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Kurznachrichten – 20 Jahre SMS

At instant speeds all reaction and adjustment are inevitable but too late to be relevant.
McLuhan

ἔρρει τὰ κᾶλα. Μίνδαρος ἀπεσσύα. πεινῶντι τὤνδρες. ἀπορίομες τί χρὴ δρᾶν.
Xenophon, Helenika

Heute vor 20 Jahren wurde die erste SMS verschickt. Und mit der SMS beginnt das Zeitalter der Kurznachrichten, der asynchronen Echtzeit-Kommunikation und die Epoche der Lakonie. Aus der SMS wurden Twitter, Foursquare, Facebook, Whatsapp, … zur Zeit werden alleine ca. 300.000 SMS pro Sekunde versendet.

Mit der SMS haben wir gelernt, unser Leben genau dort und dann organisieren, wo wir gerade gehen oder stehen, ohne darauf angewiesen zu sein, den Anderen “an die Leitung” zu bekommen. Auch wenn es schon zuvor Pager gegeben hatte – die Integration in ein Gerät, das Mobile Fon, mit dem wir nicht nur telefonieren und texten, sondern bald auch fotografieren konnten und heute mehr und mehr unsere ganze Kommunikation abwickeln.

SMS, Short Messaging Service, 140 Zeichen Text (wobei viele Provider bis zu 255 Zeichen zulassen, zumindest in lateinischem Alphabet). Die SMS hat uns erzogen, uns kurz zu fassen. Wir haben mit ihr eine neue und äußerst effiziente Sprache entwickelt, lakonisch, ganz wie wir es von den alten Sprachen her kennen.

Die Lakonie hat ihren namen von den Lakedemoniern, den Spartanern. Xenophon überliefert, wie oben zitiert, eine Depeche, die der spartanische Vizeadmiral während der Schlacht von Kyzikos an seine Heimatstadt schickte. Die einzeilige Nachricht wurde von den Spionen Athens abgefangen und so – irronischer Weise – der Nachwelt erhalten:

“Boote gesunken, Mindarus tot, Männer hungrig, mit unserer Weisheit am Ende.”

Die äußerste Knappheit der Ausdrucksweise wurde bald sinnbildlich mit Sparta verbunden, so wie wir die Reduktion aufs Wesentliche, den Verzicht auf alles Beiwerk auch heute noch spartansich nennen.

Welche Bedeutung hat die SMS, haben Kurznachrichten für uns heute, nach zwanzig Jahren? Jedes neue Medium, sagt McLuhan, können wir in vier Aspekten betrachten und so ein besseres Bild davon bekommen, was dieses Medium in unserer Gesellschaft und Kultur bewirkt:

1. Was wird durch das Medium verbessert?
2. Was wurde verdrängt?
3. Was, das verloren war, taucht wieder auf?
4. Wohin kippt die Entwicklung, wenn sich das Medium vollständig durchgesetzt hat?

Diese Tetrade, bezogen auf Kurznachrichtendienste könnte folgendermaßen aussehen:

Verstärkt
Effizienz, Gemeinschaft, Kontrolle
Holt wieder hervor
Vers, Metapher, Lakonie, Gespräch

Medium:
SMS
/Kurznachrichten

Schlägt um in
Memetische Kommunikation, Shitstorm, Piraten, Arab Spring,
BigData, Slow Media
Macht überflüssig
Pager, Anrufbeantworter, Briefwechsel, Zeitung, TV-Nachrichten

Das Tetraden-Modell von McLuhan: vier Aspekte auf die Wirkung von Medien auf Kultur und Gesellschaft.

1. Kurznachrichten erhöhen die Effizienz. Wir teilen uns anderen in Echtzeit mit, in knappen Worten, hochkonzentriert und sind dabei unabhängig davon, ob der Empfänger gerade empfangsbereit ist. Der stetige Austausch verstärkt Gemeinschaft. Nicht nur, dass wir über Kurznachrichten leicht eine größere Anzahl von Leuten koordinieren können – wenn wir uns heute mit Freunden im Biergarten verabreden, machen wir nur selten einen genauen Treffpunkt aus – wir organsieren uns spontan. Durch “ich bin hier und habe dies und jenes erlebt” teilen wir unsere Gedanken, Gefühle und unsere Erlebnisse ganz unkompliziert und kontinuierlich mit anderen. Auf diese Weise bedeutet SMS, Twitter, Foursquare etc. auch Kontrolle: wir können von anderen verlangen uns zu informieren, ja, wir erwarten es sogar – “bei dir war besetzt” oder “du bist nicht dran gegangen” haben als Ausreden ausgedient.

