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Religion Slow theory

Über das Fasten

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P. Breughel d. Ä.:Carnival und Fastenzeit

“Mach mich wieder froh.” (Psalm 51,14)

Das ist die Bitte aus dem Psalm zum Beginn der Fastenzeit am heutigen Aschermittwoch.

Trotz eines anhaltenden Trends zum Heilfasten kann man allerdings kaum davon sprechen, dass Fasten und besonders Buße im alltäglichen Sprachgebrauch mit Freude in Verbindung gebracht werden. Man mag darin doch die Sinnesfeindlichkeit und den Hang zur Trieb-Unterdrückung konzentriert sehen, welche dem Christentum gerne unterstellt werden. Fasten bleibt, bei allen Versuchen zur Säkularisation, in der spirituellen – wenn nicht gar Eso-Ecke.

Die aktuelle Rede vom Medien-Fasten regt entsprechend zu hitziger Diskussion an, bei der beide Seiten einander unterstellen, religiös und nicht objektiv zu argumentieren. – Nicht ganz von ungefähr, hatte doch sogar Benedikts XVI., immer für einen Aufreger gut,  im Angelus vom 17.2.2008 die Medien-Enthaltsamkeit zur Unterstützung der inneren Sammlung und Reinigung empfohlen:

“Dazu kann es auch nützlich sein, von der Fülle und Flut an Stimmen und Bildern in unserem Alltag für eine Weile Abstand zu nehmen.”

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Fasten und Diät sind Begriffe, die im Zusammenhang mit Slow Media an verschiedenen Stellen auftauchen, wenn es um den Wunsch nach Heilung einer von manchen empfundenen Überforderung geht, oder um die Unsicherheit, wieweit das eigene Leben inzwischen schon von Medien und insbesondere dem Internet abhängt.  In Ihrem Blog schreibt Jana Herwig unter dem Titel “Twitter-Fasten: Ich tu’s (aber nicht für Schirrmacher und Kluge)”:

“Aber manchmal möchte ich auch wieder ohne diesen [Social-Media-Sinn] sein, möchte nicht in der U-Bahn und in anderen handlungsarmen Momenten zum Smartphone greifen, um zu schauen was sonst los ist, möchte dem Impuls, sich artikulierende Gedanken auch auf Twitter zu verfestigen, mal nicht nachgehen, nicht wissen, wie andere darauf vielleicht reagieren, sondern es nur für mich behalten.”

Auf diesen Beitrag bezieht sich auch Luca Hammer, nach seiner Selbsteinschätzung Autor von bis zu 800 Tweets pro Monat:

“Täglich mehrere Stunden, die ich damit verbringe Tweets zu lesen und zu schreiben. Hochfrequent. Ständig im Kopf. Was würde passieren, wenn ich diese Zeit fürs bloggen einsetzen würde?”

Und auch Ibrahim Evsan, der kaum als Internetskeptiker gelten dürfte, verordnet sich von Zeit zu Zeit eine Internet-Diät: “Wenn ich zu schwer werde, muss ich weniger konsumieren und mich mehr bewegen, wenn mir die Zeit für das reale Leben in der digitalen Welt ‘abhanden’ kommt, muss ich dafür sorgen, dass ich den Social Media Konsum optimiere”

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Buße, μετάνοια, wie in der Begriff im griechischen Evangelientext heißt, bedeutet wörtlich Um-Denken und nicht Strafe, anders, als uns dies heute in Wörtern wie Bußgeld, abgeleitet aus der Lateinischen Übertragung poenitentia mitschwingt. Um umdenken zu können, forderte Benito Cocchi, der Erzbischof von Modena in der Fastenzeit freiwillig an einem Tag der Woche auf SMS, Internet und Fernsehen zu verzichten und so wieder eine Verständiung zu pflegen und nicht nur Kommunikation zu betreiben: “Per tornare a comunicare, invece di komunikare”.

“Denn in der pluralistischen Gesellschaft kommt alles wahllos zur Sprache, was nur immer Neuheit und Sensation verheißt.[…] Doch man muß zu einer kritischen Reife erziehen, die mit Weisheit zu wählen versteht.”

redet Benedikt XVI. seinen deutschen Bischöfen beim Ad-Limina-Besuch ins Gewissen (ohne ihnen damit aber eine Ausrede zur Internet-Verweigerung zu spendieren, denn: “Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die Euch erfüllt” (1 Petr 3,15).”).

