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Die sieben Wege des IoWT

Gastbeitrag von Jasmina Tešanović[1],
übersetzt von Joerg Blumtritt. [Original Blog Post]


Es war meine Idee, ein “Open Source Connected Home der Zukunft” zu bauen. Mein Plot wurde von den Geeks unserer schönen neuen Welt angenommen, von brillianten Leuten, die aber fast alles Männer sind. Sie nannten das Haus “Casa Jasmina”, nach meinem Namen: Ich bin dankbar dafür, aber das Haus ist alles andere als gemütlich.

Menschen sind unterschiedlich und leben in unterschiedlichen Blasen von begrenztem menschlichen Verstand. Männer und Frauen, Dichter, Philosophen, Musiker, Architekten, Designer, Ingenieure – wir könnten sie versuchen in Idealisten und Realisten einzuteilen – die Menschen in den Wolken-Blasen und die Menschen in den Blasen des Erdreichs.

Ist nun ein Projekt wie Casa Jasmina “hands-on”, praktisch, ein Projekt der Maker, die ihren Idealen aufwärts entgegen streben, oder sind es ein paar Ideale, die nach Erdung streben, um zu zeigen, dass die hochfliegenden Konzepte tatsächlich möglichich sind?

Ist es ein Haus für die Wolken-Blasen-Leute, jene, die ihre Wolken-Welt erfinden, bevor sie am Boden aufschlagen (oder zumindest am Boden landen, um ab und zu Vorräte aufzunehmen)? Oder ist es eine erdverbundene Startrampe für die Sehnsucht, auf der die Erd-Blasen-Leute Werkzeuge bauen, um den Himmen zu erreichen?

Wie kann eine Traumblase ein wirkliches Haus werden? Wie kann eine Wolke ein Fundament bilden? Spielt der Kronleuchter, das Lieblingsstück deiner Großmutter, eine Rolle in einer Raumstation? Welche Objekte gehören – nicht zu der Welt wie sie ist, sondern in die Welt, wie sie sein sollte?

Wenn Designer davon sprechen, dass sie “Out of the box” denken – welche Box stellen sie sich unbewußt dabei vor? Eine antike, geschnitzte, altbackene Holztruhe, oder irgendeine durchscheinende, minimalistische Schachtel aus durchscheinendem Plastik? Wir haben alle unsere Seifenblasen und Gehäuse, aber auf welche Art ist die Kiste einer Frau die einer Frau?

Das “Internet of Things” ist eine Wolkenplattform, und gleichzeitig ein konzeptuelles Gehäuse. Dies ist das Wesen des “IoT”: Es ist eine digitale Plattform für Software, wireless, mit Rechenleistung und daten-zentriert. Ebenso ist es ein Paradigma.

So erschien mir auf meiner Suche nach einer Art drittem Weg zwischen Feminismus und Design, ein “Internet of Women Things” – das Internet der Frauen-Dinge. Könnte dieses “IoWT” großzügig Raum schaffen für konzeptuelle Projekte, für Ideen und Rat, für den Sinn nach Schönheit und erfülltem Leben? Solche Konzepte geben nicht häufig ersten Anstoß für Technolgie-Projekte, aber sie halten gemeinhin am längsten.

Das IoWT ist etwas, dass ich im Nebel erkannte, als eine “Wolke”, dennoch bodenständig. Die IoWT-Wolke mag auf ihre Weise sogar ein Stück weit unter die Erde reichen, geprägt nicht nur von luftigen Idealen, sondern auch von unterdrückter, weiblicher Energie.

Das “Internet of Things” kann nicht einfach nur von und für Web-Technologen bestehen, da es nicht nur die Dinge umfasst und sich darauf erstreckt, sondern auch auf Frauen und Kinder oder Tiere, oder Pflanzen, oder Roboter … Im Augenblick sehe ich das IoT in gefährlicher Weise außerhalb der Weltsicht der Frauen. Das IoT ist so entfremdend und so eng begrenzt auf die heutigen technischen und wirtschaftlichen Erfordernisse, dass es sehr wohl ganz und gar scheitern kann. Es wäre ein Jammer, wenn seine weitreichenden Fähigkeiten für diese Generation verloren gingen, unter einem Haufen von gescheiterten, über-ambitionierten Spielzeugs begraben, wie es ähnlichen technologischen Visionen erging, wie etwa Virtueller Realtät oder Künstlicher Intelligenz.

Frauen sind ebenso verantwortlich für Technologie, wie Männer, und in der Internet Revolution spielten wir die tragende Rolle – im Guten wie im Bösen. Nur durch Verweis auf unsere Chromosomen können Frauen nicht von der Moderne ausgeschlossen bleiben.

Selbst unter der Bedingung eines Entscheidungskampfes um das Internet of Things – und sei es um gerechter und hoher Gründe willen – sollten wir nicht dulden, dass Missbrauch, Verbrechen und Unfälle die Regeln setzen. “Dinge” waren immer mühsam, während das “Neuland Internet” des zwanzigsten Jahrhundert seine häßliche Seite zeigt, in schäbigen Geschäftspraktiken, Cyberwar und repressiven Verhalten.

Ja, Frauen wissen, wie man überlebt, und – zumindest nach meinem dafürhalten – auch, wie man bestehen bleibt. Ich habe erlebt, wie Frauen mit Kriegen, humanitären Notlagen und mit politischen und wirtschaftlichen Katastrophen zurecht gekommen sind. Ich selbst habe das Atom- wie das Weltraumzeitalter durchlebt, also werden mich digitale Maschen und Moden nicht aus der Ruhe bringen. Das Internet of Things, diese Schublade, diese Wolke, diese Plattform, liegt nicht außerhalb meiner Auffassungsgabe. Im Gegenteil; ich habe daran Hand angelegt und habe dafür sogar so etwas ähnliches wie Prinzipien zu bieten.

Und hier kommen ein paar davon …

1. Kritisches Denken

Wenn Frauen schon aktiv in einer Männerwelt leben, wird eine kritische Revision der bereits bestehenden Verhältnisse notwendig, um das IoT zum IoWT aufzuwerten. Wann immer Menschen mit Werkzeug zusammenstoßen, das für die Ambitionen von weißen, jungen, männlichen Hight-Tech-Kommerz-Unternehmern aus Silicon Valley entwickelt wurde, ist das Ergebnis oft klobig, unschön, tragisch oder grotesk.

Frauen sollten nicht fehlerhaftes Design mit Gender-Problemen verwechseln. Frauen werden immer als “schlechte Autofahrer” abgekanzelt werden, solange sie übergroße und übermotorisierte Panzer und Traktoren fahren müssen, und genau diese ungleichheit umangelhafte Anpassung ist in Heerscharen von historischen Objekten und Diensten eingebacken, die lediglich nicht frauenfreundlich sind. Der Teufel sitzt in den Details, aber kritisches Bewusstsein über die Werke des Teufels zu besitzen, ist ein Kunststück, dessen nur wenige Teufel fähig sind.

2. Positive Inklusion

Das Internet of Things ist das Unternehmen einer technischen Elite, das Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt; daher sollte das Projekt eine wesentlich breitere Vielfalt von Menschen als Teilhaber einbeziehen, statt nur als Kunden. Frauen müssen präsent und sichtbar sein, wobei die jüngste Geschichte die durchaus gemischte politsche und soziale Wirkung des Internet auf Sprachkulturen, Nationalitäten, ethnische Gruppen, Regionen und Völker gezeigt hat.

Die Welt in diesem Jahrzehnt wimmelt von angsterfüllten Flüchtlingen, denen wohl das Internet, aber kaum noch irgendwelche “Dinge” geblieben sind. Flüchtlinge brauchen zu allererst Brot und eine Unterkunft, aber diese elementaren Bedürfnisse, die es auch für uns alle nach Flutkatastrophen oder Erdbeben zu befriedigen gälte, scheinen kaum je von größerer Bedeutung für diejenigen zu sein, die an einer einträglichen IoT-Zukunft arbeiten, inklusive geschlossener Tech-Ökosysteme und marketing-getriebener Ausspähung der Kunden, sogenannter Marketing Surveillance.

Im Gegenteil konzentriert sich ein Großteil der Arbeit am IoT intensiv auf Sicherheit, feindselige Exklusion und Communities, die mit physischen wie psychologischen Zäunen abgegrenzt werden – Strukturen und Systeme, die entwickelt werden, um all die Unerwünschten, die Ausländer, die Vertriebenen und Entwurzelten schön ausßerhalb der IoT-Schranken zu halten.

Menschen brauchen mehr als Dach und Brot, mehr als Clicks und Sammelpunkte, um nicht nur gesund, sondern auch munter zu bleiben. Wo sind die IoT-Formate, die Menschen positiv einschließen, die ein schreiendes zweijähriges Mädchen und ihre Mutter auf einer kaputten Straße vor Schaden bewahren? Tatsächlich “Out of the Box” leben Frauen, deren “Boxen” ausgebombt wurden. Wie können deren Stimmen hörbar werden, und wie ihre Vorstellungen zur Umsetzung kommen?

3. Positive Abgrenzung

Das IoWT braucht einen Freiraum, wo sich Frauen treffen und voneinander lernen können. Frauen können nicht alles, was es über ihre eigenen Interessensgebiete zu wissen gibt in Hörsälen der Ingenieursdisziplinen lernen, wo schon so lange die Regeln der männlichen Welt vorgeherrscht haben.