2. Die SMS hat offensichtlich den Pager überflüssig gemacht. Aber – auch wenn viele das noch nicht begriffen haben – auch den Anrufbeantworter oder, wie man heute sagt, die Mailbox: es ist lästig, sich aus dem aufs Band gesprochenen Wort, den relevanten Inhalt herauszuhören, Telefonnummern oder Daten herauszuschreiben, wo man per SMS, Twitter oder anderer Kurznachrichtendienste die wichtigen Information einfach direkt ziehen könnte, die schriftlich und elektronisch zu verarbeiten ist, bieten doch die meisten Telefone die Möglichkeit, Telefonnummern aus Nachrichten direkt anzuwählen.

Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es die SMS ist und nicht die Email, die den Briefwechsel verdrängt. Die Mail ist formal immernoch ein Text mit nahezu beliebiger Länge; auch wenn sie in der Regel schneller ausgeliefert wird, als der Brief, teilt sie alle anderen Nachteile: schnell ist das Postfach voll; bevor man die langwierigen Ausführungen eines Briefes aufgenommen und in ein Antwortschreiben verdaut hat, sind bereits jede Menge Dinge geschehen, die den Inhalt des Briefes veralten lassen, jede Menge weiterer Nachrichten, Mails oder Briefe eingetroffen, die ebenfalls nach Antwort und Bearbeitung heischen. Der Briefwechsel als Literaturgattung – oft seitenlanges Geschwurbel – ist nicht mehr zeitgemäß und unbestreitbar auf dem Rückzug; es ist genau 15 Jahre her, dass ich den letzten Brief schrieb – und auch nur, weil der Empfänger damals bereits 80 Jahre alt war. Die Nachfolge – der Email-Thread wird es, das kann man wohl schon heute sagen, bis auf Ausnahmen kaum schaffen, etwas Hervorzubringen, das wir literarisch nennen wollten.

Sprichwörtlich ist das Ende der klassischen Nachrichtenmedien durch Twitter. Dabei ist es nicht nur die mangelnde Aktualität von Zeitungen oder TV-Nachrichten im Verleich zur Echtzeit-Kommunikaiton der Kurznachrichten – es ist vor allem der mangelnde Filter. Bekommen wir bei Zeitung oder TV stets das Gefühl, zu erfahren, was wir gar nicht wissen wollten, während wir das wirklich wichtige vorenthalten bekommen und verpassen, suchen wir uns in unserer Timeline genau die Menschen, deren Aussagen wir für relevant halten. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht auf das Problem der Filter Bubble eingehen, also das Phänomen, dass wir uns durch unsere Timeline in unserer eigenen Realitätsblase gefangen bleiben. Es geht mir auch nicht darum, zu erörtern, ob es vielleicht doch besser wäre, wir würden dennoch weiter Zeitung gelesen haben – die Tatsache ist, dass die klassischen Nachrichten durch die asynchrone Echtzeitkommunikation in der Nutzung bald vollständig verdrängt werden.

3. Es gibt eine Form des sprachlichen Ausdrucks, die perfekt auf die 140 Zeichen der Kurznachrichten ausgelegt ist: der Vers. Verse sind das wichtigste Hilfsmittel der mündlichen Überlieferung. Jeder Satz ist ein einfacher Einzeiler. Satz um Satz kann man sich die Sage, das Märchen, die Ballade einprägen. Ein Text, der in lauter einfache, etwa gleich lange Sätze aufgeteilt wird, erhält von selbst einen Rhythmus. Der Vers wurde im Zeitalter des Buchdrucks an den Rand der Literatur verdrängt – eine reine Kunstform, ohne praktischen Nutzen, da der Platz im gedruckten Text nahezu unbegrenzt war und durch die beständigkeit ein Auswendiglernen nicht mehr von Nöten. Mit der SMS kommt der Vers zurück, der Aphorismus, der Einzeiler. Und da poetische Sprache sich durch höchste Verdichtung ausdrückt, in Metaphern ganze Bilder in wenige Worte mit mehreren Bedeutungsebenen zusammenfasst, ist es kein Wunder, dass die Sprache der Kurznachrichten oft sehr metaphorisch ist.
Aber nicht nur das Vershafte der Kurznachrichten erinnert an mündliche Tradition. SMS, Twitter etc. sind in ihrem Kern keine Text-Medien, sondern vielmehr Gespräche, Austausch von Rede und Gegenrede, oft nicht nur im Dialog, sondern über eine ganze Gruppe von Teilnehmern.

4. Wir erleben bereits, wie sich unsere Kultur durch Kurznachrichten verändert. Über den Memetic Turn haben wir hier bereits öfters geschrieben. Metaphern, Bildhafte Ausdrücke, deren Bedeutung sich nur dem vollständig erschließt, der kulturell eingeweiht ist, der den Kontext versteht und das Bild lesenkann, erzeugen in hohem Maß Gemeinschaftlichkeit. Katzenbilder sind der Kitt unserer Gesellschaft.
Durch die Unmittelbarkeit, das “ich kann sofort Antworten” erleben wir häufig, wie sich Nachrichten in positiven Regelkreisen schnell zum Sturm aufschaukeln, besonders, wenn es um Empörung geht: der Shitstorm ist eine Figur der Kurznachrichten-Epoche.

