salat. Was machen wir jetzt damit?

Interessens- und parteigeleitete Entscheidungsrituale haben es hinter verschlossenen Türen gewiss leichter. Bedeutet das, dass mehr Transparenz und Öffentlichkeit die Beteiligten zu mehr Sachorientierung zwingt? Das werden wir nun in diesem Experiment beobachten können. Auch, ob sich vor laufenden Kameras wirklich Sachargumente gegen medienerfahren vorgetragene Positionen durchsetzen.

Am interessantesten war für mich, die Gesprächssituation selbst sehen zu können: Wie funktioniert so eine Schlichtung? Sehen sich die Leute an, wenn sie miteinader sprechen? Ist jemand überzeugt von dem, was er sagt? Wer kokettiert mit der Kamera? Wer weicht Antworten aus? Wer ist sicher, wer schwimmt? Wer argumentiert auf Sachebene, wer stellt die Autoritätsfrage?

Alte Entscheidungsmuster und Kommunikationsstrukturen funktionieren nicht mehr. Ich denke, es ist kein Zufall, was grade in Stuttgart passiert. Was noch vor 15 Jahren (also zu Projektbeginn) selbstverständlich war, ist es jetzt nicht mehr. Die Gesellschaft ist jetzt eine andere, Geißler hat selbst darauf hingewiesen, im Zeitalter neuer Medien und höherer Informationsverfügbarkeit: Öffentlichkeit ist heute etwas anderes, und das ist gut so.

Einen Effekt hat das Experiment Stuttgart jetzt schon: “Die Experten sollen bitte das, was sie wissen, in eine Sprache umsetzen, die wir auch verstehen”, fordert der Schlichter Geißler, der sicher auch einen guten Erzieher schwererziehbarer Kinder abgegeben hätte. Keine unnötigen Abkürzungen und Fremdworte, keine unleserlichen, kleinteiligen und unverständliche Powerpoint-Präsentationen. Weil “uns so viele zuschauen”. Die das verstehen und nachvollziehen können wollen.

Was für eine Wohltat, dass öffentlich Verständlichkeit gefordert wird. Wenn mehr Transparenz den Effekt hat, dass Experten verständlich kommunizieren müssen – nun, das allein wäre es doch schon wert.

+ + +

* Dass politische Rede auch anders – sprich: diskursiv – sein kann, führte erst kürzlich der Rhetorik-Experte Prof. Wilfried Stroh in seiner fabulösen Dinnerspeach zum Slow Media Symposium des Forums Wertvolle Kommunikation in Gmund am Tegernsee aus.

Abbildung: Cesare Maccari: Cicero klagt Catalina an. Quelle: Wikipedia.

(Beitrag crossgepostet auf TEXT-RAUM)

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Das große Fressen auf dem Lande

Quanto sarà beatissimo lo starsi in villa: felicità non conosciuta.
Leon Battista Alberti, I Libri della Familglia

Die Kroaten, die lassen sich wirklich nicht anschauen, wenn es ums Essen geht. Man merkt auch auf einem 10tägigen Kurzbesuch mit intensiven Wirtshauserkundungen, dass es gegen den persönlichen Stolz der Wirtsleute zu gehen scheint, wenn der Grill einmal ausgehen sollte, bevor nicht jeder Gast mindestens drei unterschiedliche Fleischsorten verzehrt hat. Manche mögen es Völlerei nennen – für mich fängt Erholung mit dem Magen an.

Vor der Fahrt habe ich mir eine Essliste geschrieben, die ich hier gerne veröffentlichen möchte. Schließlich gehört es mittlerweile fast schon zum guten Ton, seinen Konsum zu veröffentlichen, sei es um anderen das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, sei es um diesen ganzen riesenhaften, algorithmischen Datenkraken zuvorzukommen, die eigenen Neigungen schlicht zu kalkulieren.

Meine Planung für den Istrien-Urlaub sah ungefähr so aus:

  • Frische Fuži oder Gnocchi mit Wildragout
  • Filet oder Steak vom Istrischen Ochsen (Boškarin)
  • Unter der Tonhaube pod pekom gegartes Fleisch
  • Trüffel mit frischer Pasta (etwas vegetarisches muss auch hin und wieder sein)
  • Trüffel mit Rinderfilet
  • Trüffel mit Rührei
  • Pršut (istrischer Schinken)
  • Kiloweise Scampi – zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen

Auf den ersten Blick ziemlich viel, aber in 10 Tagen bei einer strategisch günstigen Wahl des Ausgangspunktes mit zahlreichen Bauernhöfen und Konobas (der kroatischen Version des bäuerlichen Wirtshauses) durchaus zu schaffen.