Wenn Frauen sich ohne männliche Aufsicht treffen, haben sie ihr Coming-Out. Die Regeln ändern sich, ihr Verhalten ändert sich; Frauen finden sich in der veränderten Anmuting wieder wieder, in moralischen Regeln, die in Jahrhunderten weiblichen Überlebens überliefert wurden, die davon handeln, für Nahrung zu sorgen, Kinder zu kleiden, gegen Krankheiten zu kämpfen, das Heim vor Verall und Zerstörung zu bewahren. Viel davon entfaltet sich nicht in Lehrbüchern und Algorithmen, sondern eher in Sticheleien, in Witzen, im Sermon; häufig im Ratschen – denn die Gemeinschaftlichkeit der Frau-zu-Frau-Welt ist nicht politisch korrekt, nicht mal notwendiger Weise gut.

Es gibt keine Parlamente, die der Begegnung von Frauen vorbehalten wären. A-historische Versammlungen, um es kurz zu sagen. Wann immer in den historischen Archiven von Staatsaffären und Politik zu lesen ist, können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass es darum geht zu beschreiben und zu erklären, was alles nicht von Frauen getan wurde. Aber Aufzeichnungen, was Frauen taten, haben wir nicht!

Sogar die Frauen, die als Expertinnen in der Kreativwirtschaft bekannt sind, werden in der Regel nur in Zusammenhang mit Männern aus dem selben Fach genannt. Unsere Vorgängerinnen in der Geschichte sind meist Töchter, Ehefrauen oder Mütter von irgendeinem berühmten Kerl, nur en passant von dessen Prominenz gestreift, wenn sie für ein gemeinsames Werk bekannt sind. Aber diese Geschichten sind nicht die weibliche Geschichte der weiblichen Schöpferkraft, es ist mehr eine geräumige Leere, in der Frauen für ewig Gefangene bleiben, stets als unerwartete Eindringlinge in den offiziellen Affären der Welt, Dissidenten, oft sogar Hexen.

Diese Kategorien verschwinden allerdings, sobald nur Frauen im Raum sind. Ich habe die Kraft und den Reiz dessen erfahren, in mir selbst und bei anderen Frauen in kleinen Gruppen, in denen ich aktiv wurde, manchmal sogar aktiv gegen meinen eigenen Willen. Gruppen wie “Die Mütter von Srebrenica”, die Überlebenden eines Völkermordes, die einen alternativen Strafgerichtshof der Frauen geschaffen hatten. Frauen, die im Jugoslawienkrieg vergewaltigt worden waren, die durch ihre tapfere Aussage Vergewaltigung im Krieg zu einem weltweit geächteten Kriegsverbrechen machten, statt Vergewaltigung dabei zu belassen, wie sie in der Kriegsgeschichte bislang betrachtet worden war, bestenfalls als eine Fußnote, eine “natürliche Folge”, selbstverständlich wohl bekannt und gefürchtet von allen Frauen im Krieg, vom Gesetz und den Männern ignoriert.

Das Internet of Things hat viele Aspekte, die Frauen betreffen, die nie explizit gemacht werden – einige davon werden grauenvoll werden, andere vielleicht wunderbar. Ethik ist Ästhetik, Inhalt ist die Form, daher ist “positive Abgrenzung” nicht nur ein Experiment, sie bringt schon gute Ergebnisse hervor.

4. Politik und Strategie

Frauen, das Mehrheits-Geschlecht, stellen die größte unterdrückte Menschengruppe der Welt. Sie haben viele und unterschiedlichste Systeme der Unterdrückung erlebt, und sie wissen, dass das Internet of Things schlicht ein weiteres davon sein könnte.

Frauen haben im Internet seit langem Erfahrung mit Stalking, aufdringlicher Beobachtung, Ausspähung, Doxxing, organisierter Schikane und andere Übergriffe in die Privatsphäre mit technischen Hilfsmitteln. Die unsichere Position derer, die sich online öffentlich zu Wort melden oder sich einsetzen, ist ihnen sehr genau bewusst, und somit sind Privatsphäre und Sicherheit grundlegende Themen für das IoWT, nicht nur als Funktionen der Hardware, sondern als ein Recht an sich: Das Menschen Recht für Frauen.

Das Internet of Things breitet sich in einer politischen Ära aus, die einen Edward Snowden, Advanced Persistent Threat Hacking aus China, geleakte Offshore Banken, Terror Militias, Geheimdienste und die gigantische, weltumspannende Marketing-Überwachungsmaschinerie von Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft einschließt. Wenn wir also über “Connected Things” im IoT sprechen, meint dies notwendiger Weise, Dinge, die mit diesen Gebilden verbunden sind und nicht nur mit irgend einer idealisierten und abstrakten IoT “Cloud”.

Frauen sind einigen Formen von Überwachung unterworfen, weil sie Frauen sind, zum Beispiel an der Tür zu einer Abtreibungsklinik oder weil sie es wagen, unverschleidert auszugehen. Sie müssen für die Kontrolle über ihren eigenen Körper kämpfen: Unserer Körper. Für eine weibliche Prominente kann selbst eine neue Frisur oder die Wahl des Lippenstifts einen viralen Aufruhr provozieren, eine zunehmend verbreitete Situation, da jedes kleine Detail in irgend einem Selfie teil einer permanenten Datenbank werden kann.

Orwell hatte uns schon vor der herabwürdigenden Sprache und dem Abrutschen in eine Dystopie des Verfalls gewarnt. Totalitarismus is eine lebendige Erinnerung, und wir alle sind uns paranoisch bewusst, wie schlecht die Dinge möglicherweise werden können. Die Hände zum Himmel zu strecken ist nicht genug. Wie kann das Internet of Things das Privatleben von Frauen wirklich verbessern und als Frauen in mehr Sicherheit erleben lassen, statt weniger?

5. Just do it

Es gibt Zeiten, die nach Wagnis und Tollkühnheit verlangen. Frauen haben nicht immer schon nach Prinzipien der Vorbeuge gelebt; anderenfalls gäbe es keine Anti-Baby-Pille.

IN Zeiten des Tumult sind die letzten vielleicht die ersten. Meine Mutter war als Teenager ein antifaschistischer Partisan im von den Achsenmächten besetzten Jugoslawien. Sie prahlte stets damit, dass Frauen in der Kriegszeit nicht empfindliche Püppchen waren, sondern zu allererst Revolutionskämpfer. Warum, so hätte sie argumentiert, sollte eine Frau, die sich selbst ins Bein schießt, dabei voller Selbstzweifel lamentieren, während Nazis gleichzeitig versuchen sie umzubringen? Selbstverständlich kannst du als Kämpferin im Feuer versehrt werden, aber der Feind kann genauso gut daneben schießen. Und die Befreiung wird nicht von selbst kommen.

Frauen treten nicht aus dem Mutterleib heraus, und beginnen Befreiung einzufordern. Sie werden Feministinnen, nach erlebter Frustration und Diskriminierung. Eine Frau muss nicht um Sorgen bitten, um viel davon serviert zu bekommen, aber dasselbe gilt für die Chancen.

Wir leben tatsächlich in einem Zeitalter der Technologie, in dem Frauen nicht länger zu Hofstatt, Küche, Kirche und ewigen Schwangerschaften verdammt sind. Technologie und die Gleichberechtigung der Frauen sind nicht dasselbe, aber sie sind auch nicht ihr gerades Gegenteil. Technologie und Empfängnisverhügung stehen hinter der revolutionären Emanzipation der Frau im zwanzigsten Jahrhundert. Körperkraft legt nicht länger die Rollenteilung fest, und der “Naturzustand” der Frau ist nicht mehr die Schwangerschaft während ihres ganzen, mittlerweise verlängerten Lebens.

Das Internet of Things schmeckt nach den Internet-Konzernen die heutzutage tonangebend sind, aber dar Geist des älteren Internet ist nicht vergessen. Die Wurzeln des IoT sind so alt, wie die Netze von Stromversorgung und Telefon, in denen Frauen stets Nutzer und Teilnehmer waren. Telefonistinnen sind heute überflüssig, aber es gab Heerscharen davon.

Das Internet of Things wird eines Tages ebenfalls vergehen. Neue Kulturräume können niemals vollständig alte Benachteiligung reproduzieren; wenn wir “aus der Box” treten, bauen wir uns vielleicht eine neue, niemals aber wieder dieselbe alte Box.

Warum wollen wir uns nicht einfach in kleinen Gruppen treffen und mutig tausend kleine Schachteln bauen und uns ansehen, was passiert? Ein attraktiver Ansatz!

6. Design Fiction

Wir können uns Dinge vorstellen, die wir noch nicht verwirklichen können. Auch wenn es zum Beispiel den Weltfrieden miot Sicherheit nicht gibt, können Frauen pazifistische Bewegungen ins Leben rufen und anführen und die ersten sein, die die Trümmer wegräumen, wenn jemals der Krieg enden sollte. Sie tun das nicht nach dem männlichen Lehrbuch-Stil abstrakter Effizienz, aber Männer haben auch schon oft ihren Hintern dadurch gerettet, auf Frauen zu hören und ihnen zu folgen.

Die Gleichheit der Geschlächter und allgemeine Gerechtigkeit sind ebenfalls Visionen, aber das gilt auch für ein reibungsloses Internet und perfekt designte und funktionale Dinge. Jeder Ingenieur kennt die Unterscheidung “AM/FM”, “Actual Machines”, die man wirklich gebaut hat, und “Fantastic Magic”; das sollte also auch für schöpferische Erlaubnis für Frauen auf technologische Träume ausreichen.