Fasten, sagt Thomas von Aquin “… soll die Begierde des Fleisches zügeln, dem Geist die Betrachtung des Erhabenen erleichtern …”.

Durch das Abstand nehmen kann der Blick frei werden, auf die Folgen, die durch unsere Kommunikations-Apparate in der Welt entstehen. Und Benito Cocchi meint damit auch ausdrücklich die materiellen Folgen, denn ein großer Teil unserer elektronischen Ausrüstungen wird durch die abscheulichste Form von Ausbeutung erzeugt, was man sich wohl viel zu selten bewusst macht – und woführ jeder von uns gefälligst ein Stück Verantwortung übernehmen sollte. Bei aller CSR-Rhetorik von der Green IT müssen wir uns doch vor Augen führen lassen, dass wir von Nachhaltigkeit bei unserem Medienkonsum noch sehr weit entfernt sind!

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Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Angesicht, auf daß sie vor den Leuten scheinen mit ihrem Fasten. […] Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht (Mt 6,16-17)

Fasten soll keine Last sein, auch das Medien-Fasten nicht; es möge uns (wieder) froh machen!

Es mag uns einen Anlass geben, über die eigene Verwendung der Kommunikationsmittel nachzudenken, kritisch über die Inhalte zu sehen und auch mit dem nötigen Abstand ein Bild der eigenen, vielleicht zum Glück doch nicht so zentralen Position im Sozialen Netz zu gewinnen:

Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. (Gen 3,19)

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Bücher Medizin Sprache

Kents Materia Medica

Aconitum napellusCalcarea leads to little ideas … it compels the mind to littleness, to little ideas, or to dwell on little things, but his mind … is forced to dwell upon things that he cannot put aside.

Der amerikanische Homöopath James Tyler Kent bezeichnete seine über 1000 Seiten umfassende Materia Medica als Untersuchung nur einiger der wichtigsten Punkte, denn „a complete digest would be endless“. Das Ergebnis sind sehr dichte Beschreibungen von knapp 200 homöopathischen Arzneien. Damit stellt er sich in die Tradition der großen Homöopathen wie Constantin Hering oder Carroll Dunham, übertrifft diese aber in Tiefe und Schärfe. Allein der Eintrag über Sulphur umfasst 138 Seiten.

Das Buch lässt sich auf ganz unterschiedliche Weise lesen: als empirische Skizzen von Vergiftungserscheinungen (“a record of actual occurrences, of events that really took place”) hervorgerufen durch Giftplanzen. Aber gleichzeitig kann man die Kapitel über das Kraut der Hekate, den Eisenhut (Aconitum napellus), die Tollkirsche (Belladonna) – “dolo in terra et loco” – oder den Giftefeu (Rhus toxicodendron) auch als düstere Ausflüge an die Grenzen der menschlichen Vernunft sehen:

The patient feels the violence of his sickness, for he is under great nervous irritation and excitement … Many times he actually predicts the moment or the hour of his death. If a clock is in the room, he may say that when the hour hand reaches a certain point he will be a corpse.

Dieser Ausschnitt aus der Beschreibung des Eisenhutes zeigt für mich deutlich die faszinierende lovecraftsche Intensität der Sprache dieser Materia Medica. Was für ein kindlich-packendes Bild der Todesangst, der Blick auf die Uhr verbunden mit der Wahnvorstellung, an einem bestimmten Punkt ist es dann vorbei.

Besonders faszinierend sind Stellen, an denen man hinter der sehr präzisen und konkreten Beschreibung einen Rest Unübersetzbares spürt. Diesen Lost-in-Translation-Momenten begegnet man in der Traditionellen Chinesischen Medizin immer wieder, zum Beispiel in Beschreibungen wie den auf- und absteigenden Winden, die sich nicht in unsere (Wissenschafts-)sprache übersetzen lassen. Aber auch in den Aufzeichnungen des Amerikaners Kent gibt es solche Spuren, zum Beispiel in seiner Beschreibung des bittersüßen Nachtschattens, Dulcamara, einem homöopathischen Durchfallmittel:

One needs to be in the mountains at the close of the summer season to know what the condition is. If you go into the mountains at such a time, either in the North or the West, you will notice that the sun’s rays beat down during the day with great force, but along towards sunset if you walk out a draft of cold air comes down that will chill you to the bone. This will make the baby sick; it is too warm to take the child out in the middle of the day, and so he is taken out in his carriage in the evening; he has been overheated in the house during the day, and then catches this draft in the evening.