Die Kultur der Piratenpartei hängt ebenfalls stark mit Kurznachrichten zusammen. Hochgradig memetisch – kein Tweet ohne hermetischen Hash-Tag, hochgradig selbsterregend und für Außenseiter bis ans Unhöfliche grenzend knapp und direkt. Auch wenn es inzwischen mehr als dreißig tausend Piraten-Mitglieder in Deutschland gibt, der Kern, das Netz der bundesweit Aktiven informiert und organisiert sich nicht über Mailinglisten oder Wiki, sondern über Twitter; “140 Zeichen muss reichen”.
Ich bin überzeugt, dass die meisten der politischen Erhebungen der letzten Jahre eng mit der SMS-Kultur verwoben sind. Ich sage nicht, dass wir den Arab Spring ohne Twitter oder Facebook nicht erlebt hätten, aber die Kurznachrichten geben dieser neuen Form von Selbst-Ermächtigung ganz wesentlich ihr Gepräge.

Neben den Suchmaschinen, sind es die Kurznachrichten, deren Sturzflut zu einem neuen Paradigma in der IT geführt hat: BigData. So groß ist das Volumen, so schnell kommt immer Neues nach und muss in Echtzeit verarbeitet werden, dass die alten Regeln für Hardware, Betriebssysteme und Datenbanken schnell aufgegeben wurden. Kurznachrichten sind Gespräche, die in Text-Form vorliegen. Damit sind sie maschinell leicht auszuwerten; es ist sind nicht nur Volume und Velocity, auch Machine Learning wird durch die Kurznachrichtenrevolution aus seinem Dornröschenschlaf erweckt.

Und schließlich: wenn Real-Time Realität ist, wenn es also nicht mehr darum geht, Kommunikation zu beschleunigen, weil sie bereits in der völligen Gleichzeitigkeit angekommen ist, muss unser Ziel jetzt sein, zu verstehen, was geschieht. Wir können uns jetzt darauf konzentrieren, was uns wichtig und was uns wertvoll ist.
Slow Media ist unsere Antwort, die Synthese der SMS-Tetrade.

Zwanzig Jahre Kurznachrichten – ein historischer Zeitabschnitt von allergrößter Bedeutung für die Kultur in sehr vielen Teilen der Welt, aber vor allem für uns, für mich, ganz persönlich.

Vita brevis,
ars longa,
occasio praeceps,
experimentum periculosum,
iudicium difficile.

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    Spanische Revolution

    Aber ein Sturm weht vom Paradiese her.
    Walter Benjamin

    Und ich höre Dich sagen, mehr leise als laut: Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut.
    Tocotronic (via Dr_Ultra)

    In Spanien, gerade einmal 100 Kilometer südlich des Anbaugebietes dieses wunderbaren Sandweins, findet im Augenblick in Spanien eine Revolution nach ägyptischem Vorbild statt (hier der Livestream von der fernen iberischen Halbinsel). Dass aus Ägypten nicht berichtet wurde, trotz der 9 Milliarden Euro öffentlich-rechtliches Rundfunkbudget, ist verständlich. Die Jahre zuvor hatte man Schritt für Schritt die Auslandskorrespondenten in die Selbständigkeit entlassen, so dass am Ende niemand mehr vor Ort war – bis auf Richard Gutjahr -, der vom Tahrir-Platz aus berichten konnte.

    Dabei sind die Reporter vor Ort und die TV-Ausrüstung gar nicht einmal die Hauptsache. Wenn ich niemanden dauerhaft im Land habe, fehlen die Quellen, mit deren Hilfe Journalisten Informationen validieren und Trends aufspüren können. Auch wenn ein Sender seine Reporter schnell dorthin einfliegen kann, sind das nicht viel mehr als journalistische Touristen. Die wirkliche Berichterstattung ist schon längst ins Internet (Twitter, Blogs, Facebook) abgewandert und werden von Sendern wie Al Jazeera oder Bloggern gesammelt, geprüft, ausgewertet und interpretiert.

    Warum übrigens gibt es keine Berichterstattung über die spanische Revolution? Warum findet diese Revolution nur online statt? Findet sie überhaupt statt oder inszeniert sich hier bloß so etwas wie ein Revolutionsmem, das ebenso inhaltsleer und viral ist wie dieser Werbeclip (“Join the #spanishrevolution”)?

    Das erinnert mich an die endlosen Diskussionen in ethnologischen Proseminaren zur Ritualtheorie, ob ein Ritual denn auch dann noch ein Ritual sei, wenn es nur gespielt wird. Wann ist eine Revolution eine Revolution? Niklas Luhmann Spruch “Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien” trifft immer weniger zu. Wenn es nach den Massenmedien geht, läuft in Spanien im Moment alles in den gewohnten Bahnen. Es sind Wahlen und da politisiert sich halt alles ein wenig.

