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Kurznachrichten – 20 Jahre SMS

At instant speeds all reaction and adjustment are inevitable but too late to be relevant.
McLuhan

ἔρρει τὰ κᾶλα. Μίνδαρος ἀπεσσύα. πεινῶντι τὤνδρες. ἀπορίομες τί χρὴ δρᾶν.
Xenophon, Helenika

Heute vor 20 Jahren wurde die erste SMS verschickt. Und mit der SMS beginnt das Zeitalter der Kurznachrichten, der asynchronen Echtzeit-Kommunikation und die Epoche der Lakonie. Aus der SMS wurden Twitter, Foursquare, Facebook, Whatsapp, … zur Zeit werden alleine ca. 300.000 SMS pro Sekunde versendet.

Mit der SMS haben wir gelernt, unser Leben genau dort und dann organisieren, wo wir gerade gehen oder stehen, ohne darauf angewiesen zu sein, den Anderen “an die Leitung” zu bekommen. Auch wenn es schon zuvor Pager gegeben hatte – die Integration in ein Gerät, das Mobile Fon, mit dem wir nicht nur telefonieren und texten, sondern bald auch fotografieren konnten und heute mehr und mehr unsere ganze Kommunikation abwickeln.

SMS, Short Messaging Service, 140 Zeichen Text (wobei viele Provider bis zu 255 Zeichen zulassen, zumindest in lateinischem Alphabet). Die SMS hat uns erzogen, uns kurz zu fassen. Wir haben mit ihr eine neue und äußerst effiziente Sprache entwickelt, lakonisch, ganz wie wir es von den alten Sprachen her kennen.

Die Lakonie hat ihren namen von den Lakedemoniern, den Spartanern. Xenophon überliefert, wie oben zitiert, eine Depeche, die der spartanische Vizeadmiral während der Schlacht von Kyzikos an seine Heimatstadt schickte. Die einzeilige Nachricht wurde von den Spionen Athens abgefangen und so – irronischer Weise – der Nachwelt erhalten:

“Boote gesunken, Mindarus tot, Männer hungrig, mit unserer Weisheit am Ende.”

Die äußerste Knappheit der Ausdrucksweise wurde bald sinnbildlich mit Sparta verbunden, so wie wir die Reduktion aufs Wesentliche, den Verzicht auf alles Beiwerk auch heute noch spartansich nennen.

Welche Bedeutung hat die SMS, haben Kurznachrichten für uns heute, nach zwanzig Jahren? Jedes neue Medium, sagt McLuhan, können wir in vier Aspekten betrachten und so ein besseres Bild davon bekommen, was dieses Medium in unserer Gesellschaft und Kultur bewirkt:

1. Was wird durch das Medium verbessert?
2. Was wurde verdrängt?
3. Was, das verloren war, taucht wieder auf?
4. Wohin kippt die Entwicklung, wenn sich das Medium vollständig durchgesetzt hat?

Diese Tetrade, bezogen auf Kurznachrichtendienste könnte folgendermaßen aussehen:

Verstärkt
Effizienz, Gemeinschaft, Kontrolle
Holt wieder hervor
Vers, Metapher, Lakonie, Gespräch

Medium:
SMS
/Kurznachrichten

Schlägt um in
Memetische Kommunikation, Shitstorm, Piraten, Arab Spring,
BigData, Slow Media
Macht überflüssig
Pager, Anrufbeantworter, Briefwechsel, Zeitung, TV-Nachrichten

Das Tetraden-Modell von McLuhan: vier Aspekte auf die Wirkung von Medien auf Kultur und Gesellschaft.

1. Kurznachrichten erhöhen die Effizienz. Wir teilen uns anderen in Echtzeit mit, in knappen Worten, hochkonzentriert und sind dabei unabhängig davon, ob der Empfänger gerade empfangsbereit ist. Der stetige Austausch verstärkt Gemeinschaft. Nicht nur, dass wir über Kurznachrichten leicht eine größere Anzahl von Leuten koordinieren können – wenn wir uns heute mit Freunden im Biergarten verabreden, machen wir nur selten einen genauen Treffpunkt aus – wir organsieren uns spontan. Durch “ich bin hier und habe dies und jenes erlebt” teilen wir unsere Gedanken, Gefühle und unsere Erlebnisse ganz unkompliziert und kontinuierlich mit anderen. Auf diese Weise bedeutet SMS, Twitter, Foursquare etc. auch Kontrolle: wir können von anderen verlangen uns zu informieren, ja, wir erwarten es sogar – “bei dir war besetzt” oder “du bist nicht dran gegangen” haben als Ausreden ausgedient.