Schon aus diesem Absatz spricht deutlich der Unterschied zwischen der modernen westlichen Medizin und komplementären Systemen wie der Homöopathie – er steckt in der Sprache und der Rolle von Metaphern. So geht es in der Homöopathie immer wieder um Phänomene, die sich nicht aus ihrem jeweiligen Kontext loslösen und in eine objektive, neutrale Sprache übertragen lassen. Der partikulare Dulcamara-Zustand lässt sich nicht ohne große Verluste in universalistische Kategorien wie Frösteln, Fieber und Durchfall übertragen.

Die Materia Medica von James Tyler Kent wurde zuletzt von B. Jain Publishers in New Delhi aufgelegt und lässt sich am bequemsten direkt aus Indien, zum Beispiel bei Aggarwal Overseas bestellen. Preis ca. 13 EUR inkl. Porto (Luftpost).

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Abbildung aus der Flora von Deutschland Österreich und der Schweiz (1885) aus der Virtuellen Biologischen Bibliothek

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Bücher

Moby-Dick von Herman Melville

Moby-Dick or, the Whale“Call me Ishmael.”
Die Spielhandlung von “Moby-Dick or, The Whale” ist knapp, spröde wie der erste Satz des Romans. Wenn man sie jemanden erzählt, der das Buch nicht kennt, muss dieser den Eindruck bekommen, es handle sich um eine Novelle oder Kurzgeschichte. Nicht zuletzt deshalb eignet sich die Geschichte vom Kapitän Ahab, der in seiner Raserei gegen den weißen Wal Schiff und Leben verliert, gut, verfilmt zu werden. Kein Wunder, dass auch ich meine erste Begegnung mit “Moby-Dick” dem hervorragende Europa-Hörspiel zu verdanken habe.

Um diese novellenartige Handlung baut Herman Melville seine Texte, Essays, Reportagen, die oft nur noch sehr lose mit dem Handlungsgerüst verbunden sind. Und diese Textsammlung – denn das trifft den Corpus “Moby-Dick” erheblich besser, als der Begriff Roman – ist es, was mich das Buch immer wieder, jedes Jahr zur Hand nehmen lässt. Neben Zettels Traum und Fluß ohne Ufer” ist es das sloweste Buch, das ich kenne. Empfehlenswert ist die Penguin-Ausgabe mit Einführung, Glossar mit schönen wie aufschlussreichen Abbildungen aus zeitgenössischen Stichen, die insbesondere die nautischen Fachbegriffe schnell verständlich machen.- Man kann es Aufschlagen, und findet Erbauung an jeder Stelle.

Großartig, wie Melville anhand der multiethnischen Seefahrer-Gemeinschaft von Nantucket eine bewunderswerte kosmopolite Toleranz skizziert. Jeder ist beim Walfang akzeptiert, mag der kultureller Hintergrund noch so fremdartig sein. “We canibals must help these Christians.” raisoniert Queequeg, der ozeanische Harpunier und kehrt die koloniale Perspektive damit einfach um. Aus Randnotitzen, wie der Frage nach der Zubereitung der Chowder, “Clam or Cod?”, entwickelt sich ein ganzes Kapitel über fischiges Essen.
Und schließlich entfaltet uns Melville in zahlreichen Passagen geradezu eine Kulturgeschichte des Walfangs, beginnend mit einer Cetologie, der wissenschaftlichen Walkunde, bei der er sich überaus kritisch und kenntnisreich mit der zeitgenössischen zoologischen Forschung auseinandersetzt; um dann aber wieder in eine überaus merkwürdige Methapher abzugleiten, in welcher die Wale mit Büchern einer Bibliothek verglichen werden, von den Folianten – Blauwal und Pottwal – bis zu den Klein-Oktav-Bänden, den Delphinen und Tümmlern.