Die am weitesten gereisten Lebensmittel kamen aus dem 80 Kilometer entfernten Pula, alles andere aus den benachbarten Dörfern, Wäldern und Weiden. In Nordwestistrien ist local food kein Problem. Dagegen wäre hier, an der Grenze zwischen der Münchener Schotterebene und dem Voralpenland, eine 50 Meilendiät eine vergleichsweise triste Angelegenheit. So richtig wohlschmeckend ist das Leben eigentlich nur in Regionen, in denen es Olivenbäume, Wein und Trüffel gibt. Raps, Bier und Kartoffel sind kein wirklich befriedigender Ersatz.

Wobei: Auch in München hat es dereinst Weinbau gegeben – noch im 19. Jahrhundert kannte man den Haidhauser Rachenputzer oder den Harlachinger Kindsmörder. Die Weinstadt München bekam aber längst nicht so viel Lob wie die Bierstadt. So urteilte Wiguläus von Kreittmayr: “O glückliches Land, wo der Essig, welcher anderswo mit großer Mühe bereitet werden muß, ganz von selbst wächst.”

Ein paar Kilometer südlich, zwischen Umag und Novigrad liegt die winzige Gemeinde Sveti Pelegrin, die im Wesentlichen aus einer dem Hl Pelegrin geweihten Kirche aus dem 15. Jahrhundert sowie etwa fünf Straßen mit schlichten bis protzigen Sommervillen besteht. Vor 1700 Jahren soll hier der Heilige direkt am Meer seinen Märtyrertod gefunden haben.

Die Literatur schweigt sich über diesen Lokalheiligen, der am 23. Mai verehrt wird, leider aus. Überhaupt ist die Lage bei den vielen heiligen Peregrini etwas unübersichtlich. Die Bezeichnung “fremd” und “zugewandert” passt einfach auf zu viele geistliche Einsiedler. Das Stadlersche Heiligenlexikon kennt über 30 Heilige mit diesem Namen. Der Umager ist nicht darunter.

Heute sieht man an den Autos vor den Häusern den Wohlstand dieses Ortes: SUVs (vor den eher protzigeren Villen) und Oberklassewagen (vor den eher schlichten Villen) ausschließlich mit slowenische Kennzeichen. Wenn man früh morgens durch die Straßen geht, sieht man dieselben Männer, die am Abend zuvor noch bis in die Nacht hinein mit der Familie am gemauerten Grill gesessen ist, in Anzug und Krawatte in ihr Auto hüpfen und nach Ljubljana fahren.

Bei Walter Benjamin blickt der Engel der Geschichte erschrocken in die Vergangenheit und hangelt sich so von Katastrophe zu Katastrophe, von Trümmerhaufen zu Trümmerhaufen. Der istrische Engel der Geschichte scheint dagegen einen eher entspannten Blick auf die Welt zu werfen. Er sieht nicht erschrocken in die Vergangenheit, sondern satt und freundlich, mit ein paar Trüffelkrümeln vom letzten Abend auf den Lippen.

Er blickt auf die Kontinuität zwischen dem römischen Leben in den villae rusticae und den heutigen Sommerhäusern der slowenischen Oberschicht (oder ist es die kroatische Oberschicht, die in Slowenien zugelassene Wagen fährt?)

Im 15. und 16. Jahrhundert entwickelte sich auf der anderen Seite der Adria, in Italien, eine eigene literarische Gattung der Villenliteratur, in denen die innige Verbindung von vita rustica und vita comtemplativa gelobt wurde. Diese Werke waren eine heute eigenartig anmutende Mischung aus philosophischen Betrachtungen und praktischen landwirtschaftlichen Anweisungen. Dabei wird die Landwirtschaft, die santa e pia rusticità sogar als höchste der Künste verehrt, weil sie zum einen die Erzeugnisse für das gesellige Zusammenleben, das gemeinsame Mahl liefert und zum anderen niemandem schadet (sogar den Gedanken der Nachhaltigkeit spürt man hier zwischen den Zeilen immer wieder).