2. Die SMS hat offensichtlich den Pager überflüssig gemacht. Aber – auch wenn viele das noch nicht begriffen haben – auch den Anrufbeantworter oder, wie man heute sagt, die Mailbox: es ist lästig, sich aus dem aufs Band gesprochenen Wort, den relevanten Inhalt herauszuhören, Telefonnummern oder Daten herauszuschreiben, wo man per SMS, Twitter oder anderer Kurznachrichtendienste die wichtigen Information einfach direkt ziehen könnte, die schriftlich und elektronisch zu verarbeiten ist, bieten doch die meisten Telefone die Möglichkeit, Telefonnummern aus Nachrichten direkt anzuwählen.

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es die SMS ist und nicht die Email, die den Briefwechsel verdrängt. Die Mail ist formal immernoch ein Text mit nahezu beliebiger Länge; auch wenn sie in der Regel schneller ausgeliefert wird, als der Brief, teilt sie alle anderen Nachteile: schnell ist das Postfach voll; bevor man die langwierigen Ausführungen eines Briefes aufgenommen und in ein Antwortschreiben verdaut hat, sind bereits jede Menge Dinge geschehen, die den Inhalt des Briefes veralten lassen, jede Menge weiterer Nachrichten, Mails oder Briefe eingetroffen, die ebenfalls nach Antwort und Bearbeitung heischen. Der Briefwechsel als Literaturgattung – oft seitenlanges Geschwurbel – ist nicht mehr zeitgemäß und unbestreitbar auf dem Rückzug; es ist genau 15 Jahre her, dass ich den letzten Brief schrieb – und auch nur, weil der Empfänger damals bereits 80 Jahre alt war. Die Nachfolge – der Email-Thread wird es, das kann man wohl schon heute sagen, bis auf Ausnahmen kaum schaffen, etwas Hervorzubringen, das wir literarisch nennen wollten.

Sprichwörtlich ist das Ende der klassischen Nachrichtenmedien durch Twitter. Dabei ist es nicht nur die mangelnde Aktualität von Zeitungen oder TV-Nachrichten im Verleich zur Echtzeit-Kommunikaiton der Kurznachrichten – es ist vor allem der mangelnde Filter. Bekommen wir bei Zeitung oder TV stets das Gefühl, zu erfahren, was wir gar nicht wissen wollten, während wir das wirklich wichtige vorenthalten bekommen und verpassen, suchen wir uns in unserer Timeline genau die Menschen, deren Aussagen wir für relevant halten. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht auf das Problem der Filter Bubble eingehen, also das Phänomen, dass wir uns durch unsere Timeline in unserer eigenen Realitätsblase gefangen bleiben. Es geht mir auch nicht darum, zu erörtern, ob es vielleicht doch besser wäre, wir würden dennoch weiter Zeitung gelesen haben – die Tatsache ist, dass die klassischen Nachrichten durch die asynchrone Echtzeitkommunikation in der Nutzung bald vollständig verdrängt werden.

3. Es gibt eine Form des sprachlichen Ausdrucks, die perfekt auf die 140 Zeichen der Kurznachrichten ausgelegt ist: der Vers. Verse sind das wichtigste Hilfsmittel der mündlichen Überlieferung. Jeder Satz ist ein einfacher Einzeiler. Satz um Satz kann man sich die Sage, das Märchen, die Ballade einprägen. Ein Text, der in lauter einfache, etwa gleich lange Sätze aufgeteilt wird, erhält von selbst einen Rhythmus. Der Vers wurde im Zeitalter des Buchdrucks an den Rand der Literatur verdrängt – eine reine Kunstform, ohne praktischen Nutzen, da der Platz im gedruckten Text nahezu unbegrenzt war und durch die beständigkeit ein Auswendiglernen nicht mehr von Nöten. Mit der SMS kommt der Vers zurück, der Aphorismus, der Einzeiler. Und da poetische Sprache sich durch höchste Verdichtung ausdrückt, in Metaphern ganze Bilder in wenige Worte mit mehreren Bedeutungsebenen zusammenfasst, ist es kein Wunder, dass die Sprache der Kurznachrichten oft sehr metaphorisch ist.
Aber nicht nur das Vershafte der Kurznachrichten erinnert an mündliche Tradition. SMS, Twitter etc. sind in ihrem Kern keine Text-Medien, sondern vielmehr Gespräche, Austausch von Rede und Gegenrede, oft nicht nur im Dialog, sondern über eine ganze Gruppe von Teilnehmern.

