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Die “Welt am Sonntag” experimentiert mit These 9

Die Welt am Sonntag Nr. 46 vom 13. November 2011 wartet auf Seite 12 mit einer ganzseitigen Anzeige auf. Ganzseitige Copy-Texte fallen ohnehin auf. Diese Version irritiert zusätzlich. Sie ist nicht sofort einzuordnen, es braucht eine Weile, bis man sie als Anzeige in eigener Sache identifiziert hat. Sie adressiert nicht den Leser, sondern einen möglichen zukünftigen Leser – den Nachbarn , dem man als Leser seine Ausgabe weitergeben soll.

Das ist in mehrfacher Hinsicht interessant.

– Die Handlungsaufforderung, die unerwartet und deshalb komplex ist: Eine gängige werbliche Handlungsaufforderung würde lauten “Kauf mich!”. Hier aber lautet sie: “Verschenk mich, damit ich deinen Nachbarn davon überzeugen kann, mich in Zukunft auch zu kaufen!” Die eigentliche Aufforderung steht erst in einer winzigen Fußnote an der unteren Bildkante: “Lieber Nachbar, willst Du die besondere Zeitung jeden Sonntag bekommen? www.wams.de/praemien”

– Das hohe Maß an Aktivität, zu dem der Leser aufgefordert wird und das man ihm zutraut: Der WamS-Leser muss die Seite zuende lesen, mitdenken und die Aufforderung entschlüsseln. Dann muss er seine eigene Unterschrift daruntersetzen, die entsprechende Seite herausnehmen, um die Zeitung legen und sie zum Nachbarn tragen. Der Leser wird vom reinen Rezipienten zum Akteur, ja zum Komplizen seiner Wochenzeitung. Der Leser ist kein reiner Konsument mehr, er soll aktiv werden und handeln.

– Das Spiel mit der Materialität des Mediums:  Seinen Namen draufschreiben und das Produkt vor die Tür des Nachbarn legen – das geht nur mit Papier. Die Sharing-Kultur der digitalen Welt, das Empfehlen, Weiterleiten und Teilen, wird hier – das muss man sagen – gekonnt in das Medium Papier rückübersetzt.

– Höchst interessant auch der Hinweis, dass die Zeitung “zu schade fürs Altpapier” sei. Aus unserer Perspektive der medialen Nachhaltigkeit und Medienökologie betrachtet, ist die Mehrfachverwertung ja tatsächlich ein wichtiger Aspekt (auch wenn im vorliegenden Fall das Ziel natürlich die Abonnentengewinnung ist, nicht die reine Lesergewinnung).

Oliver Voss zeichnet für diese Kampagne verantwortlich, und er hat hier ein hübsches kleines Experiment vorgelegt. Er probiert neue Werbeformen mit dem neuen Leser aus. “Lies sie, genieß sie und gib sie weiter.” Fast könnte man meinen, er experimentiert mit der praktischen Anwendung unseres Slow Media Manifests im Werbe- und Medienalltag.

Die WamS-Anzeige propagiert These 9 des Slow Media Manifestes. Diese lautet in unserer Kurzfassung: “Slow Media werden empfohlen. Sie rufen danach, zitiert, weitererzählt, verschenkt, verteilt und mitgeteilt zu werden.” Und sie  kokettiert mit These 5,  “Slow Media fördern Prosumenten”: “An die Stelle des passiven Konsumenten tritt bei Slow Media der aktive Prosument”. Oder auch mit These 7 “Slow Media sind soziale Medien”, die die Bildung “aktiver Deutungsgemeinschaften” anregen – warum nicht auch die zwischennachbarliche Auseinandersetzung über eine Zeitung.

Ob das gelingt? Ob Leser und Nachbarn da mitspielen? Ob die Welt am Sonntag die richtige Zeitung dafür ist? Ich weiß es nicht. Es ist das Wesen des Experiments, dass man das vorher nicht sicher weiß.  Aber das ist ja das Schöne an dieser Phase, in der alte Mechanismen nicht mehr funktionieren und neue sich noch nicht etabliert haben: Man kann ganz neue Erzählformen entwickeln und neue Wege entdecken. Experimente wie diese sind erst der Anfang.

 

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