Vor allem wendet sich die Villenliteratur gegen den Handel, der zuvor neben der Landwirtschaft als zweites Standbein der Privatwirtschaft gelobt wurde, als viel zu risikoreich und städtisch. Müßiggang und Schmach, aber auch Risikofreude und Schulden erkennt man direkt am Zustand der Villa rustica: Wo zuvor Weinstöcke und Obstbäume wuchsen, sind nur noch Gebüsch und Dornen: “Perche si come l’otio impoverisse: cosi per l’opposito, l’essercitio in villa inricchisse.” Ich glaube, wir sollten uns diese Literaturgattung in der nächsten Zeit noch einmal ganz genau ansehen.

Literaturtipp: Der hinreißend sperrig übersetzte “Gourmet Führer Nordwest Istriens“, der zum “Umlautschutz” aufruft und mit Formulierungen wie “Dieses Fleisch ist naturell produziert und es stellt ein Ergebnis der Bauern und seine Muehe dar; jetzt wird dieses auch gastronomisch valorisiert” entzückt. Die Empfehlungen sind aber sicherer als die Fremdsprachenbeherrschung. Ebenfalls sehenswert ist die offizielle istrische Gourmet-Webseite, auf der es sogar eine kulinarische Hotline gibt.

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Das postdigitale Zeitalter

The digital revolution is over.
Nicolas Negroponte

Slow Media, also der Fokus auf bewussten, nachhaltigen Mediengebrauch, ist nur eine Strömung inmitten einer sehr viel größeren Entwicklung. Man könnte es ungefähr so formulieren: Wir leben längst in einem postdigitalen Zeitalter. Aber was genau bedeutet postdigital? Der Begriff ist wie die meisten Post-Begriffe äußerst anfällig für Missverständnisse, ja scheint sie sogar herauszufordern. Postdigital heißt gerade nicht, dass digitale Technologien und digitale Medien heute keine Rolle mehr spielen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die tiefe und nachhaltige Durchsetzung der Digitalisierung ist eine notwendige Bedingung für den postdigitalen Zustand.

Darin unterscheidet sich “postdigital” nicht von ähnlich konstruierten Begriffen wie “postmateriell” oder “postkolonial”. Wer von Postmaterialismus oder postmaterialistischen Milieus spricht, meint ebenfalls nicht, dass sich hier bestimmte Bevölkerungsgruppen von ihren materiellen Lebensgrundlagen – ihrem Stoffwechsel mit der Natur – getrennt hätten und nun engelsgleich über den Dingen schwebten. Stattdessen geht es um Personen, deren materiellen Grundlagen nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Nicht die Trennung von den Dingen ist entscheidend, sondern vielmehr eine Art gesunde Langeweile oder Indifferenz ihnen gegenüber. Postmaterialismus heißt, sich nicht mehr von den Dingen gefangen nehmen zu lassen, sondern sie mit einer gleichgültigen Haltung zu gebrauchen.

Ganz ähnlich ist der Begriff “Postkolonialismus” gestrickt, der natürlich die Ära des Kolonialismus ebenso wie ihre oft gewaltsame Aufhebung voraussetzt. Auch hier ist nicht gemeint, dass sich die postkolonialen Subjekte nun völlig unabhängig von den jahrzehntelang etablierten kolonialen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen lebten. Aber die ehemaligen kolonialen Strukturen und Verflechtungen sind jetzt nicht mehr der Feind, der auf jeden Fall bekämpft werden muss (“Antikolonialismus”), sondern ein Fundus an Techniken und Ideen, die instrumentalisiert werden können.

Wie lässt sich dieser Konzept auf das Digitale übertragen? Postdigitalismus beschreibt den Zustand der Gesellschaft nach der erfolgreichen Digitalisierung wesentlicher Lebensbereiche von der Wirtschaft über die Bildung und Kultur bis zur Politik. Die zentralen Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen sind mittlerweile digitalisiert. Und dies nicht nur in den westlichen Industriegesellschaften, sondern zunehmend auch in sogenannten “Entwicklungsländern”, die häufig ohne den Zwischenschritt von Festnetzinfrastrukturen direkt in das mobile Zeitalter einsteigen. Postdigitalismus bezeichnet die wahrgenommene Selbstverständlichkeit dieser Technologien. Die sogenannten “digitalen Eingeborenen”, also die nach 1980 geborenen Alterskohorten, die keine Welt ohne PC, Mobiltelefon und Internet kennen, sind die erste postdigitale Generation.

