Vielleicht haben meine Mitautoren Sabria David und Jörg Blumtritt schon alles gesagt, was man über Twitter aus einer Slow-Media-Perspektive sagen kann. Twitter als der schnelle, flüchtige Schritt ins Augenblicksweb, das heute geschrieben und morgen, wenn nicht wenige Minuten später schon wieder vergessen ist (vielleicht in Zukunft nicht mehr ganz so vergessen, da die Library of Congress nun unsere Kurzmitteilungen speichern wird).
Twitter als zweckfreies Vogelorchester, dessen musikalischen Dauerstrom man eine Weile verfolgt, bevor man sich dann wieder anderen Dingen zuwendet. Oder Twitter als lebhafte, kreative gegenseitige Befruchtung mit Gedanken, ein Ort zwischen Volière und Salon – und mit Sicherheit auch ein Treffpunkt schräger Vögel, wenn man dieses Bild weiterspinnt.
Im Guardian hat sich vor kurzem die Autorin Margaret Atwood unter dem Titel “How I learned to love Twitter” zu diesem Thema geäußert. Sie vergleicht Twitter mit einer Märchenwelt, in die man wie das für die meist kindlichen Märchenhelden so üblich ist, mit Haut und Haar verschlungen wird. Eigentlich steckt alles schon in ihrem einleitenden Absatz:
A long time ago – less than a year ago in fact, but time goes all stretchy in the Twittersphere, just as it does in those folksongs in which the hero spends a night with the Queen of Faerie and then returns to find that a hundred years have passed and all his friends are dead … Where was I?
Twitter gehört für sie also in eine Kategorie mit Zauberschlössern oder Unterwasserpalästen, in denen man hundert Jahre schlafen kann, ohne einen Tag gealtert zu sein, oder in denen man einen einzigen Tag verbringen kann, während die Außenwelt um hunderte oder tausende Jahre gealtert ist. Kurz: Auf Twitter singen keine Vögel, sondern Siebenschläfer (AaTh 766).
So wie es dem ersten Zeitreisenden der Literaturgeschichte, Urashima Taro, gegangen ist, der nur wenige Tage mit der Meeresprinzessin Otohime verbracht hat und bei seiner Rückkehr ins Dorf der Eltern feststellen musste, dass dort in der Zwischenzeit 60 bis 300 Jahren (die Überlieferungen der Geschichte sind sich hier nicht einig) vergangen waren, und seine Eltern und Schwester nur noch ferne Erinnerungen der Dorfbewohner.
Als er tieftraurig das geheimnisvolle Geschenk der Meeresprinzessin, ein lackiertes Kästchen, öffnete, drehte sich die Zeit auch für ihn weiter. Binnen Sekunden alterte er, seine Haare verfärbten sich und wurden weiß – der jugendliche Fischerssohn verwandelte sich in einen gebeugten Greis.
Mit Atwood könnte man also fragen: Was passiert mit uns, wenn wir aus unserem Rip-van-Winkleschen Twitterschlaf erwachen? Werden wir plötzlich feststellen, dass unsere Haare ergraut sind? Aber das ist ja nur eine der märchenhaften Bilder, mit denen sie ihre Faszination mit dem Medium beschreibt. Eine weitere Deutung, die zu ganz anderen Assoziationen führen könnte, ist der Vergleich ihrer Follower mit 33.000 altklugen Enkelkindern …