Bei all der erzählerischen Ablenkung vergisst man jedoch nie, worum es im Buch tatsächlich geht; denn es schwingt stets düster die Vorahnung der Katastrophe mit. Die Namen tragen gleichsam das Geschick ihrer Träger. Der Erzähler Ishmael (“Gott hat erhört die Stimme des Knaben”, Gen 21,17, wird also gerettet, aber:), das Schiff, die Pequot, benannt nach einem im 18 Jahrhundert ausgerotteten Indianerstamm, ihre Eigner, Captain Peleg (hebräisch “Zerteilung”, Gen 10,25) und Bildad (“Auch der Mond scheint nicht helle, und die Sterne sind nicht rein vor seinen Augen: wie viel weniger ein Mensch, die Made, und ein Menschenkind, der Wurm.” Hiob 25,5).

Und nicht zuletzt die tragische Hauptperson, Kapitän Ahab (“Dass Ahab mehr tat, den HERRN, den Gott Israels, zu erzürnen, denn alle Könige Israels, die vor ihm gewesen waren.” 1 Könige 16,33).

Ahab führt uns zum Grundmotiv von Moby-Dick: Erhabenheit; die Erkenntnis der Machtlosigkeit des Menschen vor der Natur.

Zunächst scheint es noch, als sei es vor allem die Natur da draußen, verkörpert durch die wilde See und den Wal, die uns fremd bleibt und feindseelig gesinnt ist. Doch mehr und mehr wird im Laufe der Geschichte klar: es ist unsere eigene Natur, die wir in unserem Inneren tragen, der wir nichts entgegensetzen können. Sie ist es, vor dem wir am Ende des Buches Angst empfinden können.
Anders, als das Holzbein, das Ahab trägt, mit dem er umzugehen gelernt hat, so dass seine Einbeinigkeit für die Mitreisenden nicht mehr als Behinderung wahrgenimmen wird, sind die Verletzungen der Seele nicht offensichtlich. Wir können nur erahnen, welche Schmerzen Ahab auf den Wal projeziert, durch dessen Tod er für sich Erlösung erhofft.

He piled upon the whale’s white hump the sum of all the general rage and hate felt by his whole race from Adam down; and then, as if his chest had been a mortar, he burst his hot heart’s shell upon it.

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Alltag Slow theory

Slow Down Week

Die Slow-Media-Bewegung gewinnt allmählich an Kontur. Gerade eben habe ich auf der Adbusters-Webseite ein sehr schönes Plädoyer für eine “Slow Down”-Woche gefunden. Das Video hat bei mir ehrlich gesagt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen (abgesehen von der Tatsache, dass es nicht auf anderen Webseiten eingebettet werden kann – vielleicht eine bewusste Verlangsamung der Verbreitung?), dafür ist der Text umso besser. Denn hier wird gerade nicht für eine elektronische Devolution geworben, sondern dafür, unser modernes Leben anders zu leben:

To slow down, we don’t have to stop moving – we just have to move in different, more meaningful ways.

Das könnte man auch als Essenz unseres Manifests lesen. Es geht gerade nicht um eine Rückkehr zu einer vormodernen Mediennutzung, sondern darum, die medialen Angebote des 21. Jahrhunderts bewusster und besser zu nutzen. Was für den Kaffeekonsum gilt – “Chat with the owners, smile at a stranger and sip your latte from a mug rather than dashing off with a cardboard cup” – sollte meiner Meinung nach auch für den Medienkonsum möglich sein.

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Miscellen Slow theory

Jetzt zu lesen: “The Slow Media Manifesto”

Unlike a work of literature, translation does not find itself in the center of the language forest, but on the outside facing the wooded ridge; it calls into it without entering, aiming at that single spot where the echo is able to give, in its own language , the reverberation of the work in the alien one.
Walter Benjamin, “Task of the Translatior”

Über den Umgang mit der Sprache beim Übersetzen hat Sabria David vor kurzem an dieser Stelle geschrieben. Unser Versuch, das Slow Media Manifest ins Englische zu übertragen, steht nun öffentlich:

The Slow Media Manifesto translated in English.