Warum also nicht spekulative und konzeptuelle Objekte aus einer Frauen-Perspektive erfinden? Stellt euch Dinge und ihre Verbindungen vor, die es noch nie gegeben hat und beschreibt sie. Mögen sie seltsam sein, oder hübsch, nützlich oder nutzlos, Luxus der zum Gebrauchsgut wird, oder umgekehrt.

Design fiction, ‘fantasia al potere’, hebt Ungläubigkeit auf und holt das Unglaubwürdige zurück ins Mögliche. Selbst traditionelle Künstler und Kunsthandwerker können ihre Arbeit wiederbeleben, indem sie sich neue Rollen für ihre Werke in vermuteten Welten ausdenken.

Meine Lieblingsform von Design Fiction ist nicht das Ausdenken völlig neuer Dinge – nur sehr wenige wirkliche Dinge entbehren der Vorläufer – sondern im Neuentwurf der Objekte, die wir bereits in unserem Erbe mitführen. Ich liebe alte Sachen aus der Vergangenheit, da ich empfänglich für ihre emotionalen und ästhetischen Werte jenseits der Ladenregale und Webseiten von heute bin.

“Dinge” sind nur Sachen, vor allem, wenn es zu viele sind, zu alte, kaputte, eine nutzlose Last, überflüssig, gefährlich, dysfunktional und teuer. Aber diejenigen, die ihre Sachen kennen und lieben sollten die Macht haben, sie zu erhalten.

Eine Lampe ist ein Ding für das Stromnetz, aber es ist ebenso die Lampe meiner Großmama, die sie leuchten hatte, während sie meiner Mutter die Brust gab. Die Wanduhr meines Großvatersist eine genaue, schwerkraftgetriebene Maschine, aber es ist auch ihre Gegenwart im Hause, die alle fünfzehn Minuten eine Melodie in meines Vaters Kindheit spielen lies.

Wiedergefunden auf dem Dachboden, wiederverwendet mit etwas Hilfe der freundlichen Geeks. Frauen denken unterschiedlich, und wann immer die Box der Technologie bröckelt und bricht, tröpfeln Märchen von Zauberstöcken, selbstfahrenden Kürbiskutschen und gläsernen Schuhen heraus. Warum sollten wir die Asche fegen, warum auf den fernen Prinzen der Technologie warten, der diesen Apparat deinem zierliches Füschen anzieht?

Design Fiction Workshops können den Standpunkt einer Frau sichtbar machen: Warum in der Asche am schmutzigen Herd warten, statt Liebe zu finden und ein Königreich zu erobern. Freude und Hoffnung bringt es uns, Träume besser zu machen.

Die Atombombe war eine Ausgeburt der Märchenwelt – ein Monster, “der Tot, der Weltenzerstörer” – aber auch wenn wir unter der Wirklichkeit unserer eigenen Erfindungen leiden, so träumen wir doch. “Technolgie ist neutral”, das sagen sie, als ob Technologie unabhängig von unserer Vorstellung davon wäre, von unseren Modellen davon, unseren Wolken und Schachteln. Aber Technolgie ist niemals neutral, da Technolgie – anders als die menschliche Natur aus dem Stoff der Träume sich erhebt, und es gibt keine neutralen Träume.

7. Vielfalt

Ein Haus ist ein Habitat, ein Heim, eine kleine Welt, ein Element im gesellschaftlichen Kosmos, eine Krippe und eine Zufluchtsstätte. Ein Haus ist zu allererst die Zufluchtsstätte von Frauen mit kleinen Kindern, und der Greise. Diejenigen, die das Haus am meisten nutzen und des Hauses am stärksten bedürfen, sollten eine Rolle spielen, es zu gestalten und zu unterhalten.

Haushaltstechnik, “Domotik”, soll die Selbstbestimmtheit der Menschen erweitern, die in dem Haus wohnen, und nicht im Namen von lockenden Profiten ihre Schöpferkraft beschneiden. Senioren stellen eine ständig wachsenden Teil der weltweiten Zivilisation, eine Entwicklung, die keine Anzeichen von Schwäche zeigt, während die Armen wie üblich überall zu finden sind, oder besser gesagt, die Armen sind überall zu finden, wo sie hingehen dürfen. Kinder, die große, neue Minderheit der Welt, sind weniger in der Zahl, ausgegrenzt von den Machtressourcen der Erwachsenen, oder sogar missbraucht in den lieblosen, befehlsgesteuerten Systemen.

Das sind die Bedürftigen des IoWT: Deren Würde und Fähigkeit müssen wir schützen, sie ermächtigen, und ihnen Anteil verschaffen, während sie zu ihrem verlängerten Erwachsenenleben heranwachsen. Die Wirtschaftskrise hat die alten Modelle von Immobilien und Behausung in Gefahr gebracht und die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die zuvor ihre verborgenen Überlebensnischen besetzen konnten, sehen diese Orte zunehmend vollständig auf den Markt geworfen und globalisiert.

Wir sollten die extremistischen Geschäftsmodelle nicht gewähren lassen, den Charakter der Viertel und Städte niederzureißen. Das ist der Lauf in Entfremdung und ein Weg ins Nirgends, während es Not täte, den Umgang gesitteter zu gestalten und die Lebensqualität zu verbessern. Kulturelle Stärken und Unterschiede werden die zukünftige Überlebensfähigkeit der Städte festlegen, und nicht abgehobene Vektoren von Geld und Macht, diej gelegentlich an die Oberfläche zucken und wieder versinken.

Städte rund um den Erdball unterscheiden sich grundlegend, und auch ein standardisiertes elektronisches Daten-Protokoll wird die Welt nicht zu einer Scheibe machen. Die Art und Weise, auf die ein Italiener seinen Kaffe macht, ist ein geheiligtes Ritual, das bekräftigt werden sollte, statt es weg zu optimieren; und wir sollten die Unterschiede Loben und Preisen, in denen die Briten ihren Tee bereiten. Wie eine Serbin ihr Brot eigenhändig backt, vermittelt einen Stolz, den eine Desktop-basierte Brotbackmaschine ihr niemals schenken könnte.

Home Automation ist Jahrzehnte alt und oftmals gescheitert, oft genug, ein Science-Fiction Museum mit archaischen, stromlinienförmigen Druckknöpfen zu füllen. Aber ein Mangel an Engagement ist keine Bequemlichkeit und Trägheit kein Wohlstand, und zu viele Mouse-Klicks, genauso wie zu viele Diener, können das Leben seiner Intimität und Würde berauben. Netze und Systeme, die in undurchsichtiger Weise verbunden sind, welche die digitalen Entscheidungen tarnen, können auf spektakuläre Weise ausbrennen. tausend vernetzte Computer, die sich in einander verworren in den Absturz ziehen, während sie wie kletten aneinander hängen, wie kein einzelstehender Computer es jemals tun würde. Wenn jedes Ding ungeordnet and hundert anderen hängt, wie werden wir aufhalten, was unsere Fehler verursachen, wie werden wir unser Bedauern zum Ausdruck bringen und Verbesserungen vorsehen? Wenn wir uns vor unseren Bedürfnissen und Wünschen hinter Ketten aus Software verstecken, wie können wir dann überhaupt wissen, ob wir erfolgreich waren?

Und jetzt habe ich eine letzte Frage, eine offene Frage, die ewige Frage, keine Frage für eine einzelne Antwort, für mein Casa Jasmina Brainstorming.

Fühlt ihr diesen Gender-Graben, so wie ich? Es fehlt mir nicht an Unterstützung fähiger, männlicher “Jasminer”, aber ich brauche Frauen, die zu mir kommen, mit mior sprechen. Danke!

Jasmina Tesanovic in der CasaJasmina
Torino im April 2016


[1] Jasmina Tešanović ist Feministin und politische Aktivistin (Women in Black; CodePink). Sie ist Schriftstellerin, Journalistin, Musikerin, Übersetzerin und Regiseurin. 1978 brachte sie die erste feministische Konferenz in Osteuropa nach vorne, “Drug-ca Zena” (in Belgrad). Gemeinsam mit Slavica Stojanovic entwickelte und entwarf sie das erste feministische öffentliche Haus auf dem Balkan, “Femeinist 94”, das zehn Jahre bestehen blieb. Sie verfasste das “Diary of a Political Idiot”, das in zwölf Sprachen übersetzt wurde: Ein Kriegstagebuch in Echtzeit, dass sie während der Kosovo-Krise 1999 niederschrieb. Seit dieser Zeit veröffentlicht sie ihre Arbeiten auf Blogs und anderen Medien, stets verbunden mit dem Internet.

Mehr dazu: ‘Casa Jasmina‘.

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Archäologie Philosophie Slow theory

Geister

I-I-I’ll Be back to haunt you
The Dylans, 1994

Her voice lives on the breeze
Her spirit comes at will
And from sleep when I arise
Her bright smile haunts me still
And from sleep when I arise
Her bright smile haunts me still
JE Carpenter / WT Wrighton, 1864

Die Gespenster sind zurück. Jacques Derrida beschrieb die Rückkehr der Spektren oder Geisterwesen der Vergangenheit in “Marx’s Ghosts” aus einer visionär-prophetischen Haltung. Heute sind die Gespenster mitten unter uns, ein fester Bestandteil des Alltags geworden. Überall stößt man auf Phänomene, die so aussehen oder sich so anhören, als wären sie ein unmittelbarer Import aus der Vergangenheit: Instagramfilter, mit denen jedes Bild auf dem iPhone so wirkt, als wäre es direkt aus einem Kindheits-Fotoalbum aus den 1970er Jahren auf dem Smartphone-Display gelandet; Musikrichtungen wie Dubstep (allen voran der Künstler Burial), bei denen das Knistern der Vinylspuren eine gespenstische Brücke in alte, längst ausgestorbene (bzw. in die nostalgische Liebhabersphäre hinaufgehobene) Technologien schlägt; Orte wie das Tempelhofer Feld, die niemals wirklich gestorben sind, allenfalls “stillgelegt” oder “aufgelassen”, und suggerieren, sie könnten jeden Tag plötzlich wieder in hektische Betriebsamkeit aufwachen (die passenden Flugzeuglackierungen dazu sind mittlerweile auch wieder im Regelbetrieb der Lufthansa).