Dass das Internet und darauf aufbauende Infrastrukturen höchst voraussetzungsvolle Errungenschaften sind, die darüber hinaus viel fragiler sind als es zunächst den Anschein hat – man denke nur an den Rootserver-Ausfall der Denic, durch den mit einem Schlag sämtliche .de-Domains nicht mehr direkt erreichbar waren -, ist der postdigitalen Generation nicht mehr bewusst. Sie sind gegen die neodigitalistischen Heilserwartungen des Internet als ewige Seeligkeit ebenso immun wie gegen den antidigitalistischen Gedanken, mit dem HTTP-Protokoll wäre der zivilisatorische Untergang nun eine beschlossene Sache. Sie sind, ebenso wie oben für den Postmaterialismus beschriebeen, leidenschaftslos. Postdigitalismus heißt, digitale Technologien und Medien nur als Werkzeuge zu benutzen, ja sie bei Bedarf sogar zu versklaven wie früher das Feuer und die Wasserkraft. Auch hier gilt also: Das Internet ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.

Während die Kunsttheorie in den USA schon seit 10 Jahren über den Begriff diskutiert, scheint Postdigitalismus in Deutschland noch nicht nennenswert vorzukommen. Stephan Baumann hat sich kürzlich in einem Interview kurz darauf bezogen – bezeichnenderweise in Verbindung mit Slow Media. In den USA wird zum Beispiel “Glitch“, eine in den 1990ern entstandene Richtung der elektronischen Musik aber auch Medienkunst, als Paradebeispiel für Postdigitalismus betrachtet. Glitch ist durch und durch digital von der Klangerzeugung bis zur Distribution. Gleichzeitig wird das Digitale in der Musik, das mittlerweile in nahezu jeder modernen Musikproduktion eine Rolle spielt, hier radikal zu Ende gedacht. Das charakteristische Erkennungszeichen von Glitch ist das Provozieren und Betonen von digitalen Fehlern. Während sonst Fehlstellen, an denen zum Beispiel eine 1 steht, wo eine 0 stehen sollte, sorgfältig herausgefiltert werden, verwenden Künstler wie Kim Cascone genau solche Fehler, um das digitale Medium selbst sowie die digitalisierten Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen.

Meine Hoffnung liegt darin, dass sich der Umgang mit digitalen Technologien im postdigitalen Zeitalter gleichermaßen entspannt, instrumentell und kritisch sein wird. Entspannt, weil wir allmählich merken, dass es nicht entscheidend ist, welche Plattform oder welches Medium wir verwenden, sondern die Frage ob die vermittelten Inhalte uns inspirieren. Instrumentell, weil wir lernen, dass Algorithmen und digitale Infrastrukturen keine Menschenrechte besitzen. Kritisch, und hier sehe ich die postdigitale Kunst als überlebensnotwendig an, weil wir immer stärker ein Gefühl für die Brüche und Machtstrukturen entwickeln, die sich hinter scheinbar neutralen und unausweichlichen Strukturen verbergen.

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Ein Lob auf das Sommerloch!

„Hier saß ich, wartend, – doch auf Nichts,/ Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/ Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/ Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.“
So zitiert der Rheinische Merkur Nietzsches Fröhliche Wissenschaft für ihr Lob des Sommerlochs.

Saure Gurken Zeit
Auch hier lohnt sich – wie so oft – der Blick in die Wikipedia: “Die ungarische Sprache kennt diesen Begriff ebenfalls als uborkaszezon (Gurkensaison).”
 
Nicht zu vergessen sind auch die Hundstage, benannt nach dem Stern Sirius im Sternbild Großer Hund, das man genau in den heißesten Tagen im August am Himmel in unseren Breiten beobachten kann. Und in Russland heißen dann auch die Sommerferien каникулы.

Sommerloch liegt im Kreis Bad Kreuznach. Im Rheinland gibt es einige “Löcher” – oft düstere Gedanken weckend: Sörgenloch etwa.

