“Privacy invasion is now one of our biggest knowledge industries.”
“The more the data banks record about us, the less we exist.”
Marshall McLuhan
“Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.”
Immanuel Kant
“Being socially exposed is OK when you hold a lot of privilege, when people cannot hold meaningful power over you, or when you can route around such efforts. Such is the life of most of the tech geeks living in Silicon Valley. But I spend all of my time with teenagers, one of the most vulnerable populations because of their lack of agency (let alone rights). […] The odd thing about forced exposure is that it creates a scenario where everyone is a potential celebrity, forced into approaching every public interaction with the imagined costs of all future interpretations of that ephemeral situation. “
Diese Sorge teile ich voll und ganz mit danah boyd. Üblicher Weise wird den Kindern und Jugendlichen geraten, sich “vor den Gefahren des Internet” in Acht zu nehmen. Aber was heißt das? Sollen sie sich vom Austausch mit anderen auf Facebook fernhalten? Und wie sollte ein Jugendlicher seinen Altersgenossen oder Freunden verbieten, Fotos zu posten, auf denen er vielleicht zu sehen wäre? (Die Option, ungewollte Fotos über die Eltern “klären zu lassen” besteht im wahren Leben nicht wirklich – von krassen Verunglimpfungen oder Mobbing vielleicht abgesehen).
Wir haben keine Wahl. Entweder wir gelten als Sonderlinge, gar als Ludditen, oder wir werden einen breite Spur von Daten in der Welt zurücklassen. Mit der Zeit entsteht durch unser Verhalten im Netz ein Abbild unserer selbst, eine Projektion in die Datenwelt. Dieses Bild von uns liegt mehr oder weniger offen zu Tage. Und viele heimliche bis unheimliche Gesellen blicken uns im geheimen durch den Spiegel der Daten in unser Leben – Google, Facebook, Targetingsysteme und Shop-Empfehlungsmaschinen und schließlich auch die staatlichen Sicherheitsdienste, die hinter den Datengardinen auf unsere Verfehlungen lauern.
Aber die Indiskretion ist nicht auf professionelle Datenkraken beschränkt. Die Profile mit unseren persönlichen Informationen, unsere Posts, unsere Check-Ins – alles kann sich jeder, der möchte, ansehen. Und zum Teil wollen wir das ja auch: selbstverständlich freue ich mich über Leute, die mir auf Twitter folgen und ich habe einige meiner besten Freunde in Social Networks kennengelernt. Social Media funktionieren über Authentizität – diese Phrase ist schon so oft gesagt und geschrieben worden, dass sie vollkommen schal daherkommt! Aber es stimmt: wenn wir nicht offen sind, tatsächlich über uns selbst sprechen, werden wir kaum Kontakt zu anderen schließen. Es ist Teil der Kultur in Social Media (wie auch sonst im sozialen Leben), Dinge über uns preiszugeben, obwohl diese von anderen auch gegen uns verwendet werden könnten. Ich habe zum Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr an mindestens fünf Tagen über Wein (seltener Bier oder andere alkoholische Getränke) geschrieben. Natürlich möchte ich, dass Leute, die sich für mich interessieren, dies auch lesen können, wenn sie wollen. Wie wäre es aber, wenn jemand einen “Jörg trinkt”-Bot einrichten würde, der eine Statistik über meine Wein-Tweets führt uns publik macht? Aus dem Kontext gerissen würden meine Wein-Tweets ein ganz und gar ungünstiges Bild von mir zeichnen. (Das Beispiel verdanke ich Benedikt).
Nach meiner persönlichen Erfahrung ist der Schaden, sind die Kränkungen, die durch “manuellen” Datenzugriff an uns entstehen wesentlich schwerwiegender, als das professionelle Analysieren der Daten-Kraken zu kommerziellen Zwecken. Und während bei diesen sich Datenschutz und Persönlichkeitsrechte juristisch fassen und häufig, z.B. via ‘Unlauterer Wettbewerb’ sogar durchsetzen lassen, sind Übergriffe auf Daten durch Einzelne kaum sinnvoll durch Gesetze zu regeln. Wo fängt der Stalker an, wo die Beleidigung oder üble Nachrede? Und schon gar nicht gut ist es, wenn das Opfer sich wehren muss – der ‘Streisand-Effekt’, Hohn und Spott über jemand der eben ‘die Regeln nicht versteht’ und so dumm ist, sich auch noch zu widersetzen.
“Es haben ja eh schon xyz viele Leute gesehen, also mache ich es mal ganz öffentlich ist nunja, ein blödes Argument.”
twittert Sylvia Poßenau und das klingt fast wie die Übersetzung des Kernsatzes aus danah boyds Essay:
“Just because people can profile, stereotype, and label people doesn’t mean that they should.”
Aber was soll/darf “man” mit den Daten? Wo ist die Grenze?
Die Antwort liefert Sylvia Poßenau gleich mit: Datenhöflichkeit.
Höflichkeit ist eine kulturelle Technik, um Distanz zu wahren. Wir sind höflich, um unseren Abstand zu anderen zu organisieren und ihnen nicht zu nahe zu kommen.Höflich ist man durch Einhalten von Grenzen, die nicht durch Gesetze oder anders verschriftlichte Regeln definiert sind, sondern durch ein Verständnis, durch Achtung und Respekt dem anderen gegenüber. Höflichkeit ist der Esprit de Conduite, der gute Geist des Verhaltens. Was in Antike und Mittelalter als religiöse oder untertänige Pflicht erklärt wurde, erlebt in der Aufklärung seine philosophische Entfaltung. War dieser Esprit am Hofe Ludwigs XIV. noch Teil der Machtausübung des erstarkenden Königs gegen die schwächer werdenden Fürsten, wird er nach der französischen Revolution zu einem bürgerlichen Gut. Und die Maximen zum guten Handeln, die Kant für die Menschenwürde formuliert, werden schließlich von Adolph von Knigge in seinem Ratgeber “Über den Umgang mit Menschen” zu Handlungsempfehlungen für den Alltag.
Noch vor der Erfindung des Web hatte die Community der ersten User im Internet die Netiquette formuliert. “When someone makes a mistake – whether it’s a spelling error or a spelling flame, a stupid question or an unnecessarily long answer – be kind about it.” – Höflichkeit ist schon damals, neben den Ratschlägen zur technischen Klarheit – das Thema gewesen.
“Gar zu leicht missbrauchen oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen in einem vollkommen vertraulichen Tone verkehren. Um angenehm zu leben, muss man fast immer als ein Fremder unter den Leuten erscheinen.” warnt Knigge. Und auch sonst scheinen mir die Kultur der Höflichkeit des 19. Jahrhunderts für unsere Epoche der Post-Privacy durchaus angemessen. Höflichkeit ist Kultur. Kultiviert bedeutet gepflegt. Es ist wirklich Zeit für einen pfleglichen Umgang mit unseren Daten, die doch so eng mit uns persönlich zusammenhängen. Zeit für Datenhöflichkeit.