4. Wir erleben bereits, wie sich unsere Kultur durch Kurznachrichten verändert. Über den Memetic Turn haben wir hier bereits öfters geschrieben. Metaphern, Bildhafte Ausdrücke, deren Bedeutung sich nur dem vollständig erschließt, der kulturell eingeweiht ist, der den Kontext versteht und das Bild lesenkann, erzeugen in hohem Maß Gemeinschaftlichkeit. Katzenbilder sind der Kitt unserer Gesellschaft.
Durch die Unmittelbarkeit, das “ich kann sofort Antworten” erleben wir häufig, wie sich Nachrichten in positiven Regelkreisen schnell zum Sturm aufschaukeln, besonders, wenn es um Empörung geht: der Shitstorm ist eine Figur der Kurznachrichten-Epoche.

Die Kultur der Piratenpartei hängt ebenfalls stark mit Kurznachrichten zusammen. Hochgradig memetisch – kein Tweet ohne hermetischen Hash-Tag, hochgradig selbsterregend und für Außenseiter bis ans Unhöfliche grenzend knapp und direkt. Auch wenn es inzwischen mehr als dreißig tausend Piraten-Mitglieder in Deutschland gibt, der Kern, das Netz der bundesweit Aktiven informiert und organisiert sich nicht über Mailinglisten oder Wiki, sondern über Twitter; “140 Zeichen muss reichen”.
Ich bin überzeugt, dass die meisten der politischen Erhebungen der letzten Jahre eng mit der SMS-Kultur verwoben sind. Ich sage nicht, dass wir den Arab Spring ohne Twitter oder Facebook nicht erlebt hätten, aber die Kurznachrichten geben dieser neuen Form von Selbst-Ermächtigung ganz wesentlich ihr Gepräge.

Neben den Suchmaschinen, sind es die Kurznachrichten, deren Sturzflut zu einem neuen Paradigma in der IT geführt hat: BigData. So groß ist das Volumen, so schnell kommt immer Neues nach und muss in Echtzeit verarbeitet werden, dass die alten Regeln für Hardware, Betriebssysteme und Datenbanken schnell aufgegeben wurden. Kurznachrichten sind Gespräche, die in Text-Form vorliegen. Damit sind sie maschinell leicht auszuwerten; es ist sind nicht nur Volume und Velocity, auch Machine Learning wird durch die Kurznachrichtenrevolution aus seinem Dornröschenschlaf erweckt.

Und schließlich: wenn Real-Time Realität ist, wenn es also nicht mehr darum geht, Kommunikation zu beschleunigen, weil sie bereits in der völligen Gleichzeitigkeit angekommen ist, muss unser Ziel jetzt sein, zu verstehen, was geschieht. Wir können uns jetzt darauf konzentrieren, was uns wichtig und was uns wertvoll ist.
Slow Media ist unsere Antwort, die Synthese der SMS-Tetrade.

Zwanzig Jahre Kurznachrichten – ein historischer Zeitabschnitt von allergrößter Bedeutung für die Kultur in sehr vielen Teilen der Welt, aber vor allem für uns, für mich, ganz persönlich.

Vita brevis,
ars longa,
occasio praeceps,
experimentum periculosum,
iudicium difficile.

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  • “So literature collapses before our eyes” – Non commodity production
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    Geschichte Politik

    Die digitale Kluft.

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    Durch unsere Gesellschaft (falls wir überhaupt noch dieses Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert bedienen wollen) läuft eine tiefe Kluft. Mit der Digital Divide wird üblicherweise das Problem des “digitalen Analphabetismus” bezeichnet, also die Tatsache, dass ein Teil der (Welt-)Bevölkerung durch Armut oder Starrsinn vom Internet ausgeschlossen bleibt.