Wie uns Wikipedia belehrt, bezeichnet das Loch im Rheinland eine feuchte Mulde – anders als in Süddeutschland, wo Flurnamen mit Loch meist auf eine Lohe, einen Wald hinweisen, also auf eine Gründung zur Rodungszeit im Hochmittelalter.

Seinem Namen als Medienphänomen alle Ehre machend, sieht man das Ortsschild von Sommerloch oft in bemüht lustig gemeinten Metonymien, wenn Journalisten in ungewohnt selbstkritischer Weise berichten wollen, dass es im Augenblick nichts zu berichten gibt.

Das Sommerloch entsteht, weil die Parlamente, die meisten Wirtschaftsfunktionäre und auch die Bundesliga Urlaub nehmen. Und weil man in der Presse dann auch nichts mehr zu sagen hatte, entwickelte sich die Tradition, absurde Boulevard-Themen in aufgeregter Weise wichtig zu schreiben.

“Solange die Minister [in ihrer Sommerlektüre] lesen, können sie nicht in Mikrofone reden.” schreibt der Rheinische Merkur in seinem schönen Lob des Sommerlochs und denkt weiter, wie erholsam es ist, wenn wenigstens in den vier bis sechs Wochen der Feragosto den Mandats- und Leistungsträgern unserer Gesellschaft der Satz erlaubt wird: „Ich weiß es nicht, ich muss über dieses komplizierte Problem erst noch einmal nachdenken!“

“Liegen lernen”. Ein wehmütiger Wunsch nach Verlangsamung, auch nach einem Publikum, dass akzeptiert, wenn Menschen nichts zu sagen haben:

“Wahrscheinlich bleibt die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit ungestillt, wie in den Jahren zuvor. Die Sommerinterviews samt Erwiderungsritual von „Morgenmagazin“ bis „Nachtjournal“ sind sind so sicher wie Elsas Dahinscheiden im Kielwasser des Schwans. Doch Reisende geben nicht auf.
Rheinischen Merkur, zu erkennen, wie stark in Wahrheit das Publikum selbst.”

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Routen

So wenig als möglich sitzen;
keinem Gedanken Glauben schenken,
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung –
in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
(Friedrich Nietzsche)

Gestern passten endlich einmal wieder Terminkalender und Wetter zusammen, so dass ich mit dem Fahrrad die insgesamt 34km zur Arbeit und wieder zurück fahren konnte. Ein bisschen ist das Fahrradfahren durch die Stadt wie das Flanieren – wenn man sich die Zeit dafür nimmt und auch nach rechts und links schaut. Ist Walter Benjamin ein Radler gewesen? Ich denke nicht. Aber zu Benjamins Zeit waren die Autos wohl eher das, was die Räder heute sind.

Besonders angenehm ist an einem solchen Sommertag mit Temperaturen über 30 Grad natürlich die Fahrt aus der Stadt hinaus. Man spürt mit jedem Kilometer, wie das Städtische weicht. Am Stiglmaierplatz und in der Papenheimstraße spürt man noch ganz deutlich die Stadt (obwohl es gar nicht so lange her ist, dass dort, wo heute der Augustinerbiergarten ist, vor den Toren der Stadt die Verbrecher hingerichtet wurden) und radelt an ehemals staatstragend-repräsentativen Bauwerken wie die massige Oberpostdirektion mit ihrem expressionistischen Gebäudeschmuck vorbei – heute hat sich irgend ein halbgebildeter Gentrifizierer in der Hoffnung auf zahlungsfreudige Werbeagenturmieter die sinnfreie Bezeichnung “Art-Deco-Palais” dafür ausgedacht.

Viel zu oft radelt man in der Stadt in einem Pulk. Hier ist die Bezeichnung “Individualverkehr” für das Fahrrad eigentlich gar nicht mehr zutreffend. Die Fahrradkolonne ist in Wirklichkeit schon längst ein öffentliches Personennahverkehrsmittel. Je weiter man sich aber vom Zentrum entfernt, desto mehr Platz hat man zum Fahren. Immer häufiger trifft man auf andere Radfahrer, die nicht in die selbe Richtung fahren, sondern einem entgegenkommen oder den eigenen Weg kreuzen. In der Stadt scheint alles in eine Richtung zu fahren: in die Vorstadt.

