At instant speeds all reaction and adjustment are inevitable but too late to be relevant.
McLuhan
ἔρρει τὰ κᾶλα. Μίνδαρος ἀπεσσύα. πεινῶντι τὤνδρες. ἀπορίομες τί χρὴ δρᾶν.
Xenophon, Helenika
Heute vor 20 Jahren wurde die erste SMS verschickt. Und mit der SMS beginnt das Zeitalter der Kurznachrichten, der asynchronen Echtzeit-Kommunikation und die Epoche der Lakonie. Aus der SMS wurden Twitter, Foursquare, Facebook, Whatsapp, … zur Zeit werden alleine ca. 300.000 SMS pro Sekunde versendet.
Mit der SMS haben wir gelernt, unser Leben genau dort und dann organisieren, wo wir gerade gehen oder stehen, ohne darauf angewiesen zu sein, den Anderen “an die Leitung” zu bekommen. Auch wenn es schon zuvor Pager gegeben hatte – die Integration in ein Gerät, das Mobile Fon, mit dem wir nicht nur telefonieren und texten, sondern bald auch fotografieren konnten und heute mehr und mehr unsere ganze Kommunikation abwickeln.
SMS, Short Messaging Service, 140 Zeichen Text (wobei viele Provider bis zu 255 Zeichen zulassen, zumindest in lateinischem Alphabet). Die SMS hat uns erzogen, uns kurz zu fassen. Wir haben mit ihr eine neue und äußerst effiziente Sprache entwickelt, lakonisch, ganz wie wir es von den alten Sprachen her kennen.
Die Lakonie hat ihren namen von den Lakedemoniern, den Spartanern. Xenophon überliefert, wie oben zitiert, eine Depeche, die der spartanische Vizeadmiral während der Schlacht von Kyzikos an seine Heimatstadt schickte. Die einzeilige Nachricht wurde von den Spionen Athens abgefangen und so – irronischer Weise – der Nachwelt erhalten:
“Boote gesunken, Mindarus tot, Männer hungrig, mit unserer Weisheit am Ende.”
Die äußerste Knappheit der Ausdrucksweise wurde bald sinnbildlich mit Sparta verbunden, so wie wir die Reduktion aufs Wesentliche, den Verzicht auf alles Beiwerk auch heute noch spartansich nennen.
Welche Bedeutung hat die SMS, haben Kurznachrichten für uns heute, nach zwanzig Jahren? Jedes neue Medium, sagt McLuhan, können wir in vier Aspekten betrachten und so ein besseres Bild davon bekommen, was dieses Medium in unserer Gesellschaft und Kultur bewirkt:
1. Was wird durch das Medium verbessert?
2. Was wurde verdrängt?
3. Was, das verloren war, taucht wieder auf?
4. Wohin kippt die Entwicklung, wenn sich das Medium vollständig durchgesetzt hat?
Diese Tetrade, bezogen auf Kurznachrichtendienste könnte folgendermaßen aussehen:
Verstärkt Effizienz, Gemeinschaft, Kontrolle |
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Holt wieder hervor Vers, Metapher, Lakonie, Gespräch |
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Medium: SMS /Kurznachrichten |
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Schlägt um in Memetische Kommunikation, Shitstorm, Piraten, Arab Spring,
BigData, Slow Media |
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Macht überflüssig Pager, Anrufbeantworter, Briefwechsel, Zeitung, TV-Nachrichten |
Das Tetraden-Modell von McLuhan: vier Aspekte auf die Wirkung von Medien auf Kultur und Gesellschaft. |
1. Kurznachrichten erhöhen die Effizienz. Wir teilen uns anderen in Echtzeit mit, in knappen Worten, hochkonzentriert und sind dabei unabhängig davon, ob der Empfänger gerade empfangsbereit ist. Der stetige Austausch verstärkt Gemeinschaft. Nicht nur, dass wir über Kurznachrichten leicht eine größere Anzahl von Leuten koordinieren können – wenn wir uns heute mit Freunden im Biergarten verabreden, machen wir nur selten einen genauen Treffpunkt aus – wir organsieren uns spontan. Durch “ich bin hier und habe dies und jenes erlebt” teilen wir unsere Gedanken, Gefühle und unsere Erlebnisse ganz unkompliziert und kontinuierlich mit anderen. Auf diese Weise bedeutet SMS, Twitter, Foursquare etc. auch Kontrolle: wir können von anderen verlangen uns zu informieren, ja, wir erwarten es sogar – “bei dir war besetzt” oder “du bist nicht dran gegangen” haben als Ausreden ausgedient.