    In Wahrheit aber, davon bin ich überzeugt, läuft die Bruchlinie der digitale Wasserscheide aber viel elementarer durch unsere ganze, sogenannte abendländische Kultur. Dieser reaktionären Begriff scheint mir ganz in dem negativen Sinne von Oswald Spengler angemessen, denn es geht um nichts weniger, als den kompletten Umbruch der Ordnung, die uns seit mindestens 200 Jahren als gegeben scheint. Warum schreibe ich so pathetisches Zeug? Weil es passt!

    Vor fünfzehn Jahren hatte ich in der Wired einen launigen Artikel gelesen: Net-Heads vs. Bell-Heads. Bell-Heads leitet sich von der Bell Telephone Company ab, der ersten Telefongesellschaft der Welt und dem direkten Vorläufer von AT&T. Über hunder Jahre lang waren Bell-Heads die Architekten der globalen (Tele-)Kommunikation. Aus den Bell Labs in New Jersey gingen viele epochale Erfindungen des IT-Zeitalters hervor, nicht zuletzt der Transistor. Die Bell-Heads waren die Helden und Propheten der vernetzten Welt.

    Das Ende des Bell-Zeitalters trägt inzwischen legendäre Züge: John Draper, wie er sich mit dem Ton einer Trillerpfeife aus einer Cornflakes-Packung 1972 das US Telefonsystem unterwerfen konnte. Als sich die dezentrale Netz-Logik von TCP/IP mehr und mehr durchsetzte, wurde den Vordenkern der Netzkultur klar: ein zentralistisch-bürokratisches System wie die Telefongesellschaft war dem verteilten Chaos des Internet langfristig unterlegen. Die Net-Heads, die Evangelisten der anti-hierarchischen Kommunikationsarchitektur wurden zu den Apokalyptikern, die das Ende der alten Telefonwelt kommen sahen.

    ***

    Das Netz ohne feste Hierarchie mit rein lokaler Organisation ist das Sinnbild für ein neues Gesellschaftsmodell geworden. Das Maß an Freiheit von Zwang, Freiheit der Rede und die schier unbeschränkten Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung und Kreativität, deren Entwicklung wir seit den 90ern im Internet erleben konnten, hat uns gezeigt, wie wir auch leben könnten. Aus dem Kommunikations-Netz wurde eine Utopie. Aber die Wirklichkeit außerhalb des Netzes sah anders aus: 9/11 und “Krieg gegen den Terror”, Bankenkrise, Wirtschaftssklaverei, von unseren eigenen Grenzschützern ertränkte Flüchtlinge im Mittelmeer und das Leistungsschutzrecht – um nur einen Teil der politischen Litanei der letzten zehn Jahre herunterzubeten. Es ist also kein Wunder, dass uns das Netz manchmal geradezu messianische Züge annehmen mag, der Ort, an dem alles besser wird. Aber heute geht es mir gar nicht darum, diese – wie bei allen Utopien fragwürdigen Heilsversprechen der digitalen Welt zu dekonstruieren.

    Auf einmal herrscht Unruhe in der Welt. Menschen erheben sich und gehen auf die Straße. Aber es sind keine Ideologien, keine Parteiprogramme oder Gewerkschaftsreden, die die Menschen in Aufruhr versetzen. Der Anlass zum Aufstand ist auch nicht immer derselbe. Vom Maghreb über Spanien in die USA sind es durchaus ganz unterschiedliche Zwänge, gegen die die Menschen sich erheben.

    Was aber die Demonstranten zwischen Tahrir-Platz und Wallstreet eint, ist der Wunsch nach Selbstbestimmtheit und Selbstorganisation. Und das Vorbild ist die Kultur im Netz.

    Thierry Lhote twitterte unlängst: “like in may 68 in France a whole generation is learning meme manufacturing for their next Media VP job #occupywallstreet”; und was sich auf den ersten Blick zynisch lesen mag, ist bei längerem Nachdenken eine interessante Beobachtung. Wie vor fünfzig Jahren ist eine Generation herangewachsen, deren Werte mit der “alten Welt” nicht mehr in Konsens zu bringen sind. Dabei läuft der Bruch quer durch die alten Lager. Rechte, Linke, Grüne – in allen Gruppen dominiert eine Generation von Menschen, die emotional und intellektuell der Netzkultur fremd bleibt, selbst wenn sie sich nicht offen feindselig stellen. Und wenn sich die Net-Heads versuchen, in die alten Strukturen einzubringen, so funktioniert das nur so lange, wie man eben nichts ändert, und das Alte bedingungslos akzeptiert, wie die Twitter-Zensur bei den Grünen unlängst auf fast tragisch-komische Weise vorgeführt hat.