03.08.14 - 1

Derrida beschrieb mit “Hauntologie” eine Wissenschaft, die sich um die Gespenster kümmert, die sich in unseren Alltag eingeschlichen haben (der definierende Text dazu neben Derrida ist Lisa Gyes Webprojekt Halflives). Bei Bruce Sterling ist es die “Atemporalität”, die einen Zustand beschreibt, in dem es gar keine Gegenwart mehr gibt, sondern nur noch ein Neben- und Gegeneinander von Zeiten, Stilen, Moden und Trends – so treffend beschrieben mit dem Schlagwort “Retrofuturismus” (siehe dazu auch das Interview mit dem Kulturtheoretiker und Hauntolgen Mark Fisher).

Spätestens seit den 2010er Jahren ist die Postmoderne endgültig vorbei, und an ihre Stelle tritt eine Welt der Abandoned Places, von verlorenen Orten wie geschlossenen pyschiatrischen Anstalten, Parkhäusern, Kinos, U-Bahnhöfen und Bunkern, in denen die Vergangenheit so konzentriert ist, dass man die Geister der Vergangenheit hier spüren – ja, hören kann. Bei oberflächlicher Betrachtung meint man noch, diese Orte wären deshalb verlassene oder lost places, weil sie ihre Funktion mittlerweile verloren haben. Aber das Gegenteil ist der Fall! Sie hatten noch nie eine so wichtige Rolle als kulturelle Signifikanten gespielt wie gerade in diesem Moment.

Die Verwandlung von ehemaligen Funktionsbauten in Abandoned Places bedeutet – in Anlehnung an Pierre Bourdieu – eine Umwandlung von Funktionskapital in Bedeutungskapital. Eine Folge der Digitalisierung fast aller Industrien ist die massenhafte Entwertung von Funktionskapital. Das Bedeutungskapital und seine Leitwährung Aura erlebt derzeit an der Börse der Erinnerungen eine nie zuvor dagewesene Hausse. Investieren in die Vergangenheit – was für eine perverse Reprise von Benjamin Franklins “Zeit ist Geld“! Und vor diesem Hintergrund ist mit Instagram dann auch so etwas wie “Trauerarbeit für Phantomschmerzen” möglich.

Immer schwieriger wird dabei die zuverlässige Unterscheidung zwischen “Vintage-” oder “Stil-Geistern” und den echten Spektren der Vergangenheit. Vor allem auch deshalb, weil Atemporalität an dieser Stelle auch bedeutet, dass die klaren Grenzen unscharf werden und das was früher einmal eine Lüge der Kulturindustrie gewesen ist, in seinem Nachleben als Geist trotzdem so etwas wie eine auratische Qualität erhalten kann: Die Faszination mit gespenstischen Relikten von Vergnügungsparks und Shopping Malls zeigt das eindringlich. Auch die neo-toskanische Pappmachée-Dekoration in den Thermen und Spaßbädern der 2000er Jahre verwandelt sich, wenn sie erst einmal 10 Jahre sich selbst überlassen ist, von einer Unwahrheit zumindest in eine Halbwahrheit.

Atemporalität klingt aber viel zu distanziert und neutral. Die Wirklichkeit ist viel unheimlicher. Die Gespenster der Vergangenheit umgeben uns mittlerweile lückenlos  – sogar diejenigen, die erst nach dem Ende der Sowjetunion und dem Mauerfall auf die Welt gekommen sind, können die geisterhaften Erscheinungen wahrnehmen. Es mag sein, dass sie die Spektren gar nicht als solche erkennen und lost places sind für diese Generation genauso gegenwärtig wie Avincii und Cupcakes. Womöglich sind sie gerade damit beschäftigt, ihre eigenen Geisterheere oder Geisterstädte zu erschaffen, die sie dann in den kommenden Dekaden verfolgen werden. Every Generation has its own Ghosts.

herbrightsmile

Wahrscheinlicher aber ist, dass die Mechanismen der Erinnerungen so raffiniert sind, dass sie imstande sind, Nostalgie-Gespenster zu schaffen, ganz unabhängig davon, ob diese Zeit tatsächlich erfahren wurde oder nur in Überlieferungen, Filmen oder Büchern erlebt wurde. Meistens reicht die minimale Spur einer Erinnerung, um daraus einen Geist zu beschwören, der einen dann nicht mehr loslässt.

I years had been from home,
And now, before the door,
I dared not open, lest a face
I never saw before

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Philosophie Wirtschaft

Eine Milliarde Smartphones

Vor ein paar Jahren bin ich auf einer Veranstaltung dem finnischen Politiker Esko Aha begegnet, damals Berater für den bereits ins Trudeln geratenen Nokia-Konzern. Aha erklärte, was er als den philosophischen – oder wie man in der martialischen Business-Sprache sagen würde strategischen Fehler von Nokia erkannt zu haben glaubte: “We have 4.4 billion mobile phones today, but what Nokia claims is still just ‘Connecting People’ – exactly what the telephone companies had been doing the one hundred years before.” Einfach nur um sich fernmündlich zu verbinden ist also nicht mehr, wozu sich Menschen ein Telefon kaufen.

Männer die auf Smartphones starren
(Photo von @toshiyori)

Mehr als eine Milliarde Smartphones sind heute aktiv. Diese Zahl alleine gibt der Einschätzung von Aha eindrucksvoll recht.

Das Smartphone ist unser Tricorder, es ist der Universal-Sensor, mit dem wir alle möglichen Umwelt-Daten empfangen, verarbeiten und mit “dem Netz” telemetrisch teilen: Karten sind das auffälligste Beispiel – nicht nur geben sie uns Orientierung im Raum, wir senden sie auch aus, unter anderem an Location Based Services wie Foursquare, wo sie, zusammen mit den Daten anderer Menschen, eine Meta-Ebene über die Welt legen, in der alle möglichichen Informationen daraus entstehen – über Restaurantbewertungen bis zu Staumeldungen. Egal ob wir eine Vorstellung davon haben, wo wir uns befinden, wir können ein Taxi rufen, wir können uns Fahrpläne für den öffentlichen Nahverkehr zusammenstellen oder uns den Fußweg anweisen lassen, der uns zu unserem Ziel führt. In vielen Teilen der Welt (bei uns nicht; wir sind, was Mobile Internet betrifft, bereits weit hinter anderen Ländern zurückgefallen) ist das Smartphone auch das wichtigste bargeldlose Zahlungsmittel – es ist nicht nur viel sicherer, als Kreditkarten, man behält auch in Echt-Zeit die Kostenkontrolle, da man stets den aktuellen Stand der Zahlungen abrufen kann.

Das Smartphone ist aber vor allem auch eine Art Brille, mit der wir in die ansonsten unsichtbaren Dimensionen blicken können, die das Internet um uns aufspannt, in Datenwolken, die uns wie eine Aura umgeben.

Was wir mit Smartphones machen, ist genau, was Pierre Teilhard de Chardin im 20. Jahrhundert vorhergesehen hat. Der jesuitische Anthropologe hatte während seiner archäologischen Ausgrabungsarbeiten und der Beschäftigung mit vergangenen Kulturen festgestellt, wie stark Gesellschaften durch ihre Technologien geprägt und verändert werden. Er hatte daraus den Gedanken entwickelt, dass unsere Werkzeuge evolutionär Teil unseres Körpers werden – Kleider werden uns eine zweite Haut, der Faustkeil erweitert unsere Fingernägel und unsere Zähne, das Feuer, mit dem wir unser Essen kochen, wird untrennbarer Teil unserer Verdauung.

Für Teilhard war allerdings klar, dass die Evolution nicht in der Vergangenheit geendet hatte. Er stellte sich die Frage, inwieweit Fernverkehr über Eisenbahn und Flugzeug und vor allem elektronische Nachrichtenübertragung über Funk und Kabel uns verändern werden. Er schloss, dass elektronische Nachrichtenmedien schon bald eine Erweiterung unseres Nervensystems bilden werden, schließlich sogar unseres Gehirns. Aus der ständigen, elektronischen Verbindung der Menschen, überall auf der Welt, würde sich, so Teilhard, eine Art globales Bewusstsein entwickeln, die Nou-Sphäre.

Eine Milliarde Smartphones bedeutet aber vor allem: die zweite Milliarde der Nutzer des Mobile Internet wird nicht mehr aus den satten Industriegesellschaften erwachsen. Schon heute hat West-Afrika die höchsten Wachstumsraten im Telekommunikationssektor. Millionen von Menschen in Ghana oder Nigeria sind in den letzten Monaten über ihr Phone online gegangen.

Damit ist eines völlig klar: dien nächste Milliarde Smartphones werden keine iphones oder andere 600$-Gadgets sein. Billig-Smartphones werden vielleicht schon bald der größte Markt, die größte Industrie der Welt werden. Falls Android für diesen Markt weiterhin das Betriebssystem der Wahl bleibt, wird Googles Rolle als weltweite Achse für Daten und Analysen auf lange Zeit fundamentiert.