2. Die SMS hat offensichtlich den Pager überflüssig gemacht. Aber – auch wenn viele das noch nicht begriffen haben – auch den Anrufbeantworter oder, wie man heute sagt, die Mailbox: es ist lästig, sich aus dem aufs Band gesprochenen Wort, den relevanten Inhalt herauszuhören, Telefonnummern oder Daten herauszuschreiben, wo man per SMS, Twitter oder anderer Kurznachrichtendienste die wichtigen Information einfach direkt ziehen könnte, die schriftlich und elektronisch zu verarbeiten ist, bieten doch die meisten Telefone die Möglichkeit, Telefonnummern aus Nachrichten direkt anzuwählen.
Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es die SMS ist und nicht die Email, die den Briefwechsel verdrängt. Die Mail ist formal immernoch ein Text mit nahezu beliebiger Länge; auch wenn sie in der Regel schneller ausgeliefert wird, als der Brief, teilt sie alle anderen Nachteile: schnell ist das Postfach voll; bevor man die langwierigen Ausführungen eines Briefes aufgenommen und in ein Antwortschreiben verdaut hat, sind bereits jede Menge Dinge geschehen, die den Inhalt des Briefes veralten lassen, jede Menge weiterer Nachrichten, Mails oder Briefe eingetroffen, die ebenfalls nach Antwort und Bearbeitung heischen. Der Briefwechsel als Literaturgattung – oft seitenlanges Geschwurbel – ist nicht mehr zeitgemäß und unbestreitbar auf dem Rückzug; es ist genau 15 Jahre her, dass ich den letzten Brief schrieb – und auch nur, weil der Empfänger damals bereits 80 Jahre alt war. Die Nachfolge – der Email-Thread wird es, das kann man wohl schon heute sagen, bis auf Ausnahmen kaum schaffen, etwas Hervorzubringen, das wir literarisch nennen wollten.
Sprichwörtlich ist das Ende der klassischen Nachrichtenmedien durch Twitter. Dabei ist es nicht nur die mangelnde Aktualität von Zeitungen oder TV-Nachrichten im Verleich zur Echtzeit-Kommunikaiton der Kurznachrichten – es ist vor allem der mangelnde Filter. Bekommen wir bei Zeitung oder TV stets das Gefühl, zu erfahren, was wir gar nicht wissen wollten, während wir das wirklich wichtige vorenthalten bekommen und verpassen, suchen wir uns in unserer Timeline genau die Menschen, deren Aussagen wir für relevant halten. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht auf das Problem der Filter Bubble eingehen, also das Phänomen, dass wir uns durch unsere Timeline in unserer eigenen Realitätsblase gefangen bleiben. Es geht mir auch nicht darum, zu erörtern, ob es vielleicht doch besser wäre, wir würden dennoch weiter Zeitung gelesen haben – die Tatsache ist, dass die klassischen Nachrichten durch die asynchrone Echtzeitkommunikation in der Nutzung bald vollständig verdrängt werden.
3. Es gibt eine Form des sprachlichen Ausdrucks, die perfekt auf die 140 Zeichen der Kurznachrichten ausgelegt ist: der Vers. Verse sind das wichtigste Hilfsmittel der mündlichen Überlieferung. Jeder Satz ist ein einfacher Einzeiler. Satz um Satz kann man sich die Sage, das Märchen, die Ballade einprägen. Ein Text, der in lauter einfache, etwa gleich lange Sätze aufgeteilt wird, erhält von selbst einen Rhythmus. Der Vers wurde im Zeitalter des Buchdrucks an den Rand der Literatur verdrängt – eine reine Kunstform, ohne praktischen Nutzen, da der Platz im gedruckten Text nahezu unbegrenzt war und durch die beständigkeit ein Auswendiglernen nicht mehr von Nöten. Mit der SMS kommt der Vers zurück, der Aphorismus, der Einzeiler. Und da poetische Sprache sich durch höchste Verdichtung ausdrückt, in Metaphern ganze Bilder in wenige Worte mit mehreren Bedeutungsebenen zusammenfasst, ist es kein Wunder, dass die Sprache der Kurznachrichten oft sehr metaphorisch ist.
