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Slow Media 2017

Sieben Jahre sind vergangen, seit wir drei Slow-Media-Autoren unseren Unmut über die Medien in das Slow Media Manifest gegossen haben. “Slow” wie in “Slow Food”.

Irgendwann Anfang der 1970er Jahre – ich war noch ein wirklich sehr kleines Kind – fuhren meine Eltern mit mir in die Stadt, um mit mir ein besonderes Ereignis zu feiern: Die Eröffnung des McDonald’s Restaurant am Stachus. Wenn ich mich heute an meine Kindheit zurückerinnere, ist mir vollkommen klar, was meine Eltern Besonderes an Fastfood gefunden hatten. Die “Deutsche Küche” war grauenvoll. Angewärmte Fleischbrocken und stärkereiche Sättigungsbeilagen, saurer Filterkaffee, Tee im Glas aus lauwarmem Wasser mit einem aromafreien Beutel daneben, Wasser gab es zum Essen nur in 0,2l und extrem teuer; aber das schlimmste war der ‘kleine Salat’ – welke Kopfsalatblätter bedeckten Batzen von Sellerie und Karottenjulienne aus der Konserve, alles schwimmend in einer süßlichen Emulsion aus Essigessenz und Sonnenblumenöl.

Fastfood versprach die Befreiung. Während die amerikanische Kultur den deutschtümelnden Mief der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Pop und TV aus den Wohnzimmern blies, würde Fastfood mit seinem industriellen Kosmopolitismus das Grauen der Deutschen Küche vertreiben, das war wohl die Hoffnung meiner Eltern.

Der Preis der gastronomischen Revolution sollte allerdings sehr teuer werden: Von massenweiser Fehlernährung über den himmelstürmenden Müllberg, bis zur Entwaldung der Tropen – die Folgen der industrialisierten Küche sind durchaus mit den Folgen des Fordismus in anderen Bereichen der Ökonomie und Kultur vergleichbar. Fast Food war nicht das Ende der kulinarischen Geschichte. Spätestens um 1980 war es Zeit geworden, sich über einen Neuanfang echter Kochkunst zu kümmern.

Slow Food und Neue Küche konnten sich endlich entwickeln, weil Fastfood den Raum dafür geschaffen hatte. Der Anlass zur Gründung von Slow Food ist schließlich eine direkte Reaktion auf Fastfood: Der Protest gegen Eröffnung des ersten McDonald’s in Rom 1986.

Slow Food ist kein reaktionärer Rückfall in die Zeit vor dem Fastfood – Slow Food bedeutet, die wertvollen Aspekte der Essenskultur freizulegen, die bereits vor Ankunft des Fastfood in der verkommenen Alltagsküche unter minderwertigem Fraß verschüttet waren. Nouvelle Cuisine und andere neue Formen des Kochens entwickeln handwerkliche Kochkunst zeitgemäß weiter.

Malbouffe, “Schlechtessen” oder Junk Food hatte José Bové das Fastfood genannt. Der französische Agrarrevolutionär wurde weltbekannt, als er 1999 im Rahmen einer Protestaktion eine McDonalds Filiale in Südfrankreich zerstörte. Le Monde n’est pas une marchandise – “Die Welt ist keine Ware” ist der Titel von Bovés bekanntestem Buch. So wie Slow Food gegen die industrielle Zerstörung guten Essens steht, kritisieren wir in Slow Media nicht zuletzt den Warencharakter in Medien und Kultur (zum Beispiel hier: [1] oder hier [2]).

Die Zeitungslandschaft meiner Jugend habe ich ähnlich erlebt, wie den widerlichen Fraß, der damals in Restaurants serviert wurde. Den Medienmüll der klassischen Publizisten haben wir in diesem Blog bereits hinlänglich bearbeitet (zum Beispiel hier: “Den Schrott gibt es im Internet?”, “Schrott Nachtrag” oder hier: “Das letzte Aufgebot”). Die Mischung aus Nachlässigkeit, Geldgier und Arroganz der selbsternannten “vierten Gewalt” aber bereitete den Boden für Google, Twitter und Facebook.

Google, Twitter und Facebook haben uns geholfen, die alten Medien zu überwinden, so wie Fastfood uns den Ausweg aus der schlechten Nachkriegsküche ermöglicht hat. Google, Twitter und Facebook sind wie Fastfood, im Guten wie im Schlechten. Nach erstem Augenschein sind sie so viel sauberer, moderner, weniger prätentiös, als die klassischen Medien.

Doch auch die Probleme sind mit Fastfood zu vergleichen. Das Medienfastfood ist bedingungslos optimiert, maximal effizient, maximal profitabel. Es lässt wenig Raum für Qualität, da die Algorithmen jede Abweichung von ihren Regeln gnadenlos bestrafen, mit der schlimmsten Strafe, die es für Medien gibt: dem Entzug von Aufmerksamkeit. Nur was dem Profit der Fastfoodmedien dient, schafft es in die Suchergebnisse, nur was die Algorithmen nach ihren Kriterien als relevant erachten, wird in unserer Timeline dargestellt. Websites, die Google nicht in den Suchergebnissen zeigt, existieren de facto nicht.