Die Smartphone-Revolution wird aber vielleicht noch etwas anderes erreichen: auf der ganzen Welt werden Menschen Zugang zu Bildung, zu Büchern, zu Informationen erhalten. Selbst wenn dieser Zugang durch Zensur-Infrastruktur beschränkt ist, wird die Verfügbarkeit von Wissen und Nachrichten einen gewaltigen Effekt auf die Menschen und ihre Gesellschaften haben. Vielleicht werden die Smartphones auf diese Weise schaffen, was der Internet-Vordenker Nicolas Negroponte mit seinem Projekt One Laptop per Child erreichen wollte – allerdings nicht Top-Down, nicht durch eine Organisation, sondern per Grassroots, durch die einzelnen Menschen, die sich vernetzen.

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Abrahams Opfer

“Ein jeder muß ein inneres Heiligthum haben dem er schwört, und wie jener Fahnenjunker sich als Opfer in ihm unsterblich machen – denn Unsterblichkeit muß das Ziel sein.”
Bettina von Arnim, Die Günderode

Have you suffered, starved and triumphed,
groveled down, yet grasped at glory,
Grown bigger in the bigness of the whole?
“Done things” just for the doing, letting babblers tell the story,
Seeing through the nice veneer the naked soul?
Have you seen God in His splendors,
heard the text that nature renders?
(You’ll never hear it in the family pew).
The simple things, the true things, the silent men who do things —
Then listen to the Wild — it’s calling you.

Robert Service, Call of the Wild

***

Da preist man uns das Leben großer Geister
Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen
In eine, Hütte, daran Ratten nagen.
Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister!
Das simple Leben lebe, wer da mag !
Ich habe (unter uns) genug davon,
Kein Vögelchen von hier bis Babylon
Vertrüge diese Kost nur einen Tag.
Was, hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Die Abenteurer mit dem kühnen Wesen
Und ihrer Gier die Haut zu Markt zu tragen
Die stets so frei sind und die Wahrheit sagen
Damit die Spießer etwas Kühnes lesen:
Wenn man sie sieht, wie das am Abend friert
Mit kalter Gattin stumm zu Bette geht
Und horcht, ob niemand klatscht und nichts versteht
Und trostlos in das Jahr 5000 stiert.
Jetzt frag ich Sie nur noch: Ist das bequem?
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Ich selber könnte mich durchaus begreifen
Doch sah ich solche Leute aus der Nähe
Da sagt ich mir: Das mußt du dir verkneifen
Armut bringt außer Weisheit auch Verdruß
Und Kühnheit außer Ruhm auch bittre Mühen.
Jetzt warst du arm und einsam, weis’ und kühn
Jetzt machst du mit der Größe aber Schluß.
Dann löst sich ganz von selbst das Glückspro-
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!

Bertold Brecht, Dreigroschenoper

Das Wort Opfer bezeichnet im Deutschen zweierlei: zum einen ist es jemand, dem ein Schaden entsteht – ein Verbrechensopfer oder ein Unfallopfer, zum anderen bedeutet es eine Rituelle Darbringung vor den Göttern, die Opfergabe. Im Lateinischen heißt der erste Begriff Victima, der zweite Sacrificium. Die Trennung Victim und Sacrifice hat sich in vielen Sprachen erhalten. Im Englischen gibt es für das Unglücksopfer sogar ein weiteres Wort: Casualty. Völlig unabhänig sind die Begriffe aber in ihrer heutigen Bedeutung nicht. Wer sich opfert, zieht häufig auch andere in Mitleidenschaft, macht sie zu Opfern.

Die biblische Erzählung von Abraham, dem Erzvater der Juden, Christen und Muslime, ist der Archetyp eines solchen doppelbödigen Opfers – der Vater, der aus seiner sicht das Wertvollste opfert, das er besitzt und dabei aber seinem Sohn das ultimative Opfer abverlangt. Die Bedingungslosigkeit, mit der Abraham sein Ziel verfolgt paart sich mit der Rücksichtslosigkeit auf die Ziele seiner nächsten. Und nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass im hebräischen Bibeltext die Anweisung Gottes an Abraham eine alternative Übersetzung zulässt. Der Imperativ וְ/הַעֲלֵ֤/הוּ kann nämlich sowohl “bring ihn dar” als auch “lasse ihn darbringen” bedeuten. Das Sacrifice Humain ist seit Abrahams Zeiten zwar meist metaphorisch zu nehmen, das Unglück, dass uns Opfer abverlangen, kann dennoch beträchtlich sein. (Es ist ja genaugenommen schon das zweite “Opfer” – zuvor hatte Abraham schließlich seine Zweitfrau Hagar nebst seinem eigentlich erstgeborenen Sohn Ismael in die Wüste geschickt …)

Die moderne Form des Opfers ist die Zielstrebigkeit, der Ehrgeiz. Ernest Shackleton kann mit seiner entbehrungsreichen Reise in die Antarktis sicher als gutes Beispiel dessen gelten, was Brecht in seiner “Ballade vom angenehmen Leben” aus der Dreigroschen Oper besingt: ein Abenteurer mit dem kühnen Wesen … Das männliche Rollenbild in unserer Kultur favorisiert dieses Opfer für ein höheres Ziel. Anders, als das hingebungsvolle “Aufopfern”, das (wie alle Eltern bestätigen können) untrennbar mit der Familie verbunden ist, opfern richtige Männer sich mit großer Geste, für die Nachwelt, für das Volk oder die Gesellschaft. Ob bei der Fahrt zum Südpol oder dem Last Stand an der Front. Während Mann sich selbst dem höheren Zweck als Opfer darbringt, gibt es in der Regel links und rechts daneben jede Menge weiterer Opfer dieses Heldentums – diesmal aber im Sinne der Casualties. Shackelton ist schließlich nicht alleine zum Südpol gefahren. Und seine Familie hatte der Abenteurer einfach zuhause zurückgelassen.

Der Preis, den andere für unser Opfer zahlen, ist oft höher, als das, was wir selbst bereit sind, in den Opferstock zu werfen. Und dabei erwarten wir solche doppelten Opfer heute nicht nur von den Männern. Wenn Frauen “mitspielen” wollen, müssen auch sie bereit sein, nicht nur hart gegen sich selbst zu handeln, sondern auch ihrer Familie gegenüber. Welche Werte vertreten Menschen, die ihr eigenes Streben über das Glück von Anderen stellen?

“Wenn wir im Schlaf, den Ruhm nicht spüren, sollten wir ihn dann im Tode fühlen, der ein ewiger Schlaf ist? […] Heute sterben wir und morgen spricht kein Mensch mehr von uns. […] Und du hast soviel erduldet, bist selbst dem Tod nicht ausgewichen und glaubst nun hoffnungsvoll, dass die Menschen von dir reden werden? Sag mir doch, wer der fünfte, vierte, dritte römische Kaiser war! Frage den Mann auf der Straße! Nicht einmal vom vorletzten kann er den Namen sagen; und wenn wirklch einer von zehntausend es weiß, wird er sich daran wie ein Träumer an etwas erinnern, woran er sonst nie denkt.”
Lorenzo Valla, Vom wahren und falschen Guten

Es ist kein höheres Gut, als Freundschaft, schreibt Cicero über den Kern der Lehre Epikurs. Und wie Valla in seiner humanistischen Philosophie des Hedonismus ausführt, ist Schönheit und Glück gleichbedeutend mit Ehre und Würde und nur eine Täuschung bringt uns dazu, die Begriffe nicht zu identifizieren.

Latenter esse vivendum – Man soll im Verborgenen leben – ist die von Plutarch überlieferte Regel des Epikur für ein glückliches, gutes Leben. Also Schluss mit Karriere, dem Kandidieren für Ämter, dem Streben nach einem politischen Mandat.

“So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit deiner Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast. “(Pred. 9, 7ff). “Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.” (Pred 9,4)

Weiter lesen:
Kohelet – Zeit und Glück

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Digitaler Futurismus – oder: Keimt im Internet eine neue Hochkultur?

„Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfe gierig deinen stärkenden Schlamm,“ mit dieser in der Gosse gesungenen Hymne auf den Industrialismus knallt 1909 die Futuristische Bewegung in die nervöse Hochkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Das im Pariser Figaro veröffentlichte Manifest von Marinetti bringt eine internationale Avantgarde hervor, die zu futuristischen Folgemanifesten unter anderm in Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und den USA führt. Die Vorrede zu dem futuristischen Manifest beschreibt die halsbrecherische Fahrt von drei betrunkenen Freunden in ihren Automobilen – „wie junge Löwen verfolgten wir den Tod“ – bis hin zum Unfall und Sturz in den Graben. So wie die Geschichte des Lebens überhaupt im „Urschlamm“ oder in der „Ursuppe“ beginnt, scheint auch der kulturelle Wandel auf Schmutz und Abwasser angewiesen zu sein. Aus dem Abfall der Zivilisation wächst die Subversion heran – so könnte der Grundsatz einer „Teenage-Mutant-Hero-Turtles-Theorie des Kulturwandels“ lauten.