Je öfter man denselben Weg zu und von der Arbeit nimmt, desto mehr wird der Weg zur Route, deren Verlauf sich fast schon körperlich in einen hineinschreibt. Meine Route sagt mir genau, an welcher Stelle ich eine Straße überquere und wo ich an einer Ampel stehenbleibe. Sogar die Variationen sind von der Route festgelegt. An mehreren Stellen habe ich die Möglichkeit, von der schnellsten, kürzesten, am besten befahrbaren Route abzuweichen. Aber es sind keine spontan gewählten Veränderungen des Weges, sondern so etwas wie “Standardabweichungen”. Alles andere wäre schon Verfahren. An dieser Stelle hat das Radfahren nicht mehr sehr viel mit dem Flanieren zu tun, wie wir uns das aus 160 Jahren Abstand vorstellen. Wahrscheinlich waren aber auch die professionellen Flaneure des 19. Jahrhunderts viel stärker auf ihre jeweiligen Pfade oder Routinen festgelegt als der Begriff des ungezwungenen, ziellosen Flanieren es uns heute suggeriert.

Wer Tag für Tag immer dieselbe Route nimmt und dabei wenigstens ein bisschen flaniert, wird sensibilisiert für alle Veränderungen, die sich auf dem Weg ereignen. Plakate werden überklebt, Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Vorstadtidyllen werden zu Hauptverkehrsachsen oder nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen verwandeln sich in, nun ja, ehemals nationalsozialistische Vorzeigesiedlungen mit Stoffsegeldekoration und Buddhastatuen. Manche Veränderungen passieren so langsam, dass man sie ohne den Zeitrafferblick des täglichen Vorbeifahrens gar nicht so richtig erkennt.

Die Gleise der ehemalige Straßenbahnlinie 16 zum Beispiel, die noch bis in die 1980er Jahre zum Lorettoplatz gefahren ist, wachsen von mal zu mal dichter zu, bis man sie kaum noch erkennen kann. Jetzt sollen sie endgültig entfernt werden und an ihrer Stelle soll ein Naturlehrpfad entstehen. Nicht dass ich der Meinung wäre, man müsse alles konservieren und auch die ehemalige Verkehrsinfrastruktur, die viel mehr verrät über das Bild der Stadtplaner von ihrer Stadt als die programmatische Literatur des städtischen Bauamts, unter Denkmalschutz stellen. Aber zumindest dokumentieren sollte man die Spuren, die noch übrig geblieben sind von der Zeit, in der man mit der Straßenbahn auf die Gräber gegangen ist und nicht wie heute mit dem Bus. Überhaupt lässt sich der Rückbau des städtischen Schienenverkehrs hin zum Busverkehr an diesem Beispiel sehr deutlich sehen.

Obwohl in diesem Fall die Dokumentation bereits von den Schienenhistorikern übernommen wurde, die vor allem im Internet alle Veränderungen der Verkehrsnetze dokumentieren. Wahrscheinlich treffen sie sich im Kastaniengarten, Münchens gemütlichsten Eisenbahnerbiergarten im Westend mit ordentlicher kroatischer Küche, und tauschen dort ihre Erinnerungen über historische Fahrten aus.

Irgendwann lässt man dann die Stadt ganz hinter sich und taucht ein in die vorstädtischen Parks wie zum Beispiel den Forstenrieder Park oder Forst Kasten im Südwesten Münchens. Dort ist die Luft zwar noch nicht durchgehend kühler, aber wenigstens fährt man ab und zu durch Flecken, die von der Sonne den ganzen Tag über nicht berührt werden. Oder Flecken, an denen der Boden auch Stunden nach dem Gewitterregen noch aufgeweicht ist und die Pfützen nur langsam verdunsten. Die Luft ist vielfältiger hier. Auch werden die Hunde nicht mehr in Fahrradanhängern durch die Stadt gekarrt, sondern laufen neben den Joggern her.

Wenn die Schienen und die Wendeschleife der Tramlinie 16 schon längst verschwunden sind und allenfalls auf Google Maps oder von Luftbildarchäologen erkennbar sind, werden die Spuren der staatlichen Forstwirtschaft immer noch klar sichtbar sein. Die Geräumten Wege des Forstenrieder Parks oder von Forst Kasten werden auch noch die nächsten dreihundert Jahre überdauern, auch wenn es hier nicht mehr darum geht, das Wild dem jagenden Kurfürsten vor das Gewehr zu treiben.