    Oft wird der Aufstieg der Piratenpartei mit den Grünen in den späten 70ern verglichen. Und vieles an diesem Vergleich passt. Manche Feinde von damals sind dieselben geblieben: Atomkraft oder monopolistische Konzerne. Manches hat geradezu frappante Parallelen. Was die Notstandsgesetze für unsere Eltern bedeuten, sind uns heute der Bundestrojaner, IMSI-Catcher, Rettungsfonds und FRONTEX. Das Mem #0zapftis – Top-Thema der Frankfurter Allgemeinen von heute – ist die Spiegel-Affäre unserer Generation.

    Damals, als wg. Sachen wie #Bundestrojaner noch Bürger auf die Straßen gegangen wären.

    mag der @videopunk bedauern – aber ich bin überzeugt, dass genau das gerade geschieht.

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    Disrupt politics!
    Menschenrecht aufs Internet
    Memetic Turn

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    Die Stasi und die Meme: Was ist politisch an Slow?

    Was ist politisch an Slow? Neben den ästhetischen und medientheoretischen Aspekten in dem von uns entwickelten Slow-Media-Ansatz gibt es eine immer stärker zutage tretende politische Dimension. Die Sprengkraft liegt meines Erachtens in der These 6 “Slow Media sind diskursiv und dialogisch”, sekundiert von These 5 “Slow Media fördern Prosumenten”. An die Stelle des klassischen Medienkonsums, der auf der einen Seite einen Produzenten von Inhalten und auf der gegenüberliegenden Seite einen passiv-rezipierenden Aufnehmer von Informationen hat, tritt eine neue Form der Mediennutzung. Sie nähert sich der Form der Kommunikation und dem mündlichen Gespräch an. Die Rollen des Gebens und Nehmens vermischen sich, jeder kann Informationen aufnehmen und weitergeben, kann Sender und Empfänger zugleich sein.

    Das ist die Voraussetzung für das, was Jörg Blumtritt den Memetic Turn nennt – die Entstehung memetischer Gemeinschaften durch den Austausch identitätsstiftender Meme, seien es die Idee der Freiheit, das Bekenntnis zu “We all are Khaled Said”, Laufenten oder die vielzitierten Katzenfotos. Diese Gemeinschaften sind nicht mehr lokal oder ethnisch begründet, sie entstehen durch Kommunikation und Austausch, ja sie untergraben bestehende gesellschaftliche Strukturen.

    Pfingstmontag auf der Autobahn habe ich das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gelesen. Dort findet sich der Beitrag “Die Akte “Tänzer”” von Renate Meinhof (Süddeutsche Zeitung Nr. 134, Pfingsten 11./12./13. Juni 2011, S. 15). Der hier geschildete Fall zeigt genau, was an Slow politisch ist.

    Es geht in dem Beitrag um die Stasi-Akten über eine Gruppe junger Breakdance-Tänzer in den 80er Jahren in Neubrandenburg. Sie gerieten durch ihre eigenartig geformten Frisuren und die “ruckartige[n], tanzähnliche[n] Bewegungen” ins Visier der Staatssicherheit. Man darf annehmen, dass die Stasi ein feines Gespür für Staatsgefährdung hatte. Wie kann es sein, dass ein Staat sich durch Frisuren und tanzähnliche Bewegungen bedroht sieht?  “Der Tanz stellt keine Beeinträchtigung von bestehenden Norm- und Moralauffassungen dar. Von der Gestaltung des Tanzes ist dieser nicht geeignet, dass ihn Massen nun auf der Tanzfläche ausüben können”, schlussfolgert die Staatssicherheit Neubrandenburgs erleichtert nach eingehender Inspektion und dem Anwerben mehrerer Spitzel.

    Und damit benennt sie im Umkehrschluss, wonach sie gesucht und was sie befürchtet hat: Es ist die gesellschaftszersetzende Kraft einer memetischen Gemeinschaft. Frisuren und Tanzstile sind Meme, die Identität stiften, Menschen miteinander verbinden und sich staatlicher Kontrolle entziehen können.