Der müttlerliche Graben der Gegenwart ist das Internet, insbesondere seine Imageboards, Memegeneratoren, Trollkommentare, Darknets und Rantblogs. Dort wird längst nicht mehr die gelehrte Hochsprache – das gelehrte Kirchenlatein der redaktionellen Medien – gesprochen, sondern eine Vielzahl dreckiger, vulgärer und kraftvoller Dialekte und Volkssprachen. Dieses ursprüngliche und schmutzige Internet ist ebenso faszinierend wie beängstigend – die einen suchen nach Möglichkeiten, um diese keimende Vernakularkultur zu beschützen und zu fördern. Die anderen wollen diese Sümpfe trockenlegen und haben das Gebiet schon längst als Datenautobahn in ihre Pläne eingezeichnet. Oder sie wollen diese chaotischen Siedlungen in Freilichtmuseen verwandeln. Geocities zum Beispiel ist das traurige Opfer der Planierung gewesen, während Facebook und Twitter dagegen den Weg der Musealisierung zu gehen scheinen: Makellos erhalten, aber immer blutleerer.

Aber irgendwo da draußen, in den immer wieder neu entstehenden digitalen Wellblechsiedlungen posten und trollen womöglich die Dantes, Geoffrey Chaucers, François Villons und Martin Luthers der digitalen Kultur. Während wir darüber diskutieren, wie viele Stunden unsere Kinder das Web nutzen dürfen, wie man digitales intellektuelles Eigentum schützen kann und ob man Schulklassen mit iPads ausstatten sollte, werden in den digitalen Niederungen gerade die Grundpfeiler der Hochkultur der nächsten Jahrhunderte in den Sumpf geschlagen. Aber wir sollten hier genauer hinsehen: Dante, Chaucer, Villon und Luther haben neue Sprachen geschaffen, die zur Lebenswelt der modernen Menschen viel besser passten als das antike Latein – Marinetti und die Futuristen wurden dagegen in ihrer ungebrochenen Liebe zu Technik, Geschwindigkeit und Gewalt zu Paten des Faschismus.

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Tatorte, Gräben und drei Fragezeichen

Unterstellungen, Beschimpfungen, Verleumdungen. Man könnte meinen, der Begriff  “Strohmann-Argument” sei geradezu für die Debatten um den digtalen Wandel und das Urheberrecht, für den Kampf zwischen “alten” und “neuen” Medien erfunden worden. Unser Slow Media Manifest ist damals aus Unmut über diese unkonstruktiven Debatten zwischen Print und Online, zwischen traditionellen und neu entstehenden Kulturtechniken, entstanden.

Zwei Jahre und eine stattliche Anzahl an Beiträgen über den medialen Kultur- und Grabenkampf später sitzen wir hier immer noch, und das Säbelrasseln geht munter weiter. Keine sachliche Auseinandersetzung in Sicht, stattdessen flattern und blinken in zunehmendem Crescendo täglich weitere Beispiele für diesen Grabenkampf ins Haus. Dabei sind es nicht nur Verwerter, Verlage, Plattenfirmen und andere Gatekeeper, die sich zu Wort melden, um ihr Werk vor dem gierigen Schlund des Digitalen zu retten, sondern auch Urheber, also Autoren und Musiker selbst.

So redete sich der eigentlich zurückhaltende Musiker und Autor Sven Regener kürzlich in Rage, spricht in Bezug auf das Urheberrecht und digitale Verfügbarkeit von “asozialen” Leuten, “Deppen” und gibt einige überraschende Derbheiten (“ins Gesicht pinkeln”) zu Protokoll. Tatort-Drehbuch-Autoren wetzen in einem offenen Brief ihre Federkiele. Sie verwenden dabei in Bezug auf ihre vermeintlichen Gegner (auch hier die nicht näher definierte “Netzgemeinde”) fünfmal das wenig sachliche Wort “Lebenslüge” (sowie zweimal das Adjektiv “demagogisch”), um dann darauf zu verweisen, dass sie für “konstruktive Gespräche” jederzeit bereit stehen.

Dabei wird munter alles durcheinander in einen Topf geworfen, musikdownloadende Kinder und milliardenschwere Konzerne, Grüne, Linke, Kim Schmitz, Piraten, Freibeuter, Hacker, Musik, Filme, Blogger, Eigentum, Leistung, Schöpfungshöhe, ja nicht einmal Urheberrecht und Nutzungsrecht schaffen es die meisten Beteiligten auseinanderzuhalten, selbst wenn sie Juristen sind.  Man muss sich ernsthaft fragen, in welcher Phase der Debatte wir angekommen sind.

Ein funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber gibt es schon jetzt nicht

“Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass der, der den Inhalt liefert, nichts bekommt, ist kein Geschäftsmodell. Das ist Scheiße”, sagt Sven Regener in seinem Hörfunkinterview. Da stimme ich ihm zu.

Allerdings bezieht er dieses Argument nur auf das, was er mit dem digitalen Wandel heraufziehen sieht. Aber viele der herkömmlichen und von ihm so vehement verteidigten Geschäftmodelle wie z.B. im Verlagswesen basieren genau darauf. Bei einer akademischen Publikation muss dem Autor als Bezahlung die Ehre genügen, dass er den Peerreview-Prozess passiert hat und überhaupt in einem renommierten Verlag publizieren darf. Akademische Forscher sind auf eine lange Publikationsliste angewiesen. Fertig. In or Out. Kennen Sie einen Doktoranden, der seine Doktorarbeit ohne Druckkostenzuschuss hat in einem Verlag drucken lassen können? Das Publizieren ist Voraussetzung für die Promotion, also müssen die meisten selbst dazuzahlen. Um einen Beitrag unter Open-Access-Bedingungen veröffentlichen zu lassen, kann es sein, dass Autoren mehrere tausend Euro zahlen müssen (zahlen, nicht bekommen): Verwaltungskosten, damit der Verlag das Werk des Autors allen Lesern frei zur Verfügung stellen kann. Das ist kein Scherz, das Modell hat sogar einen Namen: “Author-pays“-Modell.

Die Gratiskultur in Verlagen anzuprangern wäre also genauso angebracht wie die Kostenloskultur im Internet. Ich bin Autorin, ich weiß wovon ich rede. Und: Nein, das ist nicht nur bei wissenschaftlichen Publikationen der Fall. Fragen Sie einen freien Journalisten, wieviel Zeilenhonorar er bekommt und ob er sich durch die derzeit bei Verlagen üblichen Total-Buyout-Verträge gut vertreten sieht. Der Unterschied zwischen freiem Journalismus und kostenlos Bloggen ist vielleicht gar nicht so groß, wie Sie denken. In den belletristischen und anderen Buchveröffentlichungen bekommen die Autoren ca. 10 % des Nettoladenverkaufspreises. Rechnen Sie sich aus, ab welcher verkauften Auflage das bei einem Buch von 15 Euro als Geschäftsmodell für den Autor taugt. Verstehen Sie mich richtig. Ich weiß, dass vor allem kleine Verlage, die gute Arbeit machen, nicht anders wirtschaften können. Aber ein Geschäftsmodell für Autoren ist es eben schon jetzt nicht. Und auch bei Künstlern, Musikern und Filmemachern sieht es nicht viel anders aus (wenn sie nicht zu den lucky few wie Sven Regener gehören).

Die Wahrheit ist: Wir haben kein gut funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber. Genauer: Wir hatten auch schon vor dem Internet kein gut funktionierendes Geschäftsmodell für Urheber. Für die Verwerter vielleicht, aber nicht für die Urheber selbst.

Digitale Kultur jenseits von Internet-Konzernen

Ein weiteres Missverständnis ist es, die digitale Kultur mit den Wirtschaftsinteressen von Unternehmen wie Google, Facebook und Amazon gleichzusetzen. Auch wenn es offenbar für viele schwer vorstellbar ist: Es gibt eine digitale Kultur jenseits von Facebook. Nicht jeder, der eine Kultur des Teilens und Mitteilens pflegt, ist ein Lobbist von Google. Man kan für digitale Kultur und gegen ihre Vereinnahmung durch Google, Amazon und Facebook sein. Dieses Blog ist mit Beiträgen wie “Die Illusion vom freien Internet“, “Virtueller Rundfunk” und “Ohne Google” das beste Beispiel dafür.

Die richtigen Fragen stellen und beantworten

Deswegen haben Leute wie Sven Regener und die Tatort-Drehbuchschreiber zwar irgendwie recht, aber auch nur, weil sie alles durcheinander werfen. In der Summe treffen sie nicht den Kern des Problems und sie stellen auch nicht die richtigen Fragen.

Ich schlage also vor, das Potpourri der liebsten Feindbilder, das Netzgemeindesüppchen, vor sich hinköcheln zu lassen und sich stattdessen mit der Beantwortung der zugrundeliegenden eigentlichen Fragen zu befassen. Ich denke, auch Sven Regener und alle Tatort-Drehbuch-Autoren können sich ohne Gesichtsverlust meinen drei Fragen anschließen:

Die richtige Frage Nummer 1 lautet: Wie verhindern wir die systemische Ausbeutung von Urhebern?

Die richtige Frage Nummer 2 lautet: Wie schaffen wir es, die digitale Kultur jenseits der Interessen von wirtschaftlichen Unternehmen wie Google, Facebook und Co. zu fördern und zu etablieren?

Und die richtige Frage Nummer 3 lautet: Wann fangen wir endlich damit an?

 

 

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Als Nachtrag zum Thema der Beitrag von Autorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig: “Und dann ist da noch mein T-Shirt-Shop. Wovon ich lebe: Ein Beitrag zur Debatte über Urheberrechte

 

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Die Kulturindustrie

Albion Flour Mills
“Dark satanic mills” – so schildert Wiliam Blake in seiner wunderschönen Hymne ‘Jerusalem’ die Industrie am Ende des 18. Jahrhunderts heraufziehen, die teuflischen Mühlen einer Industrie, in der alles zur Ware wird.