    Auf Twitter dagegen ist die Revolution in Westeuropa schon längst zum trending topic geworden, zu dem im Minutentakt Bilder, Parolen und Mikroanalysen gepostet werden. Walter Benjamin hat seinen Engel der Geschichte, der längst nicht so freundlich aussieht wie der Engel des Regensburger Himmelfahrtfensters, mit dem Rücken voran in die Zukunft fliegen lassen. Vielleicht machen es die Massenmedien ja ganz genauso und bemerken die Revolution auch erst, wenn die ersten Trümmerhaufen im Blickfeld auftauchen. Derweil beschäftigen wir uns mit den Sexorgien von Versicherungsvertretern oder Politikern.

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    Ägypten und der Rest der Welt

    Klassische Revolutionsikonografie. Foto: Richard Gutjahr

    Ich weiß nicht, welche alten Reflexe mich am vergangenen Wochenende dazu bewegt haben, doch immer wieder durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme und deutsche Nachrichten-Sender zu schalten. Völlig ungerührt vom historischen Geschehen im Maghreb wurde hier das traditionell nachrichtenfreie Wochenendprogrammschema samt Florian Silbereisen und Wintersport abgehakt (ähnlich stoisch übrigens wie Präsident Mubarak seine Regierungssimulation weiterführt). Das Fernsehen hätte bei mir wirklich eine Chance gehabt, als nationales Lagerfeuer in historischen Situationen. Aber während Ereignisse wie Schnee oder Hochwasser echte Sondersendungen wert sind, schafften es 100.000ende Ägypter, die ihr Leben für etwas riskieren, das möglicherweise Freiheit ist, nicht.

    Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple

    Stattdessen wurde fast nur während der schmalbegrenzten Norm-Nachrichten berichtet, und auch hier merkte man den Redaktionen geradezu an, wie verzweifelt sie nach “Relevanz” für die quotenrelevante Zielgruppe suchte (hier gilt offenbar der vermutete Zuschauerwunsch als Maßstab für Nachrichtentauglichkeit): Was an der Lage in Ägypten könnte den deutschen Zuschauer bloß interessieren? Und so wurde schamlos von der Lage an den ägyptischen Badestränden berichtet und von den möglichen Auswirkungen auf die deutsche Börse. Ich finde das noch heute beschämend. Das ist eine Beleidigung aller Zuschauer.

    Anzeige im "Express", 30. Januar 2011

    Ich sparte mir das dann und hielt es so, wie CNN mir ohnehin vorschlug: “stay with CNN”. Und mit dem englischen Al-Jazeera-Livestream. Und mit Twitteraccounts, die aus Ägypten berichteten. Und mit Richard Gutjahr. Der Nachrichtenmann des Bayrischen Rundfunks und Journalist reiste kurzentschlossen von Israel nach Kairo und berichtet per Twitter und auf seinem Blog. Alleine für die Fotos lohnt es sich, dort hinzusehen. Wer seinem Twitterstream folgt, weiß, dass er sich öfter in Israel aufhält und so eine höchst interessante Perpektive auf die Entwicklungen hat: die hiesige und die dortige. Wer weiß, dass Ägypten und Israel Nachbarstaaten sind und ein wenig im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, muss zugeben, dass das ein Grund ist, da zuzuhören – trotz möglicher gleichzeitiger Selbstdarstellung. Der eine hält es eben so, der andere so. Thomas Knüwer meint, dass eine Unterstützung für die Roaminggebühren Richard Gutjahrs besser angelegtes Geld ist als GEZ-Gebühren. Ich bin nach den letzten Tagen geneigt, ihm zuzustimmen.

    Sie sind bewaffnet: mit Fotohandys. Foto: Richard Gutjahr

    So schwerfällig sich die öffentlich-rechtlichen und privaten (ja, jetzt muss man es leider sagen: alten) Medien zeigen, so schnell und unbürokratisch handeln die neuen Medien: die Unternehmen Twitter, Google und SayNow legten kurzerhand eine Wochenendschicht ein und das Ergebnis war “speak2tweet“: ein Service, der es jedem erlaubt, per Telefon Nachrichten auf Twitter zu veröffentlichen. Man wählt eine Telefonnummer, spricht seine Nachricht auf Band und diese wird unter dem Twitter-Account http://twitter.com/speak2tweet veröffentlich. Das verleiht den vom Internet abgeschnittenen Ägyptern im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme. Und so oft wir auf diesem Blog kritisch über Google berichtet haben (z.B. hier und hier): genau das ist es, was Medien können und auch tun sollten. Das ist wohltuend angesichts des Versagens klassischer Medien.