    Die Staatssicherheit der DDR hat Meme bekämpft. Sie hat mögliche Herde nicht gesellschaftlich verankerter Gemeinschaften aufgespürt und entschärft: entweder durch die Auflösung der Gruppe oder durch ihre gesellschaftliche Integrierung durch die Einstufung als ein “anerkanntes Volkskunstkollektiv”. Die Gemeinschaft sind wir – so lautet die sozialistische Variante des “l’état c’est moi”.

    Die Stasi und mit ihr die Geheimdienste und Staatssicherheitsabteilungen aller autokratischen Regierungen sind Experten im Aufspüren und Entschärfen von Memen. Die Unterbindung und Sabotage von Kommunikation (durch Spitzelei oder durch das Abschalten des Internet) ist früher und bis heute ihre Königsdisziplin. Sie fürchten nichts mehr als Benedikt Köhlers Satz “Meme zersetzen Gesellschaft“. Völlig konsequent ließ die chinesische Regierung wegen Ansteckungsgefahr sofort Suchbegriffe wie “Ägypten” oder “Tunesien” sperren, als die dortigen Dikatoren ihre Meme nicht mehr im Griff hatten.

    Doch die Kommunikationswege haben ihre feste Kontur und damit ihre Kontrollierbarkeit verloren. Sie wandeln sich unter dem Zugriff, sie  verändern sich, passen sich an, umgehen Sperren, finden Umwege und neue Räume. Das ist das Potential von Kommunikation und von memetischen Gemeinschaften. Das ist politisch an Slow.

    “Dringend empfohlen: TED-Gespräche über Ägypten” Von Ai Weiwei weitergeleitete chinesische Empfehlung des TED-Talks von Wael Ghonim, der Symbolfigur der ägyptischen Revolution

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    Memetic Turn

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    “Der Gehenkte” aus dem Tarot Karls VI., Paris, Anfang 15. Jhd.

    Die Symbolik des Tarot – ähnlich wie die der Alchimie bildet ein vormodernes Mem-System. Eng verwoben mit anderen mehr oder weniger esotherischen Sinn-Programmen wie Kabbalah oder Astrologie sind die Bilder darin zum ersten illustrativ – sie stellen durchaus auch das dar, war darauf zu sehen ist, zum zweiten besitzen sie den willkürlich zugeordneten symbolischen Wert. Das Besondere an Memen wie an Metaphern ist, dass zwischen unterschiedlichen Menschen ein gemeinsamer Bedeutungsraum entsteht, über den sich diese Verschiedenen identifizieren

    “Literacy, the visual technology, dissolved the tribal magic by means of its stress on fragmentation and specialization and created the individual.”

    “The tribalizing power of the new electronic media, the way in which the return us th the unified fields of the old oral cultures, to tribal cohesion and pre-individualist paterns of thought, is little understood. Tribalism is the sense of the deep bind of family, the closed society as the norm of community.”
    Herbert Marshall McLuhan

    “Alles ist teilbar, und es kann kein Individuum geben.”

    “Die Bedeutung solcher Symbole [der Buchstaben] ist von Farbe weitgehend unabhängig: ein rotes und ein schwarzes ‘A’ bedeuten denselben Laut. […] Daher deutet die gegenwärtige Farbexplosion […dass] eindimensionale Koden wie das Alphabet neigen, […] an Wichtigkeit zu verlieren.”

    “Mit der Erfindung der Schrift beginnt die Geschichte, nicht, weil die Schrift Prozesse festhält, sondern weil sie Szenen in Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewusstsein.”
    Vilém Flusser

    ממטית המהפך

    Schriftlichkeit und Gesellschaft hängen unmittelbar zusammen. Durch Texte, insbesondere die Zeitung, die im 19. Jahrhundert das erste echte Massenmedium wird, können Menschen über große Distanzen homogen informiert werden. Dies war auch erst seit Aufkommen der Eisenbahn und der Telegrafie wirklich von Bedeutung. Diese sind die Grundlage, auf der sich erstmals eine wirklich überregionale Volkswirtschaft – die Nationalökonomie – entwickeln kann. Die lokale Gemeinschaft, das Dorf, verliert im selben Maß ihre Eigenschaft als “Schicksalsgemeinschaft”, wie bereits Tönnies festgestellt hatte.

    “Zeitungen sind der Kitt der Gesellschaft” ruft in diesem Sinne unlängst Zeitungsverleger-Präsident Helmut Heinen aus.