“Die Kapitalkraft der Verlage, die Verbreitung durch Rundfunk und vor allem der Tonfilm bilden eine Tendenz zur Zentralisierung aus, die die Freiheit der Wahl einschränkt und weithin eigentliche Konkurrenz kaum zuläßt.”

Was Adorno in seiner Schrift “Über Jazz” 1936 beklagt, klingt wie ein Rant eines Netzaktivisten gegen die sogenannte Content-Mafia von heute.

Aber die Perspektive hat sich umgekehrt. Adorno sieht mit Entsetzen, wie Kunst und Kultur zur Industrie verkommen. Wir heute erleben eben diese Kulturindustrie im Abwehrkampf gegen einen kulturellen Wandel, der die Gewissheiten geistiger Wertschöpfung des 20. Jahrhunderts einfach wegzuwischen scheint.

Wenn wir ACTA, SOPA, PIPA und all die anderen Gesetzes-Monster verstehen wollen, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, wie jene Content-Industrie entstanden ist.

“Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozess ist ausschließlich die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter” (Adorno, “Zur Gesellschaftlichen Lage der Musik”)

Kunst, kulturelles Schaffen, ebenso wie Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnis verändern ihren Charakter ab dem Ende des 18. Jahrhunderts grundlegend. Die “Schöpfer” geistiger/kultureller Werke werden zunehmend nicht mehr wie Handwerker nach Stunden oder anderen Aufwänden bezahlt, sondern danach, welchen monetären Wert ihrem Werk durch einen Markt beigemessen wird.

Damit reihen sich geistige Werke in die Welt der Waren ein, die in einer modernen Gesellschaft eben nicht nach ihrem Gebrauchswert gehandelt werden, sondern nach einem abstrakten Tauschwert – sprich einem Kaufpreis in Geld, der nur noch lose, wenn überhaupt mit ihrem Gebrauch verbunden ist:

Seine Ware hat für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert. Sonst führte er sie nicht zu Markt. Sie hat Gebrauchswert für andre. Für ihn hat sie unmittelbar nur den Gebrauchswert, Träger von Tauschwert und so Tauschmittel zu sein.

Dies sind die Grundgedanken wie sie Karl Marx in seinem Buch “Das Kapital” entfaltet, auf die sich Walter Benjamin und Adorno in ihren Überlegungen über die Kulturindustrie beziehen.

Ich will hier nicht in ein Gejammer über die böse Kulturindustrie verfallen; die pessimistische Einstellung der Frankfurter Schule zu Film und Musik kann ich nicht teilen: viel zu viele Hollywood-Filme sind großartige Kunstwerke, viele TV-Serien sind nicht zum Schlechteren ein fester Bestandteil unserer Kultur geworden und jede Menge Popmusik gehört zum kulturellen Erbe unserer Epoche (vom Jazz, den Adorno so inbrünstig gedisst hat, mal ganz abgesehen).

Es geht mir um etwas ganz anderes: in dem Augenblick, in dem geistige Werke zur Ware werden, unterliegen sie selbstverständlich den Gesetzen des Handels. Sowohl ganz pragmatisch – es gibt Packaging, Werbung, Sales, Promotion etc., als auch juristisch, d. h. Kaufverträge, Lizenzen, Honorare u.s.w.

Meiner Ansicht nach ändern sich gerade entscheidende Parameter. Das Konstrukt “Kulturindustrie” löst sich auf. Neben den Markt, die Ware treten durch die Netzkultur neue Formen kreativen Schaffens. Ein paar der Dinge, die irgendwie nicht mehr passen, habe ich im Folgenden zusammengefasst:

1. Der “Schöpfer-Künstler” verliert seine schützenswerte Stellung

Durch das Netz wird transparent, wie hoch der Riese ist, auf dessen Schultern jede geistige Neu-Schöpfung steht. Da eine relevante “Schöpfungshöhe” aber das Kriterium ist, nachdem in unseren Rechtssystemen einem Urheber die Rechte an “seinem” Werk eingeräumt werden, bedeutet dieser Verlust, dass immer weniger Werke dem Commonsense nach überhaupt schutzfähig sind. Die absurdesten Beispiele sind sicherlich generische Stock-Fotos. Bekannt ist der Fall einer Familie, die dafür abgemahnt wurde, aus Google ein völlig beliebiges Bild eines Teeglases in einen Post auf ihrem Urlaubs-Blog eingebaut zu haben.
(Über diesen Punkt habe ich schon öfter geschrieben: “Das Ende der Geschichte für Kreativ-Berufe”).

2. Es gibt kein Original mehr

Digitale Dokumente sind beliebig ohne technischen Verlust reproduzierbar. Da braucht man gar nicht anfangen vom “Verlust der Aura” zu lamentieren. Eine Sache, die sich beliebig vervielfältigen lässt, nicht zu vervielfältigen ist für den gesunden Menschenverstand schwierig zu begreifen. Selbst wenn wir vernunftmäßig einsehen, dass es nicht rechtens ist, behaupte ich, niemand fühlt so. Dennoch hängt in fast allen Vermarktungsmodellen der Preis, den man zahlen muss, an einem materiellen Exemplar des Werkes und damit dieses Prinzip nicht verändert werden muss, wird Digital Rights Management eingeführt, durch das die Möglichkeit, das Werk zu kopierten irgendwie eingeschränkt werden soll.

3. Es gibt keine un-kommerzielle Nutzung mehr

Anders als im 20. Jahrhundert, wo Veröffentlichung eng mit dem Besitz von Produktionsmitteln wie Druckereinen oder Rundfunksendern verbunden war, ist heute jeder ein Publisher.

Um ein Foto aus einer Zeitschrift für später aufzubewahren, zu sammeln, hätte man die Seite herausgerissen und in eine Schachtel gelegt oder in einen Ordner abgeheftet. Heute nimmt man einen Link auf den Inhalt und platziert ihn auf einer Website, einem Post oder Tweet. Je nachdem, ob der, hinter dem Link liegende Inhalt nun im Browser der Betrachter direkt angezeigt wird, oder ob es sich nur um die URL in Form von Text handelt, kann der Betreiber der Seite wegen Urheberrechtsverletzung belangt werden, oder nicht.

Und der Übergang zwischen eindeutig privaten Seiten mit ganz eingeschränkter Nutzung zu 100% kommerziellen Angeboten ist vollkommen fließend. Dieser Blog, z.B. trägt keine Werbung. Dennoch wäre es absurd, ihn nicht als publizistisch oder gar kommerziell zu bewerten. Ein Kriterium, “private, nicht-kommerzielle Nutzung” einzuräumen, ist also überhaupt nicht trennscharf.

4. Wirtschaftliche Interessen (sind noch keine Verschwörungstheorie!)

Ja, und zum Schluss gibt es natürlich tatsächlich auch handfeste wirtschaftliche Überlegungen, für ACTA, PITA, SOPA etc. Natürlich ist Wikipedia eine Konkurrenz und es ist vollkommen nachvollziehbar, dass Verlage, die bisher gutes Geld mit vergleichbaren Produkten verdient haben, jetzt alles daran setzen, der kaufmännisch unbesiegbaren Konkurrenz den garaus zu machen. Und das ist nur das prominenteste Beispiel.

All das bleibt sicher nicht ohne Folge für die Produktion geistiger Werke. Fragt man sich aber, wer hier den Kürzeren zieht, so bin ich mir bei einem sicher:

Die bildenden Künstler, die tatsächlich jemals für ihre Werke – im Sinne von Marx oder Adorno – einen Marktwert erzielen konnten, machen weniger als ein Prozent der Menschen aus, die für sich zu Recht in Anspruch nehmen können, Künstler zu sein, z. B. weil sie Kunst an einer Akademie studiert haben oder regelmäßig in professionellen Galerien oder öffentlichen Kunstausstellungen gezeigt werden. In anderen Kreativ-Berufen ist es, meiner Einschätzung nach, nicht besser.

Weiter zum Thema:

Ende der Geschichte – für Kreativ-Berufe
Die Moderne ist unsere Antike
Non-Commodity-Production
Urheberrecht, Kulturproduktion und Grundeinkommen

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Romantische Liebe

William Blake, Adam and Eve
Mein!
Bächlein, laß dein Rauschen sein!
Räder, stellt eur Brausen ein!
All ihr muntern Waldvögelein,
Groß und klein,
Endet eure Melodein!
Durch den Hain
Aus und ein
Schalle heut ein Reim allein:
Die geliebte Müllerin ist mein!
Mein!
Frühling, sind das alle deine Blümelein?
Sonne, hast du keinen hellern Schein?
Ach, so muß ich ganz allein,
Mit dem seligen Worte mein,
Unverstanden in der weiten Schöpfung sein!

Morgengruß
Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
Verstört dich denn mein Blick so sehr?
So muß ich wieder gehen.

O laß mich nur von ferne stehn,
Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!
Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Tor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr taubetrübten Blümelein,
Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor,
Und hebt euch frisch und frei empor
In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen.

“Im Blick des Anderen erfahre ich den Anderen als Freiheit, die mich zum Objekt macht.”
J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts

Liebe, “romantische” Liebe – Worte, stets in gefährlicher Nähe zum Kitsch. Romantik als Attribut ist uns ohnehin abgesunken in die tiefsten Kloaken der Maklerpoesie und Hotelprospekte. “Romantik Pur” möchte man ergänzen. Bürgerliche Verbrämung der Sexualität; leere Rituale wie Verlobung und Ehe, mit denen der Spießer heute noch den Adel des 18. Jahrhunderts nachahmt. Und schließlich: eine Ehe nach Bürgerlichem Gesetzebuch mit Ehegattensplitting und Steuerklasse III ist vermutlich so ziemlich das Gegenteil dessen, wie sich Menschen in Liebe verbunden sehen wollen.

