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Zeitungen lesen lernen

Slow Media steht für medienübergreifende Medienkompetenz. In Gedanken überlege ich zuweilen, welche Unterdisziplinen eine slowmediavistische Medienkompetenz hätte, wenn wir dieses Fach unterrichten würden. Eine Unterdisziplin wäre wohl “Zeitungen lesen lernen”. In dieser Unterdisziplin würde davon zu sprechen sein, wie man Zeitungen (oder allgemein: Medien) liest. Nicht nur rein lexikalisch, sondern so wie man auch ein Fußballspiel lesen kann oder eine soziale Interaktion oder eine Gruppen-Konstellation. So wie man den Subtext einer Situation entschlüsselt. Wichtig ist dabei der Blick auf das Spiel als Ganzes mit seinem Regelsystemwerk, nicht nur auf die einzelnen Spielzüge.

Diese Unterdisziplin der Medienkompetenz würde lehren, den methodenkritischen Blick zu schärfen. Sie würde nach den Grundvoraussetzungen suchen, unter denen ein Medienbeitrag zustande kommt und nach den Vorzeichen fragen, unter denen der Beitrag steht, nach den impliziten Grundannahmen.

Für uns alle (Mediennutzer wie auch Medienproduzenten)  sind diese Grundannahmen um so blindere Flecken, je näher sie unserer eigenen Einstellung, unseren eigenen Grundüberzeugungen sind. Was gibt es spannenderes als blinde Flecken – die eigenen und die der anderen? Wie herrlich man sie nutzen kann, um den Blick und die Instrumente zu schärfen. Was steht zwischen den Zeilen? Was ist das unsichtbare Kleingedruckte? Auch wenn wir längst lesen können, müssen wir erst noch lernen, Medienalphabeten zu werden.

Welten und Gegenwelten

Als Beispiel könnte man einen Beitrag der Welt am Sonntag vom 2. Oktober 2011 (Nr. 40, WS 6) hinzuziehen. Hier wird aus den steigenden Mieten in Berlin das erfreute Fazit gezogen: “Berlin wird endlich zur Metropole”. Auch im NRW-Teil der Zeitung werden unter dem Titel “Krönung für die Kö” freudig die ersten Luxusmieter begrüßt.

Daraus lassen sich unschwer Rückschlüsse auf die Leserschaft ziehen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei eher um Immobilienbesitzer als um Mieter handelt. Denn nur für erstere Gruppe dürfte es sich bei der Nachricht, dass  “In Top-Lagen […] Mietsteigerungen möglich” seien, um eine erfreuliche handeln.

Dass hierzu eine Gegengeschichte zu erzählen wäre, liegt nahe und wäre eine hübsche kleine Fingerübung für Leute, die sich in slowmediavistischer Wahrnehmung üben möchten. Wie könnte die Komplementärgeschichte aussehen? Eine, die von Stadtentwicklung spricht, von Gentrifizierung, von den Auswirkungen auf Gemeinwohl, Stadtteilkultur und Identität?

Diese mögliche Gegenwelt ist wie die Rückseite des Mondes auch in dem zitierten Zeitungsartikel mitenthalten (genauso wie andersherum in dem gedachten Gegenbeitrag die Perspektive des obigen Beitrags implizit enthalten wäre). Slow Media bedeutet, diese ungeschriebenen Gegengeschichten mitzulesen und zu versuchen, von einer Einzelperspektive auf das Ganze zu schließen.

Zu dem steigenden Berliner Mietspiegel gibt es natürlich bereits Gegengeschichten, wie die lustige Erfindung des “Wutmieters“. Dass unsere Welt jenseits des medialen Tellerrandes aus geschriebenen Geschichten und Gegengeschichten besteht,  das ist eben der unschätzbare Wert einer pluralen Medienlandschaft.