    Aber irgendetwas scheint an dieser Aussage nicht (mehr) zu stimmen, wie auch Daniel Schulz als Replik dazu im Der Standard geschrieben hatte, indem er dem Zeitungsmann erwidert: “Nicht Zeitungen, sondern Katzenbilder sind der Kitt der Gesellschaft!”

    Daniel hat nicht recht, obwohl er, davon bin ich überzeugt, das richtige meint. Katzenbilder sind nicht der Kitt der Gesellschaft, sondern von Gemeinschaften! Damit sind sie nichts weniger als der Kitt der Gesellschaft, sondern vielmehr bin ich überzeugt, wie ich im folgenden ausführen möchte, dass sie die Gesellschaft sogar korrodieren werden.

    Diese Katzenbilder – im Fall meiner eigenen Community sind es Bilder von Geflügel, insbesondere von Laufenten – sind ganz besondere Zeichen, eng verwand mit Metaphern, Allegorien oder Emblemen. Obwohl nicht ganz im Sinne ihres Erfinders, hat sich eingebürgert, diese Art von Bild-Zeichen als Meme zu bezeichnen. Die Bedeutung der Meme ist oft hermetisch, außerhalb der Gemeinschaft, in der sie ausgetauscht werden, nicht zu verstehen.

    In den Memen – also meist wenig ikonischen aber selten abstrakte Zeichen – konzentriert sich oft ein ganzes Universum von Bedeutungen und Verbindungen, die die Mitglieder einer Gemeinschaft mit dieser Gemeinschaft verbinden. Meme sind gemeinschaftliche Projektionsräume unseres Unbewussten: “Im Dunkel eines Äußerlichen finde ich, ohne es als solches zu erkennen, mein eigenes Innerliches oder Seelisches.” (C.G. Jung über die Allegorien der Alchimie).

    Meme übernehmen dadurch eine Funktion, die in der Vormoderne Metapher und insbesondere der Allegorie innehatten:

    Mit Metaphern lassen sich Dinge anschaulich machen, die nicht explizit gesagt werden könnten. “Metaphorik erweitert den Horizont des Denkbaren, indem sie die Grenzen der Verstandesrationalität sprengt und so der Darstellung spekulativer Gedanken unverzichtbare Räume möglicher Artikulation eröffnet.” schreibt Jörg Zimmer. Indem Metaphern nicht-identische Begriffe gleichsetzen, machen sie die verbindenden Eigenschaften deutlich; Metaphern stiften Identität zwischen ansonsten Verschiedenem. Dabei drücken Metaphern zunächst die Bilder aus, die ihr Sprecher (“Sender”) im Kopf hat; der Empfänger der Metapher wird zunächst vermutlich nicht das identische Bild im Kopf haben, sondern die Metapher mit seinen eigenen Bedeutungszusammenhängen füllen. In der Weise, in der die Bedeutung, die der Sender mit seiner Metapher verbindet, ähnlich zu der Bedeutung wird, die der Empfänger darein gibt, stiftet die Metapher auch Identität zwischen unterschiedlichen Personen; Metaphern stiften Gemeinschaftlichkeit.

    Meme wirken wie ansteckend. Man ist infiziert, hat man sich erst einmal damit identifiziert.
    ***

    History of Turns

    Der Linguistic Turn, wie oben beschrieben, war die Folge einer eng zusammenwachsenden, immer besser gebildeten Bevölkerung mit hoher Alphabetisierung und der technologischen Infrastruktur von Massenverkehr und Massenkommunikation über große Distanzen. Mit dem Linguistic Turn der Moderne lösen sich die alten Gemeinschaften auf; Gesellschaften – Nationen und Staaten formieren sich und die Zeitung bzw. die Massenmedien sind der Kitt dieser Gesellschaften. Die Metonymie löst die Metapher als Leit-Trope in der Rhetorik ab: “Berlin erklärt Paris den Krieg”.

    Mit der Illustrierten und vor allem dem Fernsehen kommt im 20. Jahrhundert der Iconic Turn – massenmedial vermittelte Bilder. Parallel mit dem Zusammenwachsen der ehemals konkurrierenden nationalen Staats-Gesellschaften zu den supranationalen Blöcken der Nato, Warschauer Pakt oder Europäische Gemeinschaft liefern die bildstarken Medien einen international gültigen Bilderschatz. Diese technisch massenhaft verbreiteten Bilder sind fast völlig unmetaphorisch; die zeigen im Wesentlichen das, was darauf zu sehen ist.