“Fake News” – Empörung herrscht allerorten über das “postfaktische Zeitalter”. Selbstverständlich gab es gezielte Falschmeldungen schon immer – Desinformation und manipulative Berichterstattung waren allerdings bis jetzt das Privileg von Journalisten und ihren Verlegern. Die stupiden Algorithmen der Fastfoodmedien ermöglichen es heute, Fake News sehr viel gezielter, von außen an ein Massenpublikum zu senden. Spätestens seit Brexit und der US Wahl 2016 sollte klar sein, dass Medienfastfood den Geist genauso fett und faul macht, wie die Malbouffe von McDonald’s.

“Medien sollten klarer und transparenter sein und nicht, entschuldigen Sie den Ausdruck, in eine Koprophilie verfallen, die stets bereit ist, Skandale und widerliche Dinge zu verbreiten, so wahr sie auch sein mögen”
Papst Franziskus

2017 wird das Jahr der Slow Media, davon bin ich überzeugt. Die Zeit ist reif für wirklich neue Medien, die mehr bieten, als Fastfood, als Hetze, Rassismus und Hass.
Anders als die Fastfoodmedien der letzten zehn Jahre werden Slow Media ein inhaltliches Konzept tragen und sich nicht lediglich als technologische Plattform definieren, unter Ableugnung jeder politischer und sozialer Verantwortung. Aber sie werden eine sozial gestützte Kultur vertreten, die auch Technologie positiv einbezieht, statt sie zu verdammen und zu bekämpfen.

Wir werden 2017 neue Medienangebote erleben, die nicht dem technokratischen Solutionism aus Silicon Valley folgen. Sie werden dezentral, verteilt und autonom arbeiten, keine Winner-takes-it-all Wette auf das Unicorn.

Die neuen Medienangebote werden allerdings – wie ihre Vorgänger – die Frage nach dem Markt beantworten müssen. Ob Werbung weiterhin nahezu ausschließlich die Geldquelle für relevante Publikationen bieten sollte, so wie es bisher selbstverständlich war, halte ich für fragwürdig. Renditeerwartung der Shareholder, die die Jagd auf Werbegeld anheizt, das nur kommt, wenn massenweise und verlässlich Menschen erreicht werden, ist die treibende Kraft hinter den Algorithmen, denen wir die Überschwemmung mit Fake News verdanken. Werbung ist das einzige Geschäftsmodell der Fastfoodmedien. Aber die Welt ist keine Ware – José Bovés Motto des “besseren Essen” können wir eins zu eins auf Kultur übertragen – und auf Medien.

Was ich mir in der nächsten Mediengeneration am meisten erhoffe, ist Vielfalt und Alternative, die Stimme der Marginalisierten zu hören, statt wie heute bei jeder Abweichung vom Mainstream vom Shitstorm niedergebrüllt zu werden.

Vielfalt bedeutet vermutlich auch die Abkehr von den dominierenden Paradigmen der Netzwerk-Ökonomie. Medien werden sich nur dann wirklich neu erfinden können, wenn das Dogma ‘Alles muss im Netz gedacht werden’ sinnvoll gebrochen und kritisch überwunden wird. Der Künstler und Medientheoretiker Zach Blas hat dazu den bemerkenswerten Text “Contra Internet” geschrieben. Darin beschreibt er die zukünftigen Medien als Paranodes, Nervenzellen, die außerhalb des Netzes liegen, quasi in den Zwischenräumen. Ob und wie es uns gelingt, aus dem Gedankengefängnis der Netzwerk-Metaphorik zu entkommen finde ich eine der interessantesten Fragen.

2017 wird das Jahr der Slow Media, das ist jedenfalls meine Prognose. Wie so oft wird es auf den ersten Blick vielleicht keine totale Revolution sein, was wir in neuen Medienangeboten erblicken. Wir werden also genau hinsehen müssen, gerade auch jenseits der Orte, an denen klischeehaft Medieninnovation stattzufinden hat.

Wir freuen uns auf die nächste Generation der Medien. Und wir sind gespannt, über was wir hier darüber erzählen können!

Links zum Thema
Zach Blas, Kontra Internet
Jörg Blumtritt, Ohne Google
Michaael Reuter, NewsChain – Authentische Nachrichten generieren und verbreiten

John Naughton (The Guardian), How Trump’s savvy army won the internet war
Jonathan Albright, Welcome to News Fake

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Slow Media und die knappe Zeit

Hat einer dreißig erst vorüber,
so ist er schon so gut wie tot.