    Foto: Richard Gutjahr

    Man mag einwenden, dass diese Stimmen subjektiv sind. Ja, das sind sie. Sie sind subjektiv. Und ja, Fakten sind wichtig, aber subjektive Eindrücke eben auch (ein schönes Beispiel aus dem österreichischen Fernsehen hier). Diese Eindrücke sind wichtig und informativ – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie subjektiv sind. Was zählen Fakten in diesen Zeiten? Die Fakten und verifizierten Informationen können wir in Ägypten derzeit in der offiziellen Presse und den Staatssendern nachlesen und ansehen: scheinbar aufrechte Ägypter demonstrieren für Mubarak, der Präsident hat die Sicherheitslage im Griff, der Vizepräsident ist bereits dabei, die geforderten Reformen anzuweisen  und auch sonst gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Das ist die offizielle Version derjenigen, die gewohnt sind, Fakten zu schaffen. Alles andere sei nur Hörensagen*, die Meinung Einzelner, Subjektivität.

    Aber das ist genau da, wo grade Geschichte passiert.

    __________________________________________

    * Nachtrag: “Hütet euch vor Gerüchten und hört auf die Stimme der Vernunft” heißt es in einer Propaganda-SMS, die zu verschicken die ägyptische Regierung Vodafone genötigt hat.

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    Eine Auswertung dieser Situation und welche Rolle die Reaktionsfähigkeit für die Medienevolution hat, finden Sie nebenan auf dem Slow-Media-Institutsblog

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    Über Glaubwürdigkeit, Schreiben und Handeln

    Ich habe neulich über Twitter einen Hinweis auf einen Artikel der Financial Times Deutschland bekommen: Bernd Oswald schreibt dort über den “PR-Journalismus im digitalen Zeitalter”. In dem Beitrag wird der Eindruck vermittelt, dass das Medium Internet zu einer unseligen Verflechtung von PR und Journalismus geführt habe, von Unternehmensinteressen und öffentlicher Berichterstattung. Diese Aussage kann ich so nicht gelten lassen. Im Gegenteil handelt es sich bei der Vermischung von PR und Journalismus um eine ungebrochene Tradition, die mit dem Erscheinen der Online-Medien am Publikationshorizont nichts zu tun hat. Zu Beginn der 90er Jahre war es jedenfalls Gang und Gäbe und keinesfalls unüblich, dem Publikationswunsch eines Pressetextes bei der Redaktion mit dem Hinweis auf die Anzeigenabteilung Nachdruck zu verleihen. Vom Internet war damals noch weit und breit nichts zu sehen. Die Personalausstattung der Redaktionen war schon zu dieser Zeit so ausgelegt, dass ein gewisser Prozentsatz an externen, aus der PR stammenden Beiträgen durchaus einkalkuliert war. Man könnte meinen, dass sich dieses Problem nun erledigt habe (keine Anzeigenkunden, keine Interessenskonflikte), aber so ist es – noch – nicht.

    Als Beispiel für die Interessensvermischung durch das Digitale führt der Beitrag Richard Gutjahrs Berichterstattung von der iPad-Premiere an: “PR-Journalismus reinsten Wassers” (diese Formulierung stammt nicht von Oswald selbst, sondern von Thomas Leif, dem Vorsitzenden des Netzwerks Recherche). Und hierin besteht meiner Meinung nach ein Missverständnis. Die Frage lautet: Ist es – und unter welchen Umständen – journalistisch legitim, positive Berichte über Unternehmen und ihre Produkte zu machen? Wann ist es glaubwürdig, wann ist es ein Interessenskonflikt? Wie subjektiv darf ein Journalist sein? Ist es “Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards und […] reine Werbung”, wenn ein Jounalist sich 24 Stunden lang in New York in die iPad-Warteschlage einreiht und von dort aus live per Twitter, Blog und Printbeiträgen berichtet? Die Fragen sind interessant und führen zu Haltungs-Unterschieden im Print- und Online-Journalismus.

    Darf ich mich zum Beispiel als Autorin des Wirtschaftsmagazins brand eins noch positiv über sie äußern? Ist es ein Interessenskonflikt, wenn wir als Slow Media Autoren die brand eins als Prototyp erfolgreicher Slow Media darstellen? Darf ich das? Meine Antwort hierauf lautet: Ja. Weil ich selbst weiß, wie die Reihenfolge ist: Meine Haltung zu brand eins war schon vorher da, nur deshalb bin ich überhaupt dort Autorin geworden. Wenn ich sie nicht für ein beeindruckendes Qualitätsmedium gehalten hätte, hätte ich ihr nicht als erstem Publikatinsmedium meinen Twitter-Beitrag angeboten. Ergo wäre ich nicht brandeins-Autorin geworden. Ich handle und schreibe nach meiner (vielleicht fehlbaren aber) wirklichen Überzeugung.

    Eine ähnliche Haltung unterstelle ich auch bei Richard Gutjahr, wenn er zur iPad-Premiere nach New York reist. War er schon vorher überzeugter, erklärter und offener Apple-Addict? Ja (zumindest nach dem Eindruck, den ich von ihm über längere Zeit über Twitter und seinen Blog gewonnen habe). Ist es unglaubwürdig, wenn er dann nach New York fährt und davon berichtet? Eher nein. Macht es ihn käuflich? Möglicherweise, vielleicht auch nicht. Die Handlung wäre jedenfalls nicht mit einem beliebigen anderen Event, dem Launch eines xy-Produktes austauschbar.