Die Publizistin Julia Seeliger hat in den letzten zwei Tagen in beispielhafter Weise dialektisch die Begriffe ‘Liebe’, ‘Gender’ und ‘Sex’ herausgearbeitet. Wie bei Sokrates stellt sie am Anfang eine Frage:

“Haben #Piraten eigentlich auch Frauen vorne, die nicht das klassische Frauenbild (@Afelia und @laprintemps) verkörpern? Ich sehe keine”.(*)

Und wie es sich in der Elenktik gehört, bricht ein Sturm los, denn was bitte soll ein “klassisches Frauenbild” sein? etc. etc.

Aber es wäre nur die halbe Mäeutik, hätte die @zeitrafferin nicht auch die Protreptik drauf: In welche Rollenbilder drückt uns die Gesellschaft? Sind Gender und Sex unabhängig? Ist es Biologie? Kulturelle Anpassung? Gibt es Liebe?

“Romantische Liebe ist ja auch Quatsch. Mit dem Argument sollte man zumindest nicht heiraten.”(*)

Was mich dazu bringt, die “romantische Liebe” hier zu würdigen, auch in der Hoffnung, meinen eigenen dialektischen Beitrag zu der Diskussion zu leisten.

Auch wenn es einer Zeit nie gerecht wird, Universalbegriffe wie “Liebe” pauschal mit der ganzen Epoche zu identifizieren, gibt es ein Konstrukt, das kohärent genug ist, als die romantische Liebe bezeichnet zu werden. Ich kenne kein schöneres Bild der romantischen Liebe, als die zwei Gedichtzyklen “Die schöne Müllerin” und “Winterreise” von Wilhelm Müller, berühmt duch die Vertonung von Franz Schubert. (oben zwei Gedichte aus ‘der schönen Müllerin’, unten aus der ‘Winterreise’) Auch wenn die Handlung des einen Liederkreises im Sommer, die andere im Winter spielt, so ist doch der Untertitel der ‘schönen Müllerin’ eine Aufforderung: “Im Winter zu lesen”. Beide Liederkreise handeln von der Liebe, von unterschiedlicher Sichtweise aus betrachtet, aber gleichermaßen düster und winterlich.

Der junge Müllergeselle in der ‘schönen Müllerin’ verliebt sich in die Tochter des Müllers. Aber es bleibt eine einseitige Liebe – die Müllerstochter ist lediglich das Objekt seiner Zuneigung. Zunächst liest er ihr ganzes Verhalten als Erwiderung; die deutlichen Zeichen der Abwendung und Genervtheit der Müllerstochter schiebt er darauf, dass sie vielleicht unausgeschlafen sei. “Die geliebte Müllerin ist mein! Mein!” Erst als es nicht mehr zu leugnen ist, dass die Angebetete vielleicht doch einen eigenen Willen besitzt und sich schon längst mit dem Jäger verlobt hat, wird dem Müllergesellen sein Scheitern bewusst – er geht.

In der ‘Winterreise’ erleben wir das krasse Gegenteil. Der Mann verlässt seine Geliebte und geht. Die Erzählung hier ist stärker symbolisch, so dass sofort klar wird: der haut nicht einfach ab. Hört man die Lieder der Winterreise bis zu Ende ist deutlich, es geht um den endgültigen Abschied, den Tod. “Will dich im Traum nicht stören, wär’ schad’ um deine Ruh'” – sie wird erwachen und ihn niemals wiedersehen. Um diesem tief traurigen und hoffnungslosen Abschied seine Tragik zu geben, wechselt die Tonart an dieser Stelle in Dur.

Bei der ‘schönen Müllerin’ ist die Geliebte ein Objekt, bis sie sich befreit, indem sie selbst einen anderen Partner wählt. Bei der ‘Winterreise’ endet der gemeinsame Sommer der Liebenden, der Liebende geht, die Liebende bleibt alleine zurrück.

In der Liebe sind wir – wie bei Sartre (s.o.) – Objekt oder machen den anderen zum Objekt. Die ‘schöne Müllerin’ und die ‘Winterreise’ illustrieren genau diese beiden Situationen. Romantische Liebe ist ganz beim Einzelnen. Jeder mag sie für sich fühlen, aber er bleibt für sich. Die Sehnsucht, durch Liebe die Einzelnheit zu überwinden ist die blaue Blume der Romantik.

Tod der Atala
Gute Nacht
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh’ –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.

Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such ich des Wildes Tritt.

Was soll ich länger weilen,
Daß man mich trieb’ hinaus?
Laß irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!

Will dich im Traum nicht stören,
Wär’ schad’ um deine Ruh’,
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Ich schreibe nur im Gehen
An’s Tor dir gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
Ich hab’ an dich gedacht.

Nicht von ungefähr erwächst auf dem Höhepunkt der Romantik eine ganze Philosophie des Einzelnen, der anarchische Egoismus. Alle Wahrheit bleibt meine Wahrheit, genau wie alle Liebe in mir entsteht.

“Den Mittelpunkt der moralischen Freiheit bildet, wie wir sehen, die Pflicht der – Liebe. […] In der Liebe bestimmt sich der Mensch, gibt sich ein gewisses Gepräge, wird zum Schöpfer seiner selbst. Allein er thut das Alles um eines Andern, nicht um seinetwillen.”

schreibt Max Stirner. Auch wenn wir einzeln lieben, fühlen wir über unsere Handlungen mit dem anderen verbunden. Im Gegensatz zu jeder Form gemeinsamen oder kollektiven Erlebens, präsentiert sich allderdings jeder Einzelne selbst und wird nicht in der Liebe des Anderen zu ihm hin repräsentiert. Es bleibt bei der Zählung-als-Eins und es findet keine Vermassung der Liebenden (z.B. als Paar) statt. In der direkten Nachfolge Max Stirners haben Marx und Engels schließlich die Liebe als herrschaftliches Konstrukt entlarvt, das überwunden werden wird: “Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffnen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt.” (Engels, “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats”)

Thomas von Aquin breitet in seiner Summa Theologica aus, wie der Glaube sich nicht erzwingen lässt, sondern aus dem Inneren des Gläubigen kommen muss. Glaube ist nach Thomas eine rein mystische Erfahrung. Das führt Meister Eckhart weiter, wenn er uns predigt, dass immer, wenn ein Mensch zum Glauben bereit sei, sich Gott unweigerlich in ihn ergieße, um ihn zu erfüllen. Es bedarf dazu keiner weiteren (religiösen) Handlungen. Wie Thomas und Eckhart den Glauben mystisch sich in den Menschen ergießend sehen, so kann auch die romantische Liebe nur mystisch erfahren werden. Sie ergießt sich ebenfalls unwillkürlich in den Menschen, der für sie bereit ist.

In der Romantik wird dieses unwillkürliche Sichverlieben zu einem der großen Themen (daher kommt dann auch das Bild von der “romantische Liebe” als getrieben, von Innen kommend, im Gegensatz etwa zur höfischen Liebe des Mittelalters oder der Barockzeit). Aber die Liebe wird dabei aber nicht verklärt, wie man sich das heute in der verkitschten Version romantischer Literaturverfilmungen vorstellen mag.

Ein schönes Beispiel solcher unverklärter, fast satirisch dargestellter, romantischer Liebe gibt Alexander S. Puschkin in seinem großartigen Versroman Efgenij Onegin. Tatjana, die Tochter eines Provinz-Adeligen lernt den Petersburger Fürsten Onegin kennen, der sich (wie Puschkin seinerzeit selbst) ins Exil aufs Land geflüchtet hat. Schon ihr Name kennzeichnet die junge Tatjana als ‘gewöhnlich’ und unbeholfen. Und unsterblich verliebt sie sich in Efgenij, den sie sich, ganz unreif und unerfahren, aus seiner Höflichkeit und Galanterie als liebenswerten Menschen erträumt – wo er in der Tat aber ein лишний человек, ein sinnloser Mensch ist, ein Lebemann und Zyniker, der alle verletzt, die mit ihm zu schaffen haben. Aber letztlich kann man Onegin keinen Vorwurf machen – er hat hatte Tatjana nicht um ihre Liebe gebeten. Das Tragische des Einzelnen, der von Liebe erfüllt, doch keinen Weg zum Herz des Objekts seiner Liebe finden kann.

Die romantische Liebe ist mystisch, man kann sich nicht durch Vernunft vor ihr schützen. Alle Reflektion über Gender und kulturelle Prägung helfen nicht, wenn sich ein Mensch in einen anderen verliebt. Daher bleibt alle Genderkritik wirkungslos, solange wir Menschen eben in diesen Körpern unser vereinzeltes Dasein fristen.

Erst die Utopie des Post Gender verheißt uns Erlösung. Wenn wir dereinst unsere menschliche Existenz überwinden und uns durch genetische Ingenieurskunst, biochemische Medikation oder Upload in die Matrix in die Nou-Späre verabschiedet haben werden, wird es vermutlich auch keine mystische, romantische Liebe mehr geben.

Bis die Singularität uns befreit, müssen wir aber wohl noch ein wenig warten.

Die Liebe ist doch eine kulturelle Sache, #Postgender ey!