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Slow theory

Alles slow auf der Berlinale

Dieses BZ-Interview mit den Organisatoren der 60. Berlinale Dieter Kosslick, Christoph Terhechte und Wieland Speck ist schon etwas älter, der Absatz über Slow Media von Kosslick ist mir aber erst jetzt aufgefallen:

In zwanzig Jahren werden wir wahrscheinlich Overalls tragen wie die Leute von der BSR, weil wir dann nämlich die audiovisuelle Datenmüllabfuhr sind, als Kuratoren. Als Programmmacher. Wir brauchen nicht nur slow food, sondern auch slow life und slow see und alles slow. Die Maschinen bringen den Menschen in Situationen, wo sie nicht mehr reagieren können. Wir als Filmfestival sortieren gewissermaßen die Spams raus und versuchen, etwas anzubieten, was Sinn ergibt. Ich dachte immer, dass Filmfestivals auch wichtig wären, weil sie gesellschaftliche Treffpunkte sind. Aber diese Funktion gerät in den Hintergrund gegenüber der Aufgabe zu kuratieren, Programm zu machen.

Abgesehen von der spannenden Idee einer Berlinale, die sich ganz auf Slow Movies konzentriert, finde ich den letzten Punkt auch für die Debatte über Social Media wichtig: Man sollte Social Media nicht auf den Social-Aspekt reduzieren, sondern immer auch den Media-Aspekt beobachten. Denn es wird in Zukunft viel stärker um das Kuratieren von Inhalten, Gedanken und Erlebnissen gehen – eine Funktion, die von Menschen nach wie vor besser (anders?) geleistet werden kann als von Maschinen.

Obwohl der Kurator nah am Redakteur ist, finde ich den Begriff für die digitale Kultur passender. Der Kurator bewegt sich nicht innerhalb der starren Grenzen eines Mediums, sondern zu seinen Aufgaben gehört gerade auch das Entwerfen und Gestalten angemessener Ausstellungs- Wissens- oder Erfahrungsräume – real wie virtuell -, wofür dann wiederum eine Debatte über neue Medienkompetenz erforderlich wird. Außerdem eine Debatte über Medienverantwortung – weil man hier nicht nur Programmchef der eigenen Biographie wird, sondern – hier kommt dann der Social-Aspekt wieder hinein – auch der Medienrealität anderer Leute.

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“L’idée vient en parlant”: Kleist über Twitter

Heinrich von Kleist

Jörg Blumtritt hat gestern einen schönen Beitrag über Twitter geschrieben. Damit haben sich die Autoren des Slow Media Blogs endgültig als Twitter-Fans geoutet. Twitter, ein Schwarm von Vogelgesaengen. Eine Volière, die – wie es Wikipedia so unvergleichlich formuliert – den “Freiflug der Insassen ermöglicht”, und nicht nur den der Insassen, sondern auch die Freiflüge aller anderen, die sich durch die geräumigen und durchlässigen Begrenzungstäbe dort hineinwagen.

Zu der gestern bereits angeführten Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Twitter möchte ich ein paar Gedanken ergänzen. Beginnend mit einer Frage: In welcher Zeit findet das Ganze eigentlich statt? Die Sprache verrät es uns: “What are you doing?” lautete die Eingangsfrage von Twitter (bis sie von dem jetzigen “What’s happening?” abgelöst wurde). Die digitalen Frei- und Höhenflüge finden also in der Verlaufsform statt, im englischen “present progressive“, der sogenannten -ing-Form. Sie wird verwendet, wenn “das Geschilderte im erzählten Moment (…) gerade passiert” (ein Äquivalent wäre die Rheinische Verlaufsform des “Ich bin am twittern”). Auch das Partizip Präsens Aktiv drückt Gleichzeitigkeit aus: unser Zustand ist schreibend, denkend, sprechend, twitternd.

Die Twitter-Zeit ist auch das Partizip Präsens des „L’idée vient en parlant“ (die Idee kommt während des Sprechens). Heinrich von Kleist prägte diesen Begriff 1805 in Analogie zu der französischen Redewendung “L’appétit vient en mangeant” (der Appetit kommt mit dem Essen). Er schreibt es in seinem großartigen Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”, und ich möchte die Behauptung aufstellen, dass Kleist hier über Twitter schreibt. Er empfiehlt darin, wenn man nach stundenlangem Brüten in einer Gedankensackgasse steckt, das Gespräch mit einem anderen zu suchen. Im Gespräch mit einem Gegenüber kommen die eigenen Gedanken in Fluss, nehmen Gestalt an, gewinnen Konturen und formen sich zu einer klaren Argumentation. Kleist spricht hier nicht vom Wiedergeben bereits fertiger Gedanken, sondern von einem Sprechen als “ein wahrhaft lautes Denken”. Die Sprache sei dann wie ein “zweites, mit [dem Rad des Geistes] parallel fortlaufendes Rad”. Er spricht also auch von Gleichzeitigkeit, von Gleichzeitigkeit des Sprechens mit der Entwicklung des Auszusprechenden.