    Wie also definieren wir Glaubwürdigkeit? Ich denke, Glaubwürdigkeit ist da, wenn Stimmigkeit zu dem sonstigen Handeln und Schreiben besteht. Das setzt zwei Dinge voraus: Der Mensch und seine Haltung müssen hinter der Reportage, den Zeilen, dem Podcast sichtbar werden (dies ist übrigens These 14 unseres Slow Media Manifestes). Und die Leser müssen mehrere Beiträge desselben Autors gelesen haben, um ihn überhaupt einschätzen zu können. Das verlangt eine Bindung zwischen Lesern und Schreibenden, die ich dem Journalismus in Zukunft wünsche, ob nun print oder online.

    Neulich habe ich einen Anruf im Auftrag einer namhaften überregionalen Print-Tageszeitung aus großem Verlagshaus erhalten. Es ging um ein “Themenspecial”, in dem wir mit unserer Agentur eine Anzeige schalten sollten. Neben dem Anzeigenplatz wird unverhohlen der redaktionelle Teil der Qualitätszeitung mitverkauft:  “1/3 Seite neutraler Fachbeitrag in dieser Ausgabe, der aus Ihren Themenvorschlägen von unserem Autor für Sie erstellt wird”, so lautet es im Angebot. Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass das Realität ist. Trotzdem irriert es mich, dass mein Gesprächspartner nicht einmal merkte, wie absurd es ist, Geld zu zahlen, um sich dann im redaktionellen Teil als Expertin für authentische Kommunikation zu präsentieren.  Ich habe Mitleid mit den Autoren, die diese Texte schreiben und am Ausverkauf des Journalismus mitwirken müssen. Natürlich spürt man in solchen Texten nicht mehr den Menschen, der sie schreibt. “Entfremdung” ist das Wort, das mir dazu einfällt als jemand, der selber schreibt. Es geht nur noch um die Schaffung anzeigenfreundlicher redaktionellen Umfelder. Ob es um das Thema “Knochen und Gelenke”, “Versicherungen” oder “Kommunikation der Zukunft” geht, ist völlig egal. Der journalistische Text (für den ich noch immer mütterliche Gefühle hege) wird hier zur völlig austauschbaren Ware.

    “Selbstvermarktung, Aushöhlung journalistischer Standards” – hier sehe ich sie tatsächlich. Die Zukunft des Journalismus kann so etwas nicht sein. Das rettet einen Verlag höchstens über die nächsten Jahre. Vielleicht wäre es jetzt die Aufgabe für den Journalismus, sich zwischen den Polen der Entfremdung und der Subjektivität einen neuen Ort zu suchen.

    Nachtrag (10. November 2010):

    Gerade sehe ich ein sehr interessantes Interview mit Chris Anderson, dem Chefredakteur der Wired (über die wir hier bereits berichtet haben).

    Er stellt folgendes fest (und das schließt hervorragend an die obigen Ausführungen über Redaktions/Anzeigen-Interessensverquickung an):  Im 20. Jahrhundert haben die Zeitschriften/Zeitungsverlage die Frage “Who is my customer?” de facto mit: “the advertiser” beantwortet (bzw. beantworten müssen). Da stellt Anderson nun einen Wandel fest: Die Finanzierung läuft inzwischen zu gleichen Teilen über Anzeigenkunden und Leserschaft. Dadurch rückt der Leser plötzlich in den Fokus: “Going forward if my customer becomes my reader I am going to do the right thing for the reader – because it improves my profit.” Dass Publikatinsmedien ihre Leser zukünftig als ihre Kunden betrachten könnten, das finde ich eine ganz wunderbare Aussicht. “It’s the most exciting time in media ever.” Und auch hier muss ich ihm zustimmen.

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    Eine Woche ohne Google.

    Heute ist Streetview in Deutschland gestartet. Und ich habe jetzt genau eine Woche weder Google Search noch Google Maps oder Streetview noch sonst eine Suchmaschine genutzt. Eine Woche ohne Google oder einen Monat – ich denke, es macht keinen Unterschied: geht es eine Woche, geht es immer.

    Es war,zum ersten, viel leichter, als ich dachte: das meiste, was ich suche, findet ich – ohne Spam – auf Wikipedia. Was dann noch fehlt, bekommeich über die Blogs und Websites, die ich lese und wenn mir wirklich etwas fehlt, hilft die #Followerpower auf Twitter – irgendjemand weiß immer Rat.