Aber nicht nur das Vershafte der Kurznachrichten erinnert an mündliche Tradition. SMS, Twitter etc. sind in ihrem Kern keine Text-Medien, sondern vielmehr Gespräche, Austausch von Rede und Gegenrede, oft nicht nur im Dialog, sondern über eine ganze Gruppe von Teilnehmern.
4. Wir erleben bereits, wie sich unsere Kultur durch Kurznachrichten verändert. Über den Memetic Turn haben wir hier bereits öfters geschrieben. Metaphern, Bildhafte Ausdrücke, deren Bedeutung sich nur dem vollständig erschließt, der kulturell eingeweiht ist, der den Kontext versteht und das Bild lesenkann, erzeugen in hohem Maß Gemeinschaftlichkeit. Katzenbilder sind der Kitt unserer Gesellschaft.
Durch die Unmittelbarkeit, das “ich kann sofort Antworten” erleben wir häufig, wie sich Nachrichten in positiven Regelkreisen schnell zum Sturm aufschaukeln, besonders, wenn es um Empörung geht: der Shitstorm ist eine Figur der Kurznachrichten-Epoche.
Die Kultur der Piratenpartei hängt ebenfalls stark mit Kurznachrichten zusammen. Hochgradig memetisch – kein Tweet ohne hermetischen Hash-Tag, hochgradig selbsterregend und für Außenseiter bis ans Unhöfliche grenzend knapp und direkt. Auch wenn es inzwischen mehr als dreißig tausend Piraten-Mitglieder in Deutschland gibt, der Kern, das Netz der bundesweit Aktiven informiert und organisiert sich nicht über Mailinglisten oder Wiki, sondern über Twitter; “140 Zeichen muss reichen”.
Ich bin überzeugt, dass die meisten der politischen Erhebungen der letzten Jahre eng mit der SMS-Kultur verwoben sind. Ich sage nicht, dass wir den Arab Spring ohne Twitter oder Facebook nicht erlebt hätten, aber die Kurznachrichten geben dieser neuen Form von Selbst-Ermächtigung ganz wesentlich ihr Gepräge.
Neben den Suchmaschinen, sind es die Kurznachrichten, deren Sturzflut zu einem neuen Paradigma in der IT geführt hat: BigData. So groß ist das Volumen, so schnell kommt immer Neues nach und muss in Echtzeit verarbeitet werden, dass die alten Regeln für Hardware, Betriebssysteme und Datenbanken schnell aufgegeben wurden. Kurznachrichten sind Gespräche, die in Text-Form vorliegen. Damit sind sie maschinell leicht auszuwerten; es ist sind nicht nur Volume und Velocity, auch Machine Learning wird durch die Kurznachrichtenrevolution aus seinem Dornröschenschlaf erweckt.
Und schließlich: wenn Real-Time Realität ist, wenn es also nicht mehr darum geht, Kommunikation zu beschleunigen, weil sie bereits in der völligen Gleichzeitigkeit angekommen ist, muss unser Ziel jetzt sein, zu verstehen, was geschieht. Wir können uns jetzt darauf konzentrieren, was uns wichtig und was uns wertvoll ist.
Slow Media ist unsere Antwort, die Synthese der SMS-Tetrade.
Zwanzig Jahre Kurznachrichten – ein historischer Zeitabschnitt von allergrößter Bedeutung für die Kultur in sehr vielen Teilen der Welt, aber vor allem für uns, für mich, ganz persönlich.
Vita brevis,
ars longa,
occasio praeceps,
experimentum periculosum,
iudicium difficile.
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