Goethe, Faust II

“Warum Slow Media?” Die Frage bekommen wir auf unseren Veranstaltungen und in vielen Gesprächen immer wieder gestellt. “Was hat euch dazu gebracht, für mehr Langsamkeit im Mediengebrauch einzutreten?” Für mich ist Hippokrates vielzitierter Aphorismus Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά (bzw. Senecas noch prägnantere Form vita brevis, ars longa) das Fundament von Slow Media – ja, überhaupt von allen Strömungen der Slow-Bewegung.

Das Leben ist schlicht zu kurz, um sich mit schlechten Dingen zu umgeben, von schlechtem Essen zu ernähren oder eben schlechte Zeitschriften, Internetseiten oder Bücher zu lesen. Gerade in der Mitte des Leben rückt die letzte deadline (was für ein passender Begriff) unaufhaltsam näher und lässt sich nicht mehr aufhalten. So mäht der Tod von Altötting die Sekunden der verbleibenden Zeit mit der Sense.

Die entscheidende Frage, die in der Geistesgeschichte zu unterschiedlichen Antworten geführt hat, lautet: Wie umgehen mit diesem Missverhältnis zwischen Begrenztheit des Lebens und Unbegrenztheit der Künste? Wie umgehen mit dem Bewusstsein, sich allenfalls mit einem winzigen Bruchteil aller Bücher, Filme, Zeitschriften, Menschen näher auseinandersetzen zu können? Ganz grob skizziert, gibt es einen quantitativen und einen qualitativen Weg durch diese Zwickmühle.

Der quantitative oder auch protestantische Weg sieht vor, mit Hilfe eines strikten Plans, einer timetable, möglichst viel von dem Potential auszuschöpfen. Benjamin Franklins Losung “Zeit ist Geld” ist der deutlichste Ausdruck dieser Philosophie, bei der es darum geht, jede Sekunde des Tages in Wert zu setzen und nichts von dieser kostbaren Ressource durch Faulenzen oder gar Genuss zu vergeuden. Sparsamkeit ist das Ideal, nach dem die kurze verbleibende Lebenszeit ausgerichtet werden soll.

Ganz anders sieht der andere Weg aus, in dem es um die Qualität der kurzen Zeit geht. Hier ist es nicht das Ziel, möglichst viel Geschäfte in die begrenzte Zeit hineinzupressen – junge Erwachsene in den USA schaffen es zum Beispiel durch Parallelnutzung unterschiedlicher Medien 10:45 Stunden Medienzeit in nur 7:38 Stunden Lebenszeit zu stopfen, so dass Franklin angesichts dieser Effizienz sicher Beifall klatschen würde  -, sondern die Zeit möglichst gut zu verbringen. Unser Slow-Media-Manifest könnte man auch in einem Satz zusammenfassen: Die Zeit ist zu knapp für schlechte Medien.

Der Collège de France-Romanist Harald Weinrich beschreibt in seinem Buch “Knappe Zeit”, das ich an dieser Stelle wärmstens empfehlen kann, alle denkbaren Facetten dieses Phänomens. Im Mittelpunkt steht dabei der Dualismus zwischen dem greisen Chronos, der wie der Tod z’Eding unerbittlich mit hohem Tempo dem Ende entgegenrast, und dem jugendlichen Kairos, der auch optisch den weisen Gebrauch der Zeit beschreibt:

[A]ls auffälligstes Merkmal trägt er den Kopf fast kahl geschoren. Nur an der Stirnseite ist ein Haarschopf stehengeblieben. Will ein Irdischer diesen behenden Gott fassen und festhalten, so muß er ihn frontal annehmen und versuchen, ihn beim Schopf zu ergreifen. Wenn dieser Zugriff mißlingt, dann findet die Hand an dem glatten Schädel keinen Halt, und schon ist die rechte Zeit verpaßt und entglitten.

Auf für Medien gibt es einen rechten Zeitpunkt. Nicht jedes langsame oder schnelle Medium ist für jeden, immer und überall das richtige. Aber in vielen Fällen ist die langsame, inspirierende und nachhaltige Option die angenehmere Wahl, die das Gefühl vermittelt, die knappe verbleibende Zeit des Lebens gut erfüllt zu haben.

Paradoxerweise ist dies häufig auch die kostengünstigere Option. So wie der Kauf eines sehr guten, nie benutzten Teeservices aus Porzellan von 1957 auf dem Flohmarkt viel günstiger kommt als der Einkauf von namenloser Industrieware bei schwedischen Einrichtungshäusern oder von wie-alt-produzierter Ware in Nostalgiesupermärkten, ist der Genuss sehr gut hergestellter Bücher, die bereits eine Patina besitzen, günstiger als das Sammeln von Billig-Editionen der Tageszeitungsverlage. Slow Media ist aber nicht als Plädoyer für etwas, was man in Anlehnung an Stilmöbel als Stilmedien bezeichnen könnte, zu verstehen, sondern für authentische Medien, seien es neu am Zeitschriftenstand gekaufte (Wired, Intelligent Life, Make, Brand eins) oder eben Erbstücke. Für alles andere ist die Zeit zu schade.