    Zweitens – und das finde ich wirklich bemerkenswert: das Internet wirkt plötzlich nicht mehr wie eine Wüste; ich habe nicht mehr das Gefühl, dass unter 1000 Seiten, die mir angeboten werden höchsten eine ist, die mich wirklich interessiert. Ich bin seit einer Woche wirklich nicht auf eine einzige Seite getroffen, bei der es sich nicht gelohnt hat, zu verweilen. Keine Honey-Pots, Seiten, die uns zu sich über suchmaschinen-optimierte Versprechen zu sich ziehen, wie der süße Duft des Honigs die Bienen anlockt; keine der meist lieblosen und fast immer wertlosen Portalangebote, die jede Suche dutzendweise nach oben spühlt; diese Seiten tauchen nämlich weder auf Wikipedia noch in meiner Timeline jemals auf.

    Im Internet surfen – das war das Bild, dass in der Zeit vor Google unser Gefühl beschrieben hat, im Internet von einer Welle zur nächsten zu gleiten. Dieses Gefühl kann man immer noch haben – man muss nur aufhören, zu suchen.

    Die bisherigen Posts zum Experiment “Ohne Google”:
    Die bisherigen Posts zum Experiment “Ohne Google”:

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    Wertvolle Empfehlungen statt wertloser Sucherei
    Ohne Google: Tag 1

    [Read this post in English]

    Nachdem ich gestern den Entschluss gefasst hatte, für eine Zeit lang ganz auf Suchmaschinen zu verzichten, möchte ich nicht veräumen, zu erzählen, inwiefern sich meine Internetnutzung dabei verändert hat.

    Das wichtigste Mittel, zu wertvoller Information zu kommen, sind meine Netze, vor allem auf Twitter. Ich möchte mich gar nicht in einer trivialen Eloge auf das großartige Web2.0 ergehen. Aber tatsächlich habe ich das starke Gefühl von Sicherheit, über die Posts meiner Peer-Group alle Pfade des Internets ausgerollt zu bekommen, auf die ich mich auch tatsächlich begeben möchte.

    Zum ersten Mal habe ich mir die Mühe gemacht, genauer zu betrachten, welche Links ich in meiner Twitter-Timeline empfohlen bekomme. Bisher hatte ich angenommen, eher zufällig mal auf den einen, mal auf den anderen Link zu klicken. Um ein objektives Bild zu bekommen, habe ich alle Links, die mir wert schienen, ihnen zu folgen, in einer Liste zu archivieren.

    Beim Auszählen, die Überraschung: ich habe mir in Wahrheit etwa die Hälfte der Links aus meiner Timeline angesehen!Spam findet sich kaum. Tatsächlich liegen hinter den Links fast immer lesenswerte Artikel oder Bilder, die mich zumindest erfreuen. Diese Effizienz in der Versorgung mit Content finde ich bemerkenswert.

    Hier die Liste der Links, die ich gestern Abend für relevant befand, ihnen zu folgen:

    … und morgen geht es weiter. Sehr gespannt bin ich auch auf den parallelen Bericht von @dasrhizom!

    Weiter zum zweiten Tag ohne Google: Orientierung mit OpenStreetMap
    Zurück zur Einführung: Ohne Google. (die Einführung)
    Und Ich bin dann mal verpixelt. – über Google Streetview.

    Die anderen Posts zum Experiment “Ohne Google”:

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    Twitter und das Geschenk der Meeresprinzessin

    Vielleicht haben meine Mitautoren Sabria David und Jörg Blumtritt schon alles gesagt, was man über Twitter aus einer Slow-Media-Perspektive sagen kann. Twitter als der schnelle, flüchtige Schritt ins Augenblicksweb, das heute geschrieben und morgen, wenn nicht wenige Minuten später schon wieder vergessen ist (vielleicht in Zukunft nicht mehr ganz so vergessen, da die Library of Congress nun unsere Kurzmitteilungen speichern wird).

    Twitter als zweckfreies Vogelorchester, dessen musikalischen Dauerstrom man eine Weile verfolgt, bevor man sich dann wieder anderen Dingen zuwendet. Oder Twitter als lebhafte, kreative gegenseitige Befruchtung mit Gedanken, ein Ort zwischen Volière und Salon – und mit Sicherheit auch ein Treffpunkt schräger Vögel, wenn man dieses Bild weiterspinnt.

    Im Guardian hat sich vor kurzem die Autorin Margaret Atwood unter dem Titel “How I learned to love Twitter” zu diesem Thema geäußert. Sie vergleicht Twitter mit einer Märchenwelt, in die man wie das für die meist kindlichen Märchenhelden so üblich ist, mit Haut und Haar verschlungen wird. Eigentlich steckt alles schon in ihrem einleitenden Absatz:

    A long time ago – less than a year ago in fact, but time goes all stretchy in the Twittersphere, just as it does in those folksongs in which the hero spends a night with the Queen of Faerie and then returns to find that a hundred years have passed and all his friends are dead … Where was I?

    Twitter gehört für sie also in eine Kategorie mit Zauberschlössern oder Unterwasserpalästen, in denen man hundert Jahre schlafen kann, ohne einen Tag gealtert zu sein, oder in denen man einen einzigen Tag verbringen kann, während die Außenwelt um hunderte oder tausende Jahre gealtert ist. Kurz: Auf Twitter singen keine Vögel, sondern Siebenschläfer (AaTh 766).

