Na, ne kleine Rundfahrt tut den Beinen gut.
Arno Schmidt
Jedes Mal, wenn ich rennen muss, um eine S-Bahn oder eine Straßenbahn gerade noch zu erwischen, muss ich an Adorno denken. In dem wunderbaren Text “Immer langsam voran” (was für ein slowes Motto!) aus den Minima Moralia beklagt er sich über das Rennen als eine besonders nachhaltige Form der Verrohung. Ganz gleich, ob es ein Passant ist, der einem davon brausenden Autobus hinterher läuft oder ein Kind, das von der Mutter genötigt wird, schnell noch “ein vergessenes Täschchen aus dem ersten Stock zu holen” oder der Gefangene, dem befohlen wird, zu rennen, damit er auf der Flucht erschossen werden kann. Rennen ist “Ausdruck des Schreckens”.
Der bürgerliche Gang dagegen, das Flanieren oder Spazieren-Gehen ist eine Beschäftigung, für die man Zeit braucht. Zeitvertreib statt Hetze. Das bürgerliche Gehen ist kein Zwang, sondern eine aufrechte Tätigkeit. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Gehen von den Vorläufern emanzipiert: vom Lustwandeln des Adels, dem Schreiten des Klerus oder dem Wandern des Handwerkers. Für Adorno hat diese Perversion eigentlich keinen Grund, da es für die schnelle Fortbewegung ja Autos gibt. Für alles andere genügt das Gehen. Aber Adorno sieht hier (noch) nicht die Grundvoraussetzung des Gehen-Könnens: Die Zeit! Das ganze Lebensarrangement, das dahinter steht und dem Bürger erlaubt, sich in einem humanen Tempo fortzubewegen. Gehen passt nur in einen entschleunigten Lebensstil.
Klar, Adorno setzt das Gehen vor allem gegen die hochindustrialisierte Welt mit ihrer Geschwindigkeitskultur, gegen die gewaltigen Kräften der motorisierten Lebenswelt. In einem anderen Fragment (“Nicht anklopfen”) schimpft er über die gewalttätigen, barbarischen wenn nicht gar faschistoiden Geräusche und Gesten einer Menschheit, die von den Dingen genötigt wird, zum Beispiel Türen nur noch zuzuwerfen und nicht mehr “leise, behutsam und doch fest” zu schließen. Auch diesen Gedanken hatten wir in diesem Blog immer wieder erwähnt: Das Versklavt-Werden durch die Dinge als der erbitterte Gegner der Entschleunigung.
Merkwürdig, dass das Fahrradfahren Adorno keiner Erwähnung würdig ist. Hier leben die von ihm wehmütig verabschiedeten selbstbewussten bürgerlichen Gesten, Haltungen und Geräusch fort. Das Schnurren einer frisch eingefetteten Rohloff-Kette durch Ritzel und Kettenblatt. Die aufrechte Haltung des Fahrers. Und vor allem das Tempo, das genau zwischen dem adornitischen Fortbewegungsgeschwindigkeitsdualismus zwischen Gehen und Fahren passt. Kurz, man kommt schneller ans Ziel als zu Fuß, muss sich aber nicht verbiegen – wenn man nicht gerade in Unterlenkerhaltung den Kesselberg hinuntersaust.
Aber auch das Radfahren bewegt sich in Richtung Barbarei, könnte man mit Adorno vermuten. Früher hießen Fahrräder nach dem Sportler oder Ingenieur-Sportler, der die Manufaktur begründet hatte (manchmal war auch ein Opernsänger dabei): Giovanni Battaglin, Bernd Müsing, Ernesto Colnago, Edoardo Bianchi, Irio Tommasini, Alessandro Batelli, Francesco Moser oder Konrad Kotter. Heute wecken die Namen eher Assoziationen von militärischen Feldzügen (“Cannondale”) oder erinnern an wilde Tiere (“Bulls”).
Eine der größten Radfahrererzählungen hat übrigens Arno Schmidt mit “Schwarze Spiegel” geschrieben. Sie spielt in einer postapokalyptischen Ära nach der “Menschenzeit”. An die Zeit vor der nuklearen Katastrophe erinnern nur noch die mittlerweile zu Skeletten verwitterten menschlichen Überreste in den ansonsten gut erhaltenen Bibliotheken, Schulen oder Kasernen. Auch die Straßen sind einsam geworden: “Früher waren auf den Asphaltbändern lautlos Autolichter geglitten : Jetzt herrschte nur noch der Mond”.
Dieses postindustrielle Setting – Assoziationen an Fukushima und Peak-Oil machen das Thema hochaktuell – ist eine Welt der Fahrräder. Ohne Pipelines oder Tankschiffe, die uns mit Öl versorgen, wird das Fahrrad zum wertvollsten Besitz, zum einzigen Garant für eine Mobilität. Gerade, wenn man sich inmitten der zusammengebrochenen Welt noch ein letztes bisschen Würde und Zivilisation bewahren möchte und es nichts mehr zum Flanieren gibt, ist das Fahrrad die einzige Wahl – zumindest so lange, bis auch die letzten Autobahnen von der Wildnis eingeholt worden sind -, denn
ein Fahrrad zu führen ist wunderbar ! Und diese leeren Orte noch schöner; auf der Kreuzung fuhr ich acht Kreise, als ich Rücktritt nahm, stand ich wie eine Mauer