    Die Tagesschau wird das Lagerfeuer der Nation und die Utopie scheint Realität zu werden, dass es tatsächlich einen Zusammenhalt von Menschen weit über den engen Rahmen einer Gemeinschaft gibt. Für das grobe Raster der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind diese Massenmedien in der Lage, ein Millionenpublikum täglich mit den wenigen relevanten Nachrichten zu versorgen, die zum nationalen Zusammenleben notwendig sind: die holzschnitthafte Parteipolitik in den Parlamenten, das Zusammenspiel der eigenen Nation mit den anderen Staaten, die groben Neuigkeiten einer relativ konstant wachsenden Wirtschaft, stets verständlich gehalten auch für “Menschen mit mittlerer Bildung”. Ironie ist das Stilmittel des Iconic Turn – häufig allerdings in Form von Zynismus.
    ***

    Seit den achziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es deutliche Zeichen von Abnutzung an den Massenmedien, zunächst noch in vielen Ländern überdeckt durch den enormen Erfolg des Privatfernsehens bzw. nach dem Mauerfall durch den Nachholbedarf in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre.

    Auf einmal war es nicht mehr so wichtig, zu lesen, was auf nationaler oder internationaler Bühne am Vortag geschen war. Der Kitt der Gesellschaft begann, spröde zu werden. Und das Web kam dieser Entwicklung genau entgegen. Nicht mehr informiert werden – sich die Dinge, die man glaubt, wissen zu wollen, selbst zusammenstellen. Wie Renate Köcher aus den Langzeitstudien ihres Instituts für Demoskopie in Allensbach mit Schrecken erkannt hat: die Leute informieren sich nicht anders – sie informieren sich streng genommen gar nicht mehr! Die Massenmedien werden in ihrer Funktion nicht substituiert, sie verschwinden viel mehr. Und zwar nicht physisch – die Menschen sehen unverändert fern – sondern in ihrer Wirkung.

    Unser Social Graph, das Netz unserer gemeinschaftlichen Beziehungen, versorgt uns ab jetzt mit den Dingen, die wir erfahren wollen. Das ist der Filter, den früher die Redaktionen der Medien gebildet hatten. Wir organisieren unsere Beziehungen durch das Netz, wie wir uns früher als Bürger im Staat über die Massenmedien orientiert hatten.

    “Das Ende der Großen Erzählung”, mit dem oft die Postmoderne umschrieben wird, bedeutet, dass aus Geschichte lauter kleine Geschichten werden. Schnipsel, die zusammen mit persönlichen Erinnerungsstücken zu Sinnzusammenhängen kollagiert werden. Das ist das “Ende der Geschichte“, bei dem die “Literatur vor unseren Augen kollabiert“. Die massenmediale “Hochsprache” der moderne weicht den vernakularen Dialekten der Netzkultur. “New media are new archetypes, at first disguised as degradations of older media.” (McLuhan)

    Die Zugehörigkeit zu diesen neuen, memetischen Gemeinschaften ist nicht vergleichbar mit dem “in die Gemeinschaft geboren werden” der Vormoderne. Es sind relativ lose, zum Teil nur über einige Zeit stabile Strukturen und wir sind selten exklusiv in nur einer davon beheimatet. Diese Gemeinschaften werden symbolisch zusammengehalten über Meme.

    Dieser Memetic Turn markiert den Übergang in das nach-moderne Zeitalter. Der schwindende Einfluss der nationalen und die gleichzeitige Auflösung der internationalen, politischen Strukturen führt dazu, dass auch deren mediale Werkzeuge stumpf zu werden scheinen.

    Damit wird auch klar, wie die revolutionäre Bewegung in Spanien mit den Umstürtzen in Tunesien und Ägypten zusammen hängt. Es ist faszinierend zu sehen, wie das scheinbare Fehlen von formulierten, gemeinsamen Zielen und jeder Form von verfasster Organisation die alten, gesellschaftlich denkenden Medien komplett überfordert. Es ist der Hash-Tag, der die Menschen zusammenbringt, das #spanishrevolution-Mem als Projektionsraum, über den die Menschen ihre Wünsche nach einer anderen Form von Zusammenleben in einer post-gesellschaftlichen, nicht mehr durch ineffektive Parteipolitik kontrollierten Gemeinschaftlichkeit synchronisieren.

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