    So wie es dem ersten Zeitreisenden der Literaturgeschichte, Urashima Taro, gegangen ist, der nur wenige Tage mit der Meeresprinzessin Otohime verbracht hat und bei seiner Rückkehr ins Dorf der Eltern feststellen musste, dass dort in der Zwischenzeit 60 bis 300 Jahren (die Überlieferungen der Geschichte sind sich hier nicht einig) vergangen waren, und seine Eltern und Schwester nur noch ferne Erinnerungen der Dorfbewohner.

    Als er tieftraurig das geheimnisvolle Geschenk der Meeresprinzessin, ein lackiertes Kästchen, öffnete, drehte sich die Zeit auch für ihn weiter. Binnen Sekunden alterte er, seine Haare verfärbten sich und wurden weiß – der jugendliche Fischerssohn verwandelte sich in einen gebeugten Greis.

    Mit Atwood könnte man also fragen: Was passiert mit uns, wenn wir aus unserem Rip-van-Winkleschen Twitterschlaf erwachen? Werden wir plötzlich feststellen, dass unsere Haare ergraut sind? Aber das ist ja nur eine der märchenhaften Bilder, mit denen sie ihre Faszination mit dem Medium beschreibt. Eine weitere Deutung, die zu ganz anderen Assoziationen führen könnte, ist der Vergleich ihrer Follower mit 33.000 altklugen Enkelkindern …

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    “L’idée vient en parlant”: Kleist über Twitter

    Heinrich von Kleist

    Jörg Blumtritt hat gestern einen schönen Beitrag über Twitter geschrieben. Damit haben sich die Autoren des Slow Media Blogs endgültig als Twitter-Fans geoutet. Twitter, ein Schwarm von Vogelgesaengen. Eine Volière, die – wie es Wikipedia so unvergleichlich formuliert – den “Freiflug der Insassen ermöglicht”, und nicht nur den der Insassen, sondern auch die Freiflüge aller anderen, die sich durch die geräumigen und durchlässigen Begrenzungstäbe dort hineinwagen.

    Zu der gestern bereits angeführten Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Twitter möchte ich ein paar Gedanken ergänzen. Beginnend mit einer Frage: In welcher Zeit findet das Ganze eigentlich statt? Die Sprache verrät es uns: “What are you doing?” lautete die Eingangsfrage von Twitter (bis sie von dem jetzigen “What’s happening?” abgelöst wurde). Die digitalen Frei- und Höhenflüge finden also in der Verlaufsform statt, im englischen “present progressive“, der sogenannten -ing-Form. Sie wird verwendet, wenn “das Geschilderte im erzählten Moment (…) gerade passiert” (ein Äquivalent wäre die Rheinische Verlaufsform des “Ich bin am twittern”). Auch das Partizip Präsens Aktiv drückt Gleichzeitigkeit aus: unser Zustand ist schreibend, denkend, sprechend, twitternd.

    Die Twitter-Zeit ist auch das Partizip Präsens des „L’idée vient en parlant“ (die Idee kommt während des Sprechens). Heinrich von Kleist prägte diesen Begriff 1805 in Analogie zu der französischen Redewendung “L’appétit vient en mangeant” (der Appetit kommt mit dem Essen). Er schreibt es in seinem großartigen Aufsatz “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden”, und ich möchte die Behauptung aufstellen, dass Kleist hier über Twitter schreibt. Er empfiehlt darin, wenn man nach stundenlangem Brüten in einer Gedankensackgasse steckt, das Gespräch mit einem anderen zu suchen. Im Gespräch mit einem Gegenüber kommen die eigenen Gedanken in Fluss, nehmen Gestalt an, gewinnen Konturen und formen sich zu einer klaren Argumentation. Kleist spricht hier nicht vom Wiedergeben bereits fertiger Gedanken, sondern von einem Sprechen als “ein wahrhaft lautes Denken”. Die Sprache sei dann wie ein “zweites, mit [dem Rad des Geistes] parallel fortlaufendes Rad”. Er spricht also auch von Gleichzeitigkeit, von Gleichzeitigkeit des Sprechens mit der Entwicklung des Auszusprechenden.

    Das ist auch bei Twitter möglich. Auch bei Twitter kann “ein lebhaftes Gespräch [entstehen], eine kontinuierliche Befruchtung der Gemüter mit Ideen” – allerdings nicht nur wie Kleist noch voraussetzte in der mündlichen Rede, sondern auch in der quasimündlichen Schriftform der digitalen Welt. Inspiration und Inspirierendes, die Konzentration und Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, der im Begriff ist, sich im Jetzt und im Diskurs mit einem Gegenüber zu entwickeln: In diesem Punkt finden Kleists Essay, Twitter und unser Slow-Ansatz zusammen.