Das ist auch bei Twitter möglich. Auch bei Twitter kann “ein lebhaftes Gespräch [entstehen], eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen” – allerdings nicht nur wie Kleist noch voraussetzte in der mündlichen Rede, sondern auch in der quasimündlichen Schriftform der digitalen Welt. Inspiration und Inspirierendes, die Konzentration und Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, der im Begriff ist, sich im Jetzt und im Diskurs mit einem Gegenüber zu entwickeln: In diesem Punkt finden Kleists Essay, Twitter und unser Slow-Ansatz zusammen.

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Schoenheit von Vogelsang

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“Every time I hear about Twitter I want to yell Stop. The notion of sending and getting brief updates to and from dozens or thousands of people every few minutes is an image from information hell. It scares me, not because I’m morally superior to it, but because I don’t think I could handle it.”

Die Kalte Panik vor der Informationshölle, die George Packer – Autor und Korrespondent der New York Times – mit Twitter verbindet, wie er in seinem in seinem Blog-Post beschreibt, können viele Menschen derzeit gut nachvollziehen; nicht zuletzt ist die Flüchtigkeit von Twitter das Wunderbare aber auch Erschreckende: nichts scheint von wert, nichts von dauer.

“Aufklärung braucht Zeit – und die fehlt im Netz”, sagt der Philosoph Markus Gabriel im Interview auf FAZ.net – und auf Twitter, möchte man ergänzen, ist sofortige Vergänglichkeit sogar ins System eingebacken – selbst die Twitter-eigene Suche geht nur zwei Tage in die Vergangenheit zurück. All die schönen Gedanken versinken so schnell in den Tiefen der Timeline, dass wir wohl verweilen möchen; aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der uns unaufhaltsam in die Zukunft treibt.

Betrachtet als Nachrichtenkanal, finde ich Parkers Panik über Twitter besonders gut nachvollziehbar. Jede Nachricht, die mich (per Re-Tweet) zum zweiten Mal erreicht, erscheint veraltet, irgendwie nicht mehr relevant. Und wie trostlos, wenn selbst der absolute Medien-Mainstream tausende Mal per Re-Tweet repliziert wird, wie heute: “Man Resigns On Twitter per Haiku”.

Doch gerade diese Meldung führt uns auf etwas an Twitter, das schön und wertvoll ist: Lyrik und Aphorismus, Schönheit in sprachlicher Reduktion. Das bemerkenswerte an der Rücktrittserklärung des Sun-CEOs ist nicht, dass er sie über Twitter bekannt gibt. Twitter ist der effizienteste Kanal für Mitteilungen dieser Art, das pfeifen die Heerscharen der Social-Media-Consultants schon seit Jahren von den Dächern. Bemerkenswert ist, dass Jonathan Schwartz die Versform des Haiku wählt. Kurze, tatsächlich gedichtete oder zumindest stark in ihren Silben schwingende Ausrufe sind für mich das Schöne an Twitter. Eine Meldung wie “Mars can be seen all night” mag einen tatsächlichen astronomischen Hintergrund haben. Als einzelner Vers betrachtet, werden die sechs einsilbigen Wörter zum Mythos, indem wir den Kriegsgott siegreich über das gesamte Reich der Neith erblicken.

Sieht man Twitter nicht als Kurznachrichten-Dienst, sondern nimmt das Bild ‘Vogelgezwitscher’ ernst, verliert die nimmer endende Flut von Text ihren Schrecken – es ist keine Information sondern wird gleichsam zu Musik, einem Strom, auf dem man sich treiben lassen kann.

Sound of vernal showers
On the twinkling grass,
Rain-awaken’d flowers—
All that ever was
Joyous and clear and fresh—thy music doth surpass.

Teach us, sprite or bird,
What sweet thoughts are thine:
I have never heard
Praise of love or wine
That panted forth a flood of rapture so divine.
(Shelley, To a Skylark)