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Alte Geschichte

Der Geschichtsschreiber wirkt langsam,
und mehr auf die Nachwelt (Heinrich Döring, 1835)

“Soziologie ist aber keine richtige Wissenschaft,” hatte der Althistoriker immer wieder zu mir gesagt. Klar, wer ständig einen zeitlichen Horizont von 2000 Jahren vor der Nase hat, dem kommt die industriegesellschaftliche Moderne winzig und vielleicht sogar irrelevant vor. Auf die hat sich die Soziologie nun aber einmal spezialisiert. Leider. Denn deswegen spielt diese Disziplin heute, nach dem Ende der Industriegesellschaft, auch keine besonders herausragende Rolle mehr in der öffentlichen Meinung.

Für den Althistoriker ist an der Moderne nur das wichtig und interessant, was über sie hinausweist, beziehungsweise, was sie von anderen Epochen wie zum Beispiel dem römischen Kaiserreich abhebt. Das alles wird er aber in 200 Jahren ebenso gut an den schriftlichen und steinernen Zeugen ablesen können. Es eilt nicht. Die Gegenwart der Gegenwart ist aus dieser langsamen Perspektive sowieso nur die Vergangenheit von Morgen.

Althistoriker haben Zeit. Sie zitieren nicht das Gerede ihrer Kollegen, sondern greifen in ihren Referenzen gerne weit zurück in die Welt der bleibenden Werke. Wer mit bloßer Hand canabae legionis unter der dalmatinischen Sonne ausgegraben hat, lebt zur Hälfte sowieso in der römischen Kaiserzeit. Und die andere Hälfte stört es auch nicht, wenn sie sich auf Literatur beruft, die geschrieben wurde, als noch niemand absehen konnte, dass der Bundespräsident einmal in einem verregneten Frühsommer beleidigt hinwerfen würde, ja nicht einmal, dass es einmal so etwas wie einen Bundespräsidenten geben würde. Der Althistoriker hat übrigens noch bis in die 70er Jahre hinein auf Latein publiziert. Heute findet man auch in der historischen Fachliteratur zunehmend Übersetzungen lateinischer oder griechischer Zitate.

Die Bücher, die er mir vererbt hat, vielleicht unter missionarischen Hintergedanken, sind teilweise ziemlich alt. Aber nicht manufactum-alt wie die technisch perfekte Nachdruckmassenware, sondern Patina-alt, wie es nur Bücher sein können, die Generationen von Wissenschaftlern zum Nachschlagen aus den Regalen gezogen haben. Leider fehlt der zweite Band des Ur-Paulys von 1835, der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, in dem die historischen Schlagwörter zwischen By und E ausgebreitet werden. Damals haben die biedermeierlichen Historiker ihre Bücher bei einem Buchbinder in Auftrag gegeben, bevor sie in die Bibliothek kamen. Deshalb lässt sich diese Lücke nicht nachkaufen, ja nicht einmal nachsammeln. Die Kombination von the medium und the message ist hier ein Unikat, ganz zu schweigen von der Patina, die sich wie ein Kopierschutz über Einband und Seiten gelegt hat.

Ich habe aus einem dieser alten Bücher in meiner Doktorarbeit zitiert. Leider konnte der Historiker das nicht mehr erleben. Wahrscheinlich hätte es ihm gefallen, als ein nur für Eingeweihte wahrnehmbares Zugeständnis, dass die schnelle Wissenschaft der Soziologie ohne das langsame zeitliche Gerüst der Geschichte